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Inhalt

Prolog 4

moonflower23 6

Konstantin 14

Alex 19

Mariana 23

Mariana 28

Celine 31

Konstantin 35

Alex 40

Joe-Black-Killer 46

Celine 50

Mariana 54

Konstantin 58

Celine 62

FabuLana 67

Joe-Black-Killer 76

Alex 78

Mariana 83

Alex 88

Konstantin 97

Celine 102

Mariana 107

Joe-Black-Killer 110

Mariana 113

Konstantin 117

Celine 122

Joe-Black-Killer 128

Damian6 132

Alex 145

Konstantin 151

Mariana 158

Celine 164

Konstantin 167

Celine 170

Mariana 173

Celine 179

Celine 182

Alex 184

Celine 191

Alex 195

Celine 199

Konstantin 202

Alex 207

Celine 213

Alex 216

Konstantin 218

Konstantin 221

Alex 224

Celine 228

Celine 230

Konstantin 235

Alex 238

Celine 242

Joe-Black-Killer 252

Konstantin 256

Alex 264

Konstantin 270

Konstantin 273

Konstantin 281

Alex 284

Konstantin 288

Alex 294

Konstantin 297

Alex 301

Konstantin 303

Alex 310

Konstantin 312

Alex 314

Konstantin 318

Alex 322

Alex 325

Alex 332

Konstantin 336

Joe-Black-Killer 340

Celine 344

Celine 347

Konstantin 351

Dankeschön! 355

Literaturhinweis 357

Prolog

Montag, 5. November

Konstantin löste den Blick vom Bildschirm und drehte sich langsam auf seinem Schreibtischstuhl in Richtung Tür. Einer nach dem anderen taten es ihm die Kollegen nach. Gemeinsam horchten sie auf die Stimmen, die vom Flur aus zu ihnen ins Büro drangen. Obwohl er nicht verstehen konnte, was gesprochen wurde, erkannte er an dem gedämpften und zugleich scharfen Tonfall, dass etwas nicht stimmte.

Plötzlich verstummte der Wortwechsel und Schritte näherten sich. Konstantin, der mittlerweile die meisten Kollegen an ihrem Gang identifizieren konnte, vermutete, dass es sich um zwei Unbekannte handelte. Doch er irrte sich.

Mit einer Zielstrebigkeit, als würde der ganze Laden ihr gehören, bog eine athletische Frau vom Flur ins Büro ein. Ihr folgte ein dunkelhaariger Mann. Mit dem ernsten Zug um den Mund hätte Konstantin ihn fast nicht erkannt.

»Alex, was …?«

Der Angesprochene warf ihm einen kurzen Blick zu, der ihn augenblicklich verstummen ließ. Erst jetzt bemerkte Konstantin die Waffengürtel der beiden Besucher und schluckte. Was geht hier vor sich?

Alex wandte sich Celine zu. »Frau Reislinger«, sprach er sie an. »Sie wissen, warum wir hier sind?«

Die Grafikerin schüttelte den Kopf. Doch ihre zitternden Hände straften sie Lügen.

Alex machte einen Schritt auf sie zu. »Frau Reislinger, Sie stehen unter dringendem Mordverdacht. Wir müssen Sie vorläufig festnehmen.«

Stille. Keiner wagte es, sich zu rühren.

Schließlich erhob sich Celine ruckartig vom Stuhl und griff nach ihrer Handtasche, in die sie klimpernd Handy und Schlüsselbund fallen ließ. Dann trat sie auf die beiden Beamten zu, die sie wortlos in ihre Mitte nahmen.

Konstantin verfolgte die Szene mit der passiven Hilflosigkeit eines Fernsehzuschauers, der nicht mehr sagen konnte, wer der Held und wer der Antagonist der Geschichte war. Mord. Hatte Alex wirklich Mord gesagt?

Die Polizisten führten Celine zum Ausgang. Kurz vor der Tür hielt die Grafikerin noch einmal inne und drehte sich zu Konstantin um. Ihre nächsten Worte ließen ihn erschaudern wie eine kalte Berührung im Nacken.

»Ich weiß, dass du es warst.«

moonflower23

Samstag, 11. August – 3 Monate zuvor

Mit vorsichtigen Tupfern verteilte Luise den hellen Puder auf ihren Wangen, bis sich die Knochen sanft von der gerougten Partie darunter abhoben. Prüfend betrachtete sie ihr Gesicht im Spiegel. Das blonde Haar hatte sie bereits am Nachmittag auf Papilloten gerollt. Nun kringelte es sich zu verspielten Locken, denen man nicht ansah, dass sie nur dank einer großzügigen Menge Haarspray ihre Form behielten.

 

Besonders viel Arbeit war in das Schminken der Augenpartie geflossen. In Millimeterarbeit hatte sie ihre Wimpernkränze mit Kajal umrandet und die Härchen anschließend tiefschwarz getuscht. Für die Lider hatte sie einen hellen Farbton gewählt, der das Blau ihrer Augen betonte.

Der eigentliche Fokus lag jedoch auf ihren Lippen. Crimson Goddess – so hieß der teure Lippenstift, von dem nur noch die Spitze übrig war, so häufig hatte sie ihn schon benutzt. Einmal hatte sie es damit sogar bis in den Bus geschafft, ehe der missbilligende Blick einer älteren Dame sie dazu gebracht hatte, die Farbe hastig wieder abzuwischen. Erst danach war ihr klar geworden, dass der Blick gar nicht ihr, sondern dem Mann eine Sitzreihe weiter gegolten hatte, der mit seiner Asia-Nudelbox den ganzen Bus verpestete.

Ihre Doppelgängerin im Spiegel verzog den karmesinroten Mund zu einem nervösen Lächeln. Die knallige Farbe würde heute Abend nicht das Einzige sein, das sie Überwindung kostete. Aber dieses eine Mal wollte sie es durchziehen und sich nicht wieder in ihrer Rosa-Lipgloss-Komfortzone verschanzen.

Luise wandte sich ab und huschte, nur in Unterwäsche und einer dünnen Strumpfhose, ins Schlafzimmer, wo das schwarze Etuikleid schon auf dem Bett bereitlag. Sorgfältig darauf bedacht, ihre Frisur nicht durcheinanderzubringen, zog sie es über den Kopf und überprüfte im Spiegel des Kleiderschranks, ob sie beim Bügeln irgendwelche Falten übersehen hatte. Keine zu sehen. Gut. Fehlten nur noch Schmuck und ein Spritzer Parfum. Obwohl Luise sich bereits im Vorfeld für eine passende Perlenkette entschieden hatte, probierte sie noch einmal einige Exemplare aus ihrer Schmucksammlung aus. Am Ende blieb sie doch bei ihrer ersten Wahl. Perfekt.

Sie sah auf die Uhr. Immer noch eine halbe Stunde bis zum verabredeten Zeitpunkt. Um sich zu beschäftigen, schlenderte sie in die Küche und wischte über die blitzblanke Arbeitsfläche. Sie war gerade dabei, die Gewürze neu zu sortieren, als es an der Tür klingelte. Vor Schreck glitt ihr eine Dose mit Paprikapulver aus der Hand. Der Behälter landete auf dem Boden, wo sich der Inhalt großflächig über die hellen Fliesen verteilte. Mit klopfendem Herzen starrte sie auf das Chaos.

Es klingelte ein zweites Mal. Hektisch riss Luise den Handfeger aus dem Schrank und kehrte das Gröbste zusammen. Dann rannte sie zur Haustür. Durch das Strukturglas konnte sie nur einen verzerrten Schatten ausmachen. Sie spürte, wie ein einzelner Schweißtropfen ihren Nacken runterrann und einen Moment lang war dieser minimale Kontrollverlust fast zu viel für sie. Ich kann es nicht. Ich werde es nicht tun.

Da machte die Gestalt draußen eine Bewegung. Luise zuckte zusammen, als es vernehmlich an der Scheibe klopfte. Natürlich, wenn sie ihn sehen konnte, galt umgekehrt das Gleiche. Das ist doch lächerlich! Ich bin schon so weit gekommen. Ich zieh das jetzt durch!

Luise holte noch einmal tief Luft, bevor sie die Tür mit einem Lächeln öffnete. Doch als sie ihren Besucher erblickte, blieb ihr die Begrüßung im Hals stecken. Er war nicht der, den sie erwartet hatte.

»Hallo. Nett dich kennenzulernen«, übernahm der Mann ihren Part. »Wow, tolles Outfit!«

»Da-Danke«, stotterte Luise. Unschlüssig verharrte sie auf der Schwelle.

»Was ist denn los? Gefalle ich dir nicht?«

»Ich … doch! Es ist nur … du siehst in echt ganz anders aus als auf dem Foto.« Sie biss sich auf die Unterlippe, ließ es aber schnell bleiben, als sie den Geschmack von Crimson Goddess bemerkte.

»Oh ja, tut mir leid.« Ihr Date zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: »Was soll’s?«

Dann kam er einen Schritt näher. Automatisch machte sie ihm Platz und schon war er in der Wohnung. Luise blieb nichts anderes übrig, als die Tür hinter ihm zu schließen. Mit gemischten Gefühlen beobachtete sie, wie der Mann im Flur seine Schuhe abstreifte.

Selbstverständlich hatte sie befürchtet, dass es sich bei dem Profilbild um ein altes Foto handelte und er in Wahrheit ein paar Kilo mehr auf den Rippen oder ein paar Haare weniger auf dem Kopf hatte. Aber nie wäre ihr in den Sinn gekommen, dass das Foto gar nicht ihn selbst zeigte. Wozu dieser Schwindel? Das hatte er nun wirklich nicht nötig.

Als hätte er Luises unausgesprochene Frage gehört, drehte er sich zu ihr um und strich das grüne Hemd glatt, das einen schönen Kontrast zu seinen Haaren bildete.

»Der kleine Trick mit dem Foto musste leider sein.«

Sie runzelte die Stirn.

»Nicht wegen einer eifersüchtigen Freundin oder so. Ich möchte nur nicht, dass mein gesamter Bekanntenkreis erfährt, dass ich auf einer Seite wie PassionPort angemeldet bin. Das geht schließlich niemanden etwas an, oder?«

Nun, da war schon was dran. Mit einem Mal kam Luise sich furchtbar naiv vor. Hatten ihre Kollegen etwa längst ihr Profil entdeckt und machten sich hinter ihrem Rücken über sie lustig? Sie verbannte die peinliche Vorstellung aus ihrem Kopf und konzentrierte sich stattdessen lieber auf ihren Gast. Kurz wunderte sie sich, dass der Mann seinen Rucksack wieder aufgesetzt hatte, nachdem er die Jacke bereits abgelegt hatte. Doch der Gedanke verflog, als er den Abstand zwischen ihnen überbrückte und sich zu ihr runterbeugte. Er hob ihr Kinn an, bis sich ihre Blicke trafen. Dann bewegte er sich noch ein Stück tiefer und küsste sie. Einfach so.

Luise versteifte sich. Doch seine Berührungen blieben sanft und unaufdringlich. Das Gefühl von Unbehagen in ihrer Brust wurde langsam schwächer, bis es schließlich ganz verschwunden war. Als er sich von ihr löste, öffnete sie blinzelnd die Augen. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie sie geschlossen hatte.

»Willst du …« Sie musste sich räuspern. »Willst du etwas trinken?«

»Nein.«

Oh. Mit einem Nein hatte sie nicht gerechnet. Tatsächlich hatte sie bereits einen halbtrockenen Weißwein kalt gestellt. Und einen trockenen – für alle Fälle.

»Zeig mir doch lieber mal dein Schlafzimmer.«

Luise schoss das Blut in den Kopf. So eine unverblümte Anmache war sie nicht gewohnt. Wie schaffte er es nur, dabei diesen gelassenen Tonfall zu bewahren? Andererseits war es genau das, was sie gewollt hatte – was jeder wollte, der sich auf PassionPort anmeldete. Ein bisschen Alkohol, um die flatternden Nerven zu beruhigen, wäre trotzdem nicht verkehrt gewesen. Luise gab sich einen Ruck. Nun musste es eben ohne gehen. Zeit zu zeigen, dass sie kein kleines Mädchen mehr war.

»Dann komm mal mit«, sagte sie und versuchte sich an einem verführerischen Lächeln, das peinlicherweise an ihrer zitternden Unterlippe scheiterte. Rasch wandte sie ihr Gesicht ab und steuerte das Schlafzimmer an. Vor ihrem Bett blieb sie stehen und drehte sich zu dem Mann um. Der erwiderte ihren Blick abwartend. Mit klammen Fingern tastete Luise nach dem Träger ihres Kleides.

»Warte.« Sie erstarrte mitten in der Bewegung. »Das mache ich lieber selbst.«

Während ihr Puls in die Höhe schnellte, trat er dicht an sie heran und strich langsam mit den Fingerspitzen über ihre Seiten bis zur Hüfte. Dann dirigierte er sie nach hinten. Bevor sie sich versah, lag sie auf dem Bett und wurde von seinem Körpergewicht in die Matratze gepresst. Mit federleichtem Druck fuhr er ihre Lippen nach.

»Mach die Augen zu«, flüsterte er.

Luise tat, wie ihr geheißen. Atemlos versuchte sie, die nächste Berührung zu erahnen. Doch alles, was sie spürte, war, dass er sich aufsetzte und dabei ihre Hüfte zwischen seinen Oberschenkeln einklemmte. Von links neben dem Bett ertönte ein Klappern. Hatte er dort nicht seinen Rucksack abgelegt? Luises Lider begannen zu flattern. Sofort war da wieder die Hand an ihrer Wange. »Einen Moment noch.«

Sie hörte ihn am Kopfende herumhantieren, dann war es still.

»Augen auf!«

Luise gehorchte und blickte geradewegs in die Linse einer Kamera, die an einer Art Stirnband an seiner Schläfe befestigt war. Links am Gehäuse blinkte ein rotes Licht.

Er grinste hämisch. »Überraschung!«

Luise wollte sich aufrichten, wurde aber hart zurückgestoßen. Warum trug er auf einmal Gummihandschuhe? Viel zu langsam erfasste ihr Gehirn die neue Situation. Und so blieb sie untätig, als er ihren linken Arm packte und grob nach oben bog. Erst als sich etwas Kühles um ihr Handgelenk schloss und ein Klicken ertönte, kam wieder Leben in sie.

Zu spät. Die Handschelle war bereits eingerastet. Ein Blick über die Schulter zeigte ihr, dass er das andere Ende am Bettpfosten fixiert hatte, wahrscheinlich während sie die Augen geschlossen hatte. Ich bin so dumm!

Mit aller Kraft riss sie an der Verbindung, erreichte aber nur, dass sich das Metall schmerzhaft in ihre Haut bohrte. Da rastete die zweite Handschelle ein. Nein! Mit wachsender Panik begann sie zu zappeln und sich zu winden. Doch jeder Versuch, den Mann abzuschütteln, scheiterte. Natürlich. Er war schließlich viel stärker als sie.

Luise hörte auf, sich zu wehren und riss den Mund auf. »Hilfe! Hil–!« Der Rest ihres Schreis wurde von der Handfläche geschluckt, die sich gegen ihre Lippen presste.

»Ich nehm die Hand wieder weg, wenn du mir versprichst, ruhig zu bleiben.«

Luise nickte. Kaum dass ihr Mund frei war, begann sie aus voller Kehle zu brüllen. Der Lärm war ohrenbetäubend. Das musste doch jemand hören! Bitte, bitte, holt mich hier raus!

Der Mann machte keine Anstalten, ihren Mund wieder zu verschließen. Stattdessen holte er einen roten Ball mit Gummiband hervor. Was ist das? Ihre Stimme erstarb.

Lauernd beobachtete er sie von seiner erhöhten Position aus. Als sich ihr Mund erneut öffnete, schnellte er vor und stopfte ihr den Ball zwischen die Zähne. In einer einzigen fließenden Bewegung zog er die Bänder nach hinten und verschloss sie am Hinterkopf mit einer Schnalle. Die Enden zog er stramm. Dabei wurde der Ball so weit in ihren Mund gepresst, dass sie würgen musste.

»Selbst schuld.« Er ruckelte die Kamera zurecht. Dann brachte er sein Gesicht ganz nah vor ihrs. Der Ausdruck darin war weder grausam noch lüstern. Tatsächlich wirkte er völlig entspannt, als wäre das hier eine alltägliche Situation für ihn. Und das machte ihr umso mehr Angst.

»Jetzt kannst du dich weder verteidigen noch um Hilfe rufen«, fasste er ihre Lage zusammen. »Ganz egal, was auch als Nächstes geschieht, du kannst es nicht verhindern.«

Seine Augen tasteten sich über ihren Körper. »Was glaubst du, werde ich mit dir machen?«

Luise schrie so laut sie konnte, doch alles, was nach außen drang, war ein unverständliches Krächzen.

Ihren Kampf mit dem Knebel ignorierend, fuhr er fort. »Was würde dir denn am meisten Angst machen?« Er ließ die Frage einen Moment lang im Raum stehen.

»Folter? Oder Erniedrigung?«

Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken und sie begann, unkontrolliert zu zittern.

»Vergewaltigung?«

Luise schluchzte auf und ihr Kiefer verkrampfte in seiner aufgezwungenen Starre. Die Augen des Mannes klebten förmlich an ihr. »Bingo.«

Sie wimmerte. Nein, alles nur das nicht.

Er lächelte und schickte damit eine Welle von Übelkeit durch ihren Körper. »Keine Sorge, das werde ich nicht tun.«

Luise blinzelte. Ihre Tränen tropften weiter aufs Kissen, doch das Wimmern in ihrem Hals erstarb.

»Aber ich werde dich töten müssen.« Mit diesen Worten griff er nach der Perlenkette, die mehrfach um ihren Hals gewickelt war, und zog.

Luise riss an den Fesseln, bis ihre Schultern beinahe aus den Gelenken sprangen, doch das Metall gab nicht einen Millimeter nach. Währenddessen grub sich die feine Kette tiefer und tiefer in ihre Haut. Ihre Lunge, die sie schon durch ihr Geschrei ans Limit gebracht hatte, brannte wie Feuer.

Plötzlich knallte es und der Druck auf ihren Hals ließ nach. Luise schnappte gierig nach Luft und fühlte, wie der Sauerstoff in ihren Körper zurückströmte. Es war schmerzhaft und zugleich das Schönste, was sie jemals empfunden hatte. Gott sei Dank! Jemand musste ihre Schreie gehört und sie gerettet haben. Halbblind vor Tränen schaute sie sich um.

Doch sie war immer noch allein mit dem Fremden, der nun eine gerissene Kette in den Händen hielt. Die letzte Perle löste sich vom Band und kullerte auf den Boden. Der Mann sah ihr nach, dann zuckte er mit den Schultern und ließ das zerstörte Schmuckstück fallen.

Im nächsten Augenblick schlossen sich seine Finger um ihren Hals und schnürten ihr die Luft ab. Luise versuchte nicht mehr, sich zu wehren. Es war sinnlos. Gegen dieses Monster hatte sie keine Chance. Hilflos lag sie auf dem Rücken und starrte hoch in sein Gesicht. Dieses Mal glaubte sie, ein Gefühl darin zu erkennen: Neugierde. Sollte das ihre letzte Erinnerung sein?

 

»Mach die Augen wieder auf!«

Die Hände lösten sich von ihrem Hals und ein brennender Schmerz zischte über ihre Wange. Luise presste die Augenlider noch fester zusammen. Er stieß einen Fluch aus, bevor er sie gröber denn je würgte. Scheinbar hatte sie ihn wütend gemacht.

Luise blendete seine Präsenz so gut wie möglich aus und beschwor die Bilder ihrer Liebsten herauf. Doch statt Zuneigung und Dankbarkeit fühlte sie nur Scham. Was würden ihre Familie und Freunde denken, wenn sie erfuhren, wie sie gestorben war: mit Handschellen ans Bett gefesselt und einem Knebel im Mund.

Gewiss würden sie glauben, dass sie die Anonymität des Internets genutzt hatte, um Männer zu finden, mit denen sie ihre perversen Fantasien ausleben konnte – sexuelle Abenteuer, von denen eines außer Kontrolle geraten war. Sie würden sie verurteilen und dann würden sie die gemeinsamen Erinnerungen hinterfragen und zu dem Schluss kommen, dass sie sie nie wirklich gekannt hatten.

Luise zitterte. Angst – ihre treue Begleiterin. Sie war schon im Kindergarten bei ihr gewesen, als sie vor dem hohen Klettergerüst gestanden hatte, und auch am Tag ihrer Ballettaufführung, als sie am Vorhang vorbei in den Zuschauerraum gespäht und das Meer aus schemenhaften Gesichtern erblickt hatte. Nun bäumte sie sich ein letztes Mal in ihr auf, bevor sie erlosch, zusammen mit den Erinnerungen an ein verschwendetes Leben.

Konstantin

Freitag, 17. August

Konstantin stieg aus dem Taxi. Mit zusammengebissenen Zähnen hievte er die zwei Reisetaschen aus dem Kofferraum. Der Fahrer trommelte einen ungeduldigen Rhythmus auf das Lenkrad, während er seine Bemühungen über den Rückspiegel verfolgte. Das Trinkgeld war definitiv zu großzügig ausgefallen. Kaum dass die Klappe des Kofferraums zugefallen war, gab der Fahrer Gas und ließ ihn auf dem Gehweg vor seinem neuen Zuhause zurück.

Konstantin setzte die Taschen auf dem Boden ab und wischte sich mit dem Ärmel die Schweißperlen von der Stirn. Ein weiterer Sommertag mit Rekordtemperaturen. Für die meisten Menschen ein Grund zur Freude. Doch nicht für ihn. Er hasste die fiebrige Hitze und wie sich seine Haut im Sonnenlicht von weiß zu krebsrot verfärbte, wenn er nicht aufpasste.

Skeptisch ließ er den Blick über die hell verputzte Fassade des Mehrfamilienhauses schweifen. Auf der Website der Vermietergesellschaft hatte das Gebäude irgendwie einladender ausgesehen. Aber das war sicher nur der äußere Eindruck. Entschlossen, seinen Neustart mit einer positiven Einstellung zu beginnen, schnappte Konstantin sich die Taschen und schleppte sie den Weg entlang zur Haustür.

Seine Wohnung lag im zweiten Stock. Wie in einem Hotel bestand jede Etage aus einem langen Flur, von dem links und rechts die einzelnen Wohnungen abzweigten. Doch statt mit einem weichen Teppich war der Boden hier mit grauem Linoleum bedeckt, das bei jedem seiner Schritte quietschte.

Das Geräusch brachte längst begrabene Bilder an die Flure seines alten Gymnasiums zurück. Hoffentlich muss ich da jetzt nicht jedes Mal dran denken, wenn ich hier langgehe. Er würde nie verstehen, warum so viele Leute ihrer Schulzeit hinterhertrauerten. Alles, woran er sich erinnern konnte, waren hormonell überreizte Teenager, die planlos durcheinanderwuselten wie Testratten im Labyrinth.

Heute – gut zehn Jahre später – verlief sein Leben nur noch in geraden, geregelten Bahnen. Nun ja, leicht gewellten Bahnen. Mit der Tendenz zur Sackgasse.

Beinahe wäre er vor lauter Metaphern über Richtungen und Wege an seiner Wohnung vorbeigelaufen. Er ließ die Taschen von den Schultern rutschen und holte seinen Schlüsselbund hervor. Auf dem Klingelschild stand bereits sein Nachname: Krause. Da wären wir also. Hier wird mein Leben eine gute Wendung nehmen. Ich kann es spüren. Konstantin straffte den Rücken und drehte den Schlüssel im Schloss. Dann drückte er die Tür auf und trat über die Schwelle in sein neues Heim.

Das Erste, was ihm auffiel, war der intensive Farbgeruch. Anscheinend war der Vormieter seinem Versprechen nachgekommen und hatte den Wänden einen frischen weißen Anstrich verpasst. Ebenso offensichtlich war, dass er sich davor nicht die Mühe gemacht hatte, die grauen Türrahmen abzukleben, welche nun mit Farbklecksen verziert waren. Wie Zahnpastaspritzer auf einem Badezimmerspiegel.

Davon abgesehen sah die Wohnung freundlicher aus, als er nach dem unästhetischen Flur erwartet hatte – so freundlich, wie eine Wohnung ohne Möbel eben aussehen konnte. Das Laminat knarzte leicht, als er vom Flur ins Wohnzimmer ging und sein Gepäck neben der Tür parkte. Durch die Balkontür am anderen Ende des Raumes fielen Sonnenstrahlen und malten ein helles Fächermuster auf den Boden.

Konstantin trat auf den Balkon, wo er sich gegen das Geländer lehnte. Im Garten standen zwei hohe Tannen, die die Sicht auf das gegenüberliegende, identisch gestaltete Wohnhaus größtenteils bedeckten. Im Schatten der Bäume hüpften laut schimpfend einige Amseln über den Rasen. Unvermittelt breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Was war nur los mit diesen Vögeln, dass sie ständig auf Krawall gebürstet waren?

Immer noch schmunzelnd richtete er den Blick nach rechts und zuckte zusammen, als dieser unerwartet von einem fremden Augenpaar erwidert wurde. Der Mann auf dem Nachbarbalkon betrachtete ihn ausdruckslos, während er Rauch aus seinem Mund blies. Mit den nachlässig zurückgebundenen Haaren und der Kippe zwischen den Fingern sah er aus wie jemand, dem man um drei Uhr morgens in einer schlecht ausgeleuchteten Eckkneipe begegnet.

Bevor Konstantin die Gelegenheit hatte, sich vorzustellen, wandte sein Nachbar das Gesicht ab, schnipste den Zigarettenstummel in den Garten und verschwand in der Wohnung hinter sich.

Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Konstantin ihm hinterher. Scheinbar war sein neuer Nachbar kein Freund von Small Talk. Nach dem Taxifahrer war das nun schon die zweite Begegnung mit einem Heidelberger, die einen schlechten Nachgeschmack bei ihm hinterließ. Fast war es, als wollte die Stadt ihn nicht willkommen heißen. In seinem Magen ziepte es sorgenvoll. War das ein schlechtes Omen?

Er musste an ein Zitat von Goethe denken, das er einmal in einem Selbsthilfebuch gelesen hatte: »Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen.« Ziemlich blödsinnig eigentlich. Was, wenn man gerade keine Zeit hatte, etwas zu bauen? Normalerweise befand man sich ja auf einem Weg, weil man irgendwo hinwollte.

Er kehrte ins Wohnzimmer zurück und ließ die Balkontür offen stehen, damit die stickige Luft nach draußen abziehen konnte. Nachdem er seine Sachen ausgepackt und einige vergebliche Versuche unternommen hatte, die Farbspritzer von den Türrahmen zu putzen, gab er das Produktivsein auf und beschloss, stattdessen die allmählich abkühlende Stadt zu erkunden.

Während er durch die grob gepflasterten Straßen der Altstadt spazierte, begegnete er unzähligen Touristen und Studenten, die eine fröhlich-ausgelassene Stimmung verbreiteten. Ein paar Schritte vor ihm bogen zwei junge Männer in einen Irish Pub mit grünen Fensterläden ab. Konstantin blieb stehen und schaute durch die offene Tür in die Bar, wo die Besucher sich um robust wirkende Holztische drängten. Die altmodischen Kronleuchter tauchten den Raum in ein warmes, schummriges Licht.

Hinter dem Tresen stand ein Mann mit Vollbart und zapfte Bier. Konstantin stellte sich vor, wie er sich an die Theke setzen und ein Gespräch mit dem Barkeeper anfangen würde. Sie würden über das Wetter, das Geschäft und das Leben im Allgemeinen reden. Und dann würde er wiederkommen, Abend für Abend, bis der andere ihn nur noch mit einem Nicken begrüßte und der Frage »das Übliche?« Konstantin kostete die Vorstellung einen Moment lang aus, bevor er weiterzog.

Als er sich der alten Neckarbrücke näherte, ebbte der Tumult langsam ab. Hier waren es hauptsächlich Pärchen, die den idyllischen Blick auf die Schlossruine genossen, welche inmitten eines waldbedeckten Hanges über der Stadt aufragte. Eine Weile blieb er an das Geländer gelehnt stehen und sog die frische Luft ein, die vom Wasser aufstieg. Mit jedem Atemzug, den er tat, spürte er, wie die Anspannung von ihm abfiel. Ja, hier konnte er sich wohlfühlen.

Am nächsten Tag traf die Spedition in aller Frühe mit seinen Möbeln und Umzugskartons ein, die ihn das restliche Wochenende beschäftigten. Zufrieden mit dem Fortschritt, den er in seiner neuen Wohnung erzielt hatte, fiel er sonntagabends ins Bett und schlief, erschöpft wie er war, sofort ein.

Als er die Augen das nächste Mal aufschlug, war es stockfinster im Raum. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er sich im Schlafzimmer orientiert hatte. Erst dann nahm er Notiz von dem, was ihn geweckt hatte: Durch die Wand neben seinem Bett schallte in ohrenbetäubender Lautstärke klassische Musik. Konstantin drückte auf den Knopf, der das Ziffernblatt seines Radioweckers beleuchtete – 3:45 Uhr.

Stöhnend ließ er den Kopf aufs Kissen zurückfallen. In ein paar Stunden begann sein erster Arbeitstag, den er frisch und ausgeruht hatte angehen wollen. Er schloss die Augen und versuchte, die Musik so gut wie möglich auszublenden. Tatsächlich fühlte er schon bald, wie seine Glieder schwerer wurden und seine Gedanken ins Nichts abdrifteten. Dann setzte der Chor ein.

Konstantin riss die Decke von sich und schwang die Beine aus dem Bett. In irgendeiner Seitentasche vom Koffer mussten doch noch Ohrstöpsel sein. Eine Weile kramte er blind in seinen Sachen herum und hielt dann mit einem Knäuel Socken in der Hand inne.

»Warum lasse ich mir eigentlich immer alles gefallen?«, fragte er laut in die Dunkelheit hinein, aus der glücklicherweise keine Antwort zurückkam. Wenn, dann hätte sie wohl gelautet: »weil du ein Feigling bist.«

»Warst«, korrigierte er seinen unsichtbaren Gesprächspartner. »Ich werde jetzt nämlich da rübergehen und mich beschweren!« Er zögerte. »Ja, das werde ich!«

Ohne sich selbst die Chance zu geben, sein Handeln zu hinterfragen, stand er auf, warf die Socken über seine Schulter nach hinten und marschierte geradewegs aus der Wohnung hinaus in den Hausflur. Vor der Tür seines Nachbarn machte er halt und presste den Daumen mit Nachdruck auf die Klingel mit der Aufschrift »Herbst«.

Alex

Montag, 20. August

Alex lag mit geschlossenen Augen auf dem Bett und ließ die 9. Sinfonie durch seinen Körper vibrieren. Irgendwo hatte er mal gelesen, dass Beethoven sie komponiert hatte, als er schon fast taub gewesen war. Wie hilflos der Meister sich gefühlt haben musste, als er die Krankheit bemerkt hatte. Und was für ein starker Wille nötig gewesen war, um trotzdem weiterzumachen. Wie in Trance führte Alex das Rotweinglas an seine Lippen und bemerkte dabei nicht, wie ihm ein Teil der Flüssigkeit am Mundwinkel herunterrann und auf seinen Hemdkragen tropfte.

Normalerweise half ihm Alkohol beim Entspannen. Heute hatte er ihn stattdessen melancholisch gemacht. Aber dieser Zustand war ihm allemal lieber als die Alternative, die aus einem Mix aus Langeweile, Rastlosigkeit und einer latent lodernden Aggressivität bestand. Alex wusste, dass die Wut, die er manchmal spürte, vor allem gegen sich selbst gerichtet war – weil es ihm nach all den Jahren fernab von der Heimat immer noch nicht gelungen war, den Schatten seines Vaters abzustreifen.

Wie ein lästiger Ohrwurm verfolgte ihn dessen Stimme und flüsterte ihm seine archaischen Ideen von Moral und Disziplin ein: Wo zu viel Freiheit ist, entsteht Sünde. Es ist die Natur der Frau, das schwächere Geschlecht zu sein. Männer, die sich zu anderen Männern hingezogen fühlen, sind genauso pervers wie Pädophile.

Meistens war es für ihn kein Problem, den nörgelnden Parasiten in seinem Kopf zu ignorieren. Aber ab und zu gelang es diesem dann doch, in seine Gedanken einzudringen und dort Gift zu versprühen. Und jedes Mal, wenn er ihn reinließ, fühlte er sich so erbärmlich. Und schwach. Und am Ende wütend.

Ein disharmonischer Ton mischte sich in das donnernde Finale der Sinfonie. Alex fuhr hoch. Die Bewegung rief ein dumpfes Pochen hinter seiner Stirn hervor und gab ihm einen Vorgeschmack auf den morgigen Kater.

Erneut erklang der Störlaut. Dieses Mal erkannte er seine Klingel. Missmutig kam er auf die Beine und schlurfte zur Wohnungstür. Mit etwas mehr Schwung als beabsichtigt riss er sie auf und sah sich einem jungen Mann mit verwuschelten blonden Haaren gegenüber, der hastig einen Schritt zurückwich.