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Alex’ Blick wanderte über dessen gestreiftes Schlafanzugoberteil zu der identisch gemusterten Hose.

»Was ist das denn für ein Spießer-Outfit?«, fragte er immer noch leicht benebelt. Der Alkohol hatte den Filter zwischen Kopf und Mund offensichtlich aufgelöst.

Sein Gegenüber verschränkte die Arme vor der Brust.

»Entschuldigung, ich wusste ja nicht, dass ich es mit einem Modeexperten zu tun habe. Wie ich sehe, sind fleckige Hemden gerade voll im Trend.«

Alex blickte an sich hinunter und entdeckte den Rotweinfleck am Kragen. Oh. Er öffnete den Mund, doch der Blonde redete schon weiter.

»Es wird Sie vielleicht überraschen, aber ich bin eigentlich nicht hier, um Modetipps auszutauschen.«

Alex massierte sich die Stirn. Das Pochen dahinter entwickelte sich langsam aber sicher zu einem Hämmern. »Und warum sind Sie dann hier?«

»Um Ihnen zu sagen, dass ich die Polizei rufe, wenn Sie nicht sofort die Musik leiser drehen!«

Damit drehte er sich um und ließ Alex blinzelnd auf der Türschwelle zurück. In der Wohnung hinter ihm verklangen gerade die letzten Takte des finalen Satzes. Oh.

Langsam kam sein Gehirn wieder in Gang und ihm dämmerte, wo er den Mann schon mal gesehen hatte. Er hatte auf dem Balkon gestanden und die Vögel im Garten beobachtet. Und Alex hatte ihn beobachtet und bei seiner kindlich wirkenden Freude ebenfalls lächeln müssen. Aber dann hatte der andere zu ihm rübergesehen und Alex hatte sich ertappt gefühlt und war einfach ohne ein Wort gegangen. Ziemlich asozial, selbst für seine Verhältnisse. Und nun war zu dem schlechten ersten Eindruck offensichtlich noch ein zweiter gekommen.

Alex schielte zu seinem neuen Nachbarn hinüber, der im Gang vor seiner Wohnung stehen geblieben war. Was tat er da? Wieso ging er nicht rein? Erst als er sah, wie der andere am Türschloss herumfummelte, fiel bei ihm der Groschen.

Grinsend drehte er sich um und bückte sich zu der Einkaufstasche hinunter, die mitten im Wohnungsflur lag. Er hatte sich nach der Arbeit gerade mal dazu durchringen können, die verderblichen Lebensmittel in den Kühlschrank zu räumen, bevor er sich mit der Weinflasche ins Bett verzogen hatte.

Alex fischte sein Portemonnaie und die Schlüssel unter einem Berg Keksschachteln hervor und gesellte sich zu dem Blonden im Gang. Dieser würdigte ihn keines Blickes. Seine roten Wangen sprachen jedoch Bände. Klimpernd ließ Alex seinen Schlüsselbund am Finger kreisen.

»Na, haben wir was vergessen?«

Keine Reaktion. Er beschloss, den anderen nicht weiter aufzuziehen und kramte eine Plastikkarte aus dem Portemonnaie.

Sein Nachbar machte ihm Platz, gab aber einen verächtlichen Laut von sich, als Alex sich an der Tür zu schaffen machte.

»So was funktioniert nur in Filmen«, sagte er gerade, als die Schlossfalle unter dem Druck der Karte zurückschnappte.

Alex gab der Tür einen Stoß, der sie nach innen aufschwingen ließ. »Wie war das?« Er konnte sich ein selbstgefälliges Grinsen nicht verkneifen.

Sein Nachbar versuchte indes sein Bestes, nicht allzu beeindruckt auszusehen. »Das wirkte viel zu routiniert. Vielleicht sollte ich doch lieber die Polizei rufen.«

Alex’ Grinsen wurde noch eine Spur breiter. »Das würde ich Ihnen nicht empfehlen.«

Der andere murmelte etwas, das auf halbem Weg in ein Gähnen überging. Als er Anstalten machte, in seiner Wohnung zu verschwinden, gab Alex sich einen Ruck.

»Das mit der Musik war dumm. Ich hab nicht nachgedacht.« Er streckte die Hand aus. »Ich bin Alex. Ich finde, Menschen, die man um vier Uhr morgens kennenlernt, sollte man nicht siezen.«

Sein Gegenüber zögerte kurz, dann schlug er ein. »Konstantin.«

Mariana

Mittwoch, 22. August

»Deshalb glaube ich, dass die meisten Menschen ein völlig falsches Bild von Kolumbien haben. Viele Städte sind bereits sehr fortschrittlich. Florencia gehört leider nicht dazu. Die Wirtschaftskrise hat da …«

»Ja, wie ich schon sagte, dein Leben hat sich hier in Deutschland total verändert.«

Marianas Aufmerksamkeit kehrte wieder zu der Journalistin zurück. Mit dem Anflug eines schlechten Gewissens stellte sie fest, dass sie ihren Namen vergessen hatte. War es Krista gewesen? Oder Karla? Miss K. schien jedenfalls nicht sehr begeistert vom Verlauf des Interviews zu sein. Ihre Frage hatte gelautet, wie Mariana mit ihrer Berühmtheit umging, und sie hatte sich in ihrer Antwort ein klein wenig in der Vergangenheit verloren. Aber konnte man es ihr denn verdenken? Immer wieder musste sie dieselben langweiligen Fragen beantworten: »Wie fühlt es sich an, berühmt zu sein? Welche Promis sind privat ganz anders als in der Öffentlichkeit?« Und:

»Was tust du für den perfekten Beach-Body?«

Mariana unterdrückte ein Seufzen. Früher hätte sie ehrlich geantwortet, dass sie gar nichts Besonderes tat. Sie war schon immer groß und schlank gewesen und hatte noch nie in ihrem Leben eine Diät gemacht. Klar, sie stopfte sich nicht mit Fast Food voll, was jedoch eher der Tatsache geschuldet war, dass sie selbst gerne kochte und dabei stets auf frisches Gemüse zurückgriff, so wie sie es von zu Hause kannte.

Aber das wollte niemand hören. Die Leute wollten glauben, dass der Schlüssel zu Marianas Aussehen harte Arbeit war. So konnten sie davon träumen, dieses Ziel selbst eines Tages zu erreichen, wenn sie nur genug Geld und Energie investierten. Also erzählte sie etwas von einer Armada an Personal Trainern, Detoxkuren und der magischen Wirkung von Chiasamen.

Der Wagen, den die Modelagentur geschickt hatte, um sie abzuholen, wartete schon mit laufendem Motor vor dem Eingang, als Mariana nach dem Interview aus dem Fernsehstudio trat. Sie ließ sich auf die Rückbank fallen und streifte ihre High Heels ab. High Hells wäre ein passenderer Name gewesen. Obwohl sie fast nur gesessen hatte, zeichneten sich bereits rote Abdrücke auf ihren Fersen ab. Der Anblick machte sie wütend. Warum erwartete man von Frauen, dass sie sich dieser Tortur unterzogen? Warum wurde ihr Wert so oft an ihrem Aussehen gemessen? Und war sie selbst nicht Teil des Problems, weil sie das Spiel mitspielte? Heuchlerin! Verräterin! So hatte Isabella sie damals genannt.

Mariana hatte schon lange nicht mehr an die Menschen gedacht, die sie in ihrer Heimat zurückgelassen hatte. Aber das Interview hatte die Bilder wieder an die Oberfläche gekehrt und schlecht verheilte Wunden aufgerissen. Mariana war überrascht und auf verquere Weise dankbar, dass die Erinnerungen noch genauso schmerzhaft waren wie damals, auch wenn sie langsam verblassten. In sich gekehrt lehnte sie ihre Wange gegen die Fensterscheibe und ließ die Silhouetten der Stadt an sich vorüberziehen.

Der Fahrer brachte den Wagen wenige Meter vor dem rot lackierten Tor, welches einen bunten Farbklecks inmitten der grauen Steinblöcke bildete, zum Stehen. Die hohe Mauer schirmte das Grundstück vor neugierigen Blicken ab und war einer der Gründe, aus dem Lukas und sie sich für das Anwesen am Rande von Heidelberg entschieden hatten. Den Ausschlag hatte dann aber der Pool im Untergeschoss gegeben. Mariana hatte sich schon immer ein eigenes Schwimmbad gewünscht, in dem sie in Ruhe ihre Bahnen ziehen und ihren Gedanken nachhängen konnte. Wer hätte gedacht, dass dieser Traum eines Tages in Erfüllung gehen würde?

Mit wenig Begeisterung quälte sie sich wieder in ihre Schuhe und nickte dem Fahrer zum Abschied zu. Am Tor hielt sie ihren Transponder-Schlüssel vor das Identifikationsfeld, welches ihr mit einem Summen Zutritt gewährte. Sie drückte das Gitter auf und ließ es hinter sich zufallen. Wie immer rüttelte sie noch einmal testweise an den Stäben, bevor sie dem Kiesweg zum Haus folgte. Als sie die Diele betrat, bemerkte sie zu ihrer Überraschung Lukas’ Slipper am Fuße der Garderobe.

»Schatz?«, rief sie in Richtung Wohnzimmer. »Mi amor?«

Nach sechs Jahren in Deutschland war ihr Akzent so gut wie verschwunden. Aber Lukas liebte es, wenn sie ab und zu ein paar spanische Wörter einfließen ließ.

Der rotbraune Haarschopf ihres Freundes lugte um die Ecke. Lächelnd kam er auf sie zu, um sie mit einem Kuss auf den Mund zu begrüßen.

»Hallo, Bella.«

Isabella. Mariana drückte ihn von sich weg. »Das ist Italienisch.«

Sofort bereute sie ihren scharfen Tonfall. Ihr Freund konnte ja nicht ahnen, wo ihre Gedanken eben noch gewesen waren.

Lukas hob die Augenbrauen. »Was ist denn in dich gefahren? Lief das Interview nicht gut?«

Mariana zuckte mit den Achseln. »Doch. Wie immer, schätze ich.«

Sie verbannte die High Heels in die hinterste Ecke des Schuhschranks und tapste barfuß ins Wohnzimmer, wo sie sich schlaff auf die Couch fallen ließ. Sie zog die nackten Füße unter die Oberschenkel und rubbelte sich über die Arme, auf denen sich bereits eine Gänsehaut gebildet hatte. Lukas stellte den Thermostat immer viel zu kühl ein. Bisher war sie aber zu faul gewesen, sich mit der Bedienungsanleitung auseinanderzusetzen.

Nach einer Weile gesellte sich Lukas mit zwei Teegläsern zu ihr. Dankbar nahm sie ihres entgegen und kuschelte sich an ihn. Sie schwiegen. Mariana spürte, wie die Wärme langsam von den Handflächen in ihren Körper zog und dort die Muskeln lockerte.

»Willst du mir nicht erzählen, was passiert ist?«, fragte Lukas in die Stille des Wohnzimmers hinein.

Statt direkt zu antworten, nahm sie einen Schluck Tee. Ihre Lippen kräuselten sich. Schon wieder so eine bittere Mischung. Lukas war momentan ganz versessen auf Heilkräuter.

»Nichts ist passiert«, sagte sie schließlich mit einem Seufzen. »Ich wurde nur heute daran erinnert, wie oberflächlich unsere Gesellschaft ist. Wieso werden Frauen so oft an ihrem Aussehen gemessen?«

 

Ihr Freund runzelte die Stirn. »Und Männer vielleicht nicht? Meinst du, mein Aussehen hat nichts mit meinem Erfolg zu tun?«

»Du bist erfolgreich, weil du ein talentierter Schauspieler bist.«

Lukas lachte auf. »Wenn ich nicht gut aussehen würde, wär das egal.«

»Okay, wir sind wohl nicht die besten Beispiele«, räumte Mariana ein. »Aber bei Menschen, die nicht vor der Kamera stehen, gibt es gewaltige Unterschiede zwischen Männern und Frauen.«

Lukas ging nicht weiter darauf ein. Er wartete. Darauf, dass sie zu dem kam, was sie eigentlich sagen wollte. Warum durchschaute er sie nach neun Monaten schon so gut?

Mariana leerte ihr Glas in einem Zug und rückte ein Stück von Lukas ab, um ihm direkt ins Gesicht sehen zu können.

»Hab ich dir mal von Isabella erzählt?« Es war eine rhetorische Frage. Sie sprach nur äußerst selten von ihrer Kindheit.

Lukas schüttelte den Kopf.

»Isabella war meine beste Freundin in Kolumbien. Sie war das cleverste Mädchen der Schule. Keiner aus unserer Clique hat sich damals Gedanken um die Zukunft gemacht. Sie schon. Während wir uns nachts in irgendeinem Hinterhof besoffen haben, hat sie zu Hause gesessen und gelernt. Ihr Traum war es, eines Tages aus Kolumbien rauszukommen und es im Ausland zu was zu bringen. Ich dachte, wenn es eine schafft, dann sie.«

Lukas strich ihr sanft über den Nacken. Gewiss ahnte er bereits, worauf die Geschichte hinauslief.

»Aber dann wurde ich mit 16 von Paco entdeckt. Plötzlich flog ich für Fashion-Shows um die ganze Welt und lebte ihren Traum. Bevor ich endgültig aus Florencia weggezogen bin, hat sie mich noch einmal besucht und mir gesagt, dass sie mich für eine Verräterin hält. Ich hab sie danach nie wiedergesehen.«

Mariana schluckte. Ihr Hals fühlte sich plötzlich ganz eng an. »Irgendwie hat sie ja recht. Alles was ich habe, habe ich nur durch mein Aussehen bekommen.«

Sie starrte auf den Grund ihres Teeglases, um Lukas’ Blick nicht begegnen zu müssen. Normalerweise behielt sie ihre Sorgen lieber für sich. Zu oft waren ihre Selbstzweifel schon abgetan worden. Welchen Grund sollte jemand wie sie auch haben, sich zu beschweren? Luxusprobleme. Sie hasste dieses Wort.

»Natürlich stimmt es«, meinte Lukas lapidar. »Schönheit ist ein Privileg, das nun mal nicht jedem vergönnt ist.«

Jetzt sah Mariana ihn doch an. Sie öffnete den Mund, aber er war noch nicht fertig.

»Das ist aber auch nichts anderes, als in eine reiche Familie hineingeboren zu werden oder ein musikalisches Talent zu besitzen. Und auch die Lernfähigkeit deiner Freundin wurde ihr gewissermaßen in die Wiege gelegt.«

Mariana zog die Stirn kraus, während sie über seine Worte nachdachte. Aus der Perspektive hatte sie das Ganze noch gar nicht betrachtet.

Lukas legte seine Hände an ihre Wangen und blickte ihr tief in die Augen. »Außerdem besitzt du noch etwas, um das die Leute dich beneiden können.«

»Ach ja? Was denn?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits in seinem Gesicht ablesen konnte. Liebe.

Doch wie so oft überraschte Lukas sie und sagte stattdessen: »Empathie.«

Es war mit Abstand das schönste Kompliment, das sie je bekommen hatte.

Mariana

Mariana starrte hoch an die Zimmerdecke, wo die Wolken mit dem Mondlicht zusammen einen wiegenden Schattentanz aufführten. Der Abend mit Lukas war einfach wundervoll gewesen und sie war seit langem mal wieder mit einem Gefühl von innerer Ruhe und Zufriedenheit zu Bett gegangen. Doch statt in einen schönen Traum hinüberzugleiten, war sie dann von einer unbestimmten Unruhe erfasst worden.

Mariana wälzte sich zum wiederholten Male herum und zwang sich, in der neuen Position liegen zu bleiben. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, ihren Atem an den von Lukas anzupassen, der leise neben ihr schnarchte. Doch aus irgendeinem Grund verweigerte ihr Körper die Kooperation. Mehr noch: Er tat genau das Gegenteil von dem, was sie verlangte. Ihr Puls beschleunigte sich, bis er flatternd gegen ihren Hals schlug wie ein gefangener Kolibri.

Sie setzte sich auf. Was für ein verstörender Gedanke. Auf einmal ließ die Vorstellung sie nicht mehr los, ein fremdes Wesen könnte sich in ihrem Körper eingenistet haben, das nun hinauswollte. Kein Vogel – natürlich nicht. Aber vielleicht ein Dämon?

Während sie das Was-wäre-wenn-Szenario im Kopf weiterspann, machte sich ein Brennen auf ihrer Haut bemerkbar. Mariana blickte an sich hinunter und sah, wie ihre langen Fingernägel, wie von einer fremden Macht besessen, über ihr Dekolleté kratzten. Aufhören! Du tust mir weh! Doch die Bewegung stoppte nicht.

Einen schrecklichen Moment lang schien es so, als hätte sie tatsächlich die Kontrolle über ihren Körper verloren. Dann wich die Kraft aus ihrer Hand und sie klatschte auf die Bettdecke wie ein toter Fisch. Was ist nur los mit mir? Verliere ich den Verstand?

Mariana sank auf das Laken zurück und schlang die Arme um ihre Knie. Sie blickte zu Lukas’ Seite des Bettes. Sein Brustkorb hob und senkte sich noch immer regelmäßig. Wie kann er einfach so weiterschlafen? Spürt er denn nicht, dass etwas mit mir nicht stimmt?

Kurz zog sie in Betracht, ihn aufzuwecken, beschloss dann aber lieber, ein zweites Mal zu versuchen, Entspannung aus seinem friedlich ruhenden Körper zu ziehen. Da ist nichts in meinem Hals. Da ist nichts in meinem Hals, flüsterte sie wie ein Mantra vor sich hin. Langsam ebbte das Zittern ab. Na bitte.

Sie schloss die Augen, nur um sie gleich darauf wieder aufzureißen. Es ist nicht in meinem Hals, es ist in meinem Kopf! Ein Kribbeln lief über ihre Schädeldecke – vor und zurück, zurück und vor, bis es sich auf einen Punkt in der Mitte konzentrierte. Das ist eigentlich gar nicht so schlimm. Das kann ich ertra–

»Ah!« Sie stieß einen spitzen Schrei aus, als sich etwas über ihre Haare stülpte, das sich wie ein Netz aus glühenden Maschen anfühlte – Maschen, die beharrlich fester gezurrt wurden. Nein, nein, nein! Aufhören!

Mariana torkelte aus dem Bett in Richtung Schminktischchen, wo ihre zitternde Hand die Kordel für das Licht verfehlte und stattdessen ein paar Puderdöschen von der Ablage fegte. Beim zweiten Versuch bekam sie die Strippe zu fassen und zerrte so heftig daran, dass sie beinahe abriss. Die Glühbirnen am Rahmen des Spiegels leuchteten auf und erhellten ihr Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen.

Die Wahrheit, die der Spiegel enthüllte, ließ Mariana vor Grauen zurückstolpern. Ein lodernder Feuerkranz saß einer Krone gleich auf ihrem Haupt. Seine Flammen leckten an ihren schwarzen Haaren, die sich vor ihren Augen in Asche verwandelten und als feiner Staub zu Boden rieselten. Mariana kreischte.

Panisch stürzte sie zum Bett und rüttelte an Lukas’ Schulter, der nun von ihr abgewandt an der Wandseite lag. Langsam rollte er sich rum und schenkte ihr ein verschlafenes Lächeln. Mariana schrak zurück, verlor das Gleichgewicht und landete auf dem Rücken.

Vom Boden aus sah sie in das Gesicht ihres Freundes, dessen attraktive Züge zu einer breiigen roten Masse verschmolzen waren. Er war kaum noch als Mensch erkennbar. Der schlimmste Anblick waren jedoch die zwei gezwirbelten Hörner, die dicht hinter seinem Haaransatz in die Höhe schossen.

Das Monster stützte sich auf den rechten Ellenbogen und sagte mit Lukas’ Stimme: »Was ist denn? Willst du nicht zurück ins Bett kommen?«

Mariana erschauerte vor Ekel. Hastig rappelte sie sich auf und stürmte aus dem Schlafzimmer. Erst musste sie die Flammen auf ihrem Kopf löschen. Dann würde sie sich um den Teufel in ihrem Bett kümmern.

Celine

Freitag, 24. August

»Und deswegen nehme ich jeden Abend vor dem Schlafengehen zwei Esslöffel Olivenöl mit fünf Spritzern Zitronensaft ein. Ich sage Ihnen, diese Kur wirkt Wunder!«

Die Journalistin nickte eifrig. »Ja, davon hab ich schon gehört!«

Celine bewegte den Mauszeiger unter das Videofenster und klickte auf den Daumen runter, bevor sie die Seite schloss. Olivenöl mit Zitrone, was für ein widerlicher Stuss! Die Frau war genauso hohl, wie sie aussah. Und sie hatte Lukas nicht einmal erwähnt. Das waren zehn Minuten ihres Lebens, die sie nie wiederbekam.

Sie hob den Kopf. In ihrem Nacken kribbelte es – ein sicheres Zeichen dafür, dass sie beobachtet wurde. Vorsichtig sah sie sich nach allen Seiten um, bis sie beim neuen Abteilungsleiter hängenblieb, dessen Blick zwischen ihrem Gesicht und ihrem Bildschirm hin- und hersprang.

Einen Schreckmoment lang hielten sie Augenkontakt, dann hatte Celine sich wieder ihrem Computer zugewandt und eine Datei vom Desktop geöffnet. Wahllos schob sie ein paar Menüfenster umher, während sie mit gespitzten Ohren in den Raum hineinlauschte. Ein paar Sekunden später war von Krauses Schreibtisch Tastaturgeklapper zu hören. Scheinbar widmete er sich wieder anderen Dingen. Puh.

Sie beschloss, ihr Glück nicht weiter zu strapazieren, und öffnete das Projekt, an dem sie eigentlich arbeiten sollte. Es ging um das Logo für einen neuen Kaffeeautomaten, den die Marketingabteilung mit einer solchen Inbrunst bewarb, als würde Götternektar anstelle des schnöden Heißgetränkes aus ihm fließen. Immerhin erforderte die Aufgabe nicht sonderlich viel Konzentration.

Routiniert glitten Celines Finger über das Zeichentablett, während ihre Gedanken sich woandershin begaben. Was sie wohl in den letzten Stunden alles verpasst hatte? Die Nachricht von der Serienverlängerung war gestern wie ein Lauffeuer durch die Kommissar Grey-Fanforen gezogen. Celine war die halbe Nacht aufgeblieben und hatte die verschiedenen Threads nach Insiderinfos durchkämmt – mit enttäuschend wenig Erfolg. Am intensivsten hatte man über den neuen Cast spekuliert, der sie persönlich am wenigsten interessierte. Solange Lukas weiterhin die Rolle des Kommissars übernahm, war ihr die Besetzung so ziemlich egal. Ob er schon auf die frohe Botschaft reagiert hatte? In einem Tweet oder vielleicht sogar einem kleinen Video?

Einmal mehr ärgerte sie sich darüber, dass auf ihrem Arbeitscomputer der Zugang zu allen sozialen Netzwerken blockiert war. So blieben ihr nur noch die Videoplattformen und das eigene Handy. Wie auf Kommando ertönte ein Vibrieren aus dem Inneren ihrer Handtasche. Das musste ein Google-Alert sein. Vielleicht konnte sie ja ganz schnell einen Blick darauf werfen?

»Was machen Sie da?«

Ertappt ließ Celine das Smartphone in ihre Tasche zurückplumpsen. Schon wieder der Neue! Hatte der nichts Besseres zu tun, als ihr den ganzen Tag im Nacken zu sitzen?

»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich die Linien mit einem Farbverlauf haben möchte.«

Hatte er? Verwirrt drehte sie sich um und stellte fest, dass er gar nicht sie, sondern Bettina im Visier hatte, die zu ihrer Rechten saß.

Die Kollegin fuhr sich durchs strähnige Haar und schüttelte den Kopf. »Ja, nein, Sie haben recht. Das hatte ich ganz vergessen.«

»Bitte machen Sie das noch mal.«

Bettina nickte schwach. »Ja, natürlich.«

Celine biss sich auf die Unterlippe. Hör jetzt auf, beschwor sie ihn. Doch Krause dachte gar nicht daran.

»Sie werden sich ein wenig beeilen müssen. Wir brauchen die Grafik für das Meeting um 16 Uhr.«

Bettina nickte erneut, augenscheinlich schon an Bord des Expresszuges ins Tal der Tränen. Glücklicherweise beließ ihr Chef es nun dabei und drehte sich wieder zu seinem Bildschirm um, in seliger Unwissenheit der bösen Blicke, die ihn von allen Seiten attackierten.

Celine seufzte. Männer konnten manchmal solche Trampeltiere sein. Besser sie klärte ihn gleich auf, bevor hier noch das große Drama losbrach, in das sie dann unweigerlich mithineingezogen werden würde.

Schon wenige Minuten später ergab sich eine günstige Gelegenheit, als Krause aufstand und den Drucker im Flur ansteuerte. Diskret heftete sich Celine an seine Fersen und stellte sich neben ihn, als würde sie ebenfalls auf einen Druckauftrag warten.

»Wirklich schlimm, das mit Bettina …«, begann sie beiläufig, in der Hoffnung, dass er wenigstens nicht zu begriffsstutzig war, um diesen offensichtlichen Köder zu ignorieren.

Ihr Chef runzelte die Stirn. »Was ist schlimm?«

»Na, Sie wissen schon, dass ihr Mann vor zwei Wochen an Krebs gestorben ist.«

Krauses Mund klappte auf. »Das wusste ich nicht«, murmelte er und wirkte dabei so niedergeschlagen, dass sie gedanklich schon nach tröstenden Worten suchte. Doch bevor es so weit kommen konnte, rief sie sich selbst zur Ordnung. Genug eingemischt.

 

Ohne einen weiteren Kommentar ließ sie ihren Chef am Drucker stehen und kehrte zu ihrem Projekt zurück. Am Schreibtisch fiel ihr ein, dass sie gegangen war, ohne das Gerät zu bedienen, aber Krause war vermutlich eh zu beschäftigt damit, die Neuigkeit zu verdauen, um sich deswegen zu wundern.

Die letzten Stunden des Arbeitstages krochen quälend langsam dahin. Mit neidvollem Blick verfolgte Celine, wie ein Kollege nach dem anderen seine Sachen zusammenpackte und ins Wochenende verschwand. Am Ende waren nur noch sie selbst und der Neue übrig.

Theoretisch hätte sie es den anderen gleichtun können. Dank großzügiger Gleitzeitregelung konnte sie kommen und gehen, wann sie wollte. Trotzdem begann Celine ihre Arbeit jeden Morgen um acht und verließ das Büro um fünf. Sie brauchte diese Routine, denn sonst konnte es leicht passieren, dass sie ihre Freiheit überstrapazierte. Und sie durfte diesen Job auf keinen Fall verlieren. Er war wie für sie gemacht: gerade noch stimulierend genug, um nicht unerträglich zu sein, aber so simpel, dass er sie nicht übermäßig viel Energie kostete, die sie für andere Dinge benötigte. Und das Geld, das sie hier verdiente, reichte allemal aus, um ihre Kosten für Wohnung, Essen und Fotoausrüstung abzudecken. Viel mehr brauchte sie nicht.

Celine blinzelte, als der Bildschirm schwarz wurde. Mit einem Tippen auf die Entertaste holte sie das Gerät aus dem Schlafmodus zurück. Die Uhr auf dem Desktop sprang gerade auf 17:03 Uhr um. Höchste Zeit.

Eilig speicherte sie das Projekt ab und ließ den PC runterfahren. Im Aufstehen griff sie nach ihrer Handtasche.

»Schönes Wochenende«, rief sie über die Schulter.

Krause drehte sich um. »Ja, wünsche ich auch und …«

Interessiert mich nicht. Celine war schon im Flur verschwunden, ehe er den Satz beenden konnte. Eine Nettigkeit pro Tag reichte ja wohl. Mit jedem Schritt, der sie dem Ausgang näherbrachte, schlug ihr Herz vor Vorfreude schneller. Die nächsten zwei Tage würden ganz allein ihm gehören.

Konstantin

Konstantin beugte sich über das Geländer. Er hielt die Bierflasche an ihrem Hals und ließ sie über den Abgrund baumeln. Auf dem Balkon unter ihm saß ein Sperling und gab ein abgehacktes Tschilpen von sich.

»Was gibt’s zu meckern?«, sprach Konstantin ihn an. »Hattest du auch einen miesen Tag? Hat dir jemand deinen Wurm geklaut oder so?« Er lachte.

Der Vogel verstummte und sah ihn aus schwarzen Knopfaugen an. Dann breitete er seine Flügel aus und flog laut schimpfend davon.

Im nächsten Moment bog ein Radfahrer in halsbrecherischem Tempo in den Gartenweg ein und bremste scharf vor der Kellertür ab. Von oben beobachtete Konstantin, wie der Mann sein Fahrrad die Treppenstufen runterschleppte. Als er unter der Lampe an der Tür stehen blieb, um diese aufzuschließen, erkannte Kon­stantin den dunklen Haarschopf seines Nachbarn.

Alex verschwand im Keller und kehrte kurz darauf mit leeren Händen wieder zurück. Dann wandte er sich dem Eingang des Mietshauses zu. Hastig trat Konstantin einen Schritt zurück. Der andere sollte nicht denken, dass er ihm hinterherspionierte. Ein paar Minuten später ging das Licht in der Wohnung neben ihm an und Musik schallte zu ihm rüber, die gleich darauf leiser gedreht wurde. Aus Rücksicht auf ihn?

Konstantin biss sich auf die Unterlippe. Sinnlos, sich etwas vorzumachen. Alex hielt ihn längst für einen Spießer. Und auf der Arbeit hatte er es sich auch schon mit den Kollegen verscherzt. Keine schlechte Leistung für die erste Woche. Konstantin nahm einen weiteren Schluck aus seiner Bierflasche. Leer.

Seufzend stieß er sich vom Geländer ab und schlurfte in die Küche. Seine Knie knackten, als er vor dem Kühlschrank in die Hocke ging. Laut seinem Hausarzt sollte regelmäßiger Sport dagegen helfen. Ebenfalls eine Sache, die er geplant hatte zu tun. Aber den Vorsatz konnte er gleich mit begraben, wenn er schon mal dabei war.

Seine Hand erstarrte auf halbem Weg zur nächsten Flasche. Wollte er denn wirklich schon wieder aufgeben? Zugegeben, die letzten Tage waren nicht ideal verlaufen, aber er war es leid, ein Außenseiter zu sein. Dieses Mal würde er sich nicht in die Ecke drängen lassen. Er musste nur eine kleine Kurskorrektur vornehmen. Und er wusste auch schon, wo er damit anfangen würde.

Entschlossen schnappte er sich zwei Bierflaschen aus dem Kühlschrank, marschierte los, machte auf der Schwelle kehrt, um seinen Schlüsselbund zu holen, und verließ dann schnurstracks die Wohnung.

Doch als er das Klingelschild seines Nachbarn vor sich hatte, begann der Mut in ihm zu schwinden. Alex war spät heimgekommen. Bestimmt hatte er einen anstrengenden Arbeitstag hinter sich und wollte jetzt nur noch seine Ruhe haben. Und überhaupt: War es nicht seltsam, einfach so bei jemandem zu klingeln, den man kaum kannte? Nicht so seltsam, wie jetzt wieder umzudrehen, beschloss er und drückte auf den Knopf.

Drinnen verstummte die Musik und Schritte näherten sich. Dann wurde die Tür aufgerissen. Wieder zuckte Konstantin, von der heftigen Bewegung überrascht, zusammen. Konnte der Typ seine Tür nicht wie ein normaler Mensch öffnen?

»Hi«, überspielte er seinen Schrecken. »Ich hab zufällig gesehen, wie du nach Hause gekommen bist und dachte, du hast vielleicht Lust, ein Feierabendbier mit mir zu trinken. Ich bin ja neu in der Stadt und kenne noch nicht so viele Leute.«

Er hob die Bierflaschen in die Höhe und gestattete sich ein kleines Lächeln. Das hatte eigentlich nach einem ganz normalen Anliegen geklungen. Konstantin musterte das Gesicht seines Gegenübers. Alex’ Mund stand leicht offen. Er wirkte wie die Verkörperung des Wortes »überrumpelt«.

Hastig ruderte Konstantin zurück. »Wenn du keine Zeit hast, ist das aber auch okay. War nur so eine Idee. Ich kann …«

Alex schüttelte den Kopf. »Schon gut. Komm rein.« Er drehte sich um und ließ ihn einfach vor der offenen Tür stehen.

Konstantin beeilte sich, ihm zu folgen. An der Schwelle zum Wohnzimmer hielt er verblüfft inne. Alle vier Wände waren bis zur Decke mit Regalen zugestellt, in denen sich unzählige CDs und Schallplatten aneinanderreihten. Es mussten über tausend sein und sie ließen den Raum viel kleiner als sein eigenes Wohnzimmer wirken, obwohl der Schnitt offensichtlich derselbe war.

Konstantin trat an das Regal heran, welches ihm am nächsten stand, und überflog die Titel der CDs. Auf den ersten Blick kam ihm nichts davon bekannt vor. Aber das hieß nicht viel. Die einzige Musik, die er hörte, war die, die ihm im Alltag begegnete: im Supermarkt, im Radio oder auf dem Weg zur Arbeit, wenn irgendein Halbstarker wieder meinte, den ganzen Bus mit seinen Handylautsprechern beschallen zu müssen. Alex schien dagegen regelrecht besessen von Musik zu sein.

Er wollte gerade nach ihm sehen, als sein Nachbar sich mit einem Flaschenöffner in der Hand zu ihm gesellte. Konstantin war leicht enttäuscht. Irgendwie hatte er gedacht, dass Alex zu den Menschen gehörte, die ihr Bier an der Tischkante oder mit einem Feuerzeug öffneten. Doch er entfernte die Kronkorken auf konventionelle Weise und reichte ihm eine der Flaschen. Gemeinsam nahmen sie auf der braunen Ledercouch Platz, die ein wenig altmodisch wirkte, aber in deren Polstern man wunderbar versinken konnte.

Dann breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus. Alex schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück. Es wirkte nicht so, als plante er, gleich mit einer lustigen Anekdote das Eis zu brechen. Nervös pulte Konstantin an seinem Flaschenetikett herum. Warum fiel ihm in solchen Situationen nie ein passendes Gesprächsthema ein?

»Bist du gerade erst von der Arbeit heimgekommen?«, begann er schließlich lahm.

Alex nickte. »Ich hatte Schicht bis acht.«

»Oh, arbeitest du in einer Fabrik oder so?«

»Nein«, erwiderte der andere mit seltsam spitzer Betonung. Hatte er seine Frage als Beleidigung aufgefasst? Warum war ihm bei dem Wort Schichtarbeit auch als Erstes eine Fabrik eingefallen? Er hätte »Krankenhaus« sagen sollen.