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»Ich bin bei der Kripo«, stellte Alex klar.

»Oh.«

Nun, das passte irgendwie zu ihm. Er erinnerte Konstantin an einen grimmigen TV-Kommissar, der zu viel Kaffee trank und die Stirn immer in Falten gelegt hatte. Unbestechlich, außer wenn er eine schöne Frau wegen zu schnellen Fahrens anhielt. Möglicherweise war seine Vorstellung da von zu vielen Krimiserien geschädigt.

»Was machst du denn beruflich?«, fragte Alex und ersparte ihm so die mühsame Suche nach dem nächsten Gesprächsthema.

»Ich leite seit dieser Woche die Grafikabteilung in einem Unternehmen, das auf Küchengeräte spezialisiert ist.«

Verglichen mit einem Job bei der Kripo klang das einfach nur öde. Alex’ Augenbrauen hoben sich trotzdem.

»Eine leitende Position in deinem Alter? Klingt so, als hättest du was drauf.«

»Ach, na ja.« Konstantin lächelte schief. Er war es gewohnt, dass Leute ihn mindestens fünf Jahre jünger schätzten, als er tatsächlich war.

»Wie gefällt es dir bis jetzt?«

»Ganz gut«, murmelte er und hörte selbst, wie wenig überzeugend er klang. »Ich muss mich erst noch einleben.«

Alex nickte. »Ja, das ging mir am Anfang auch so. Manchmal komm ich mir in der Stadt immer noch wie ein Fremder vor.«

»Wirklich?«

Sein Nachbar gab ein unwirsches Brummen von sich. Er schien seinen letzten Satz schon wieder zu bereuen. Aber Konstantin fühlte sich direkt ein bisschen aufgeheitert. Im Alltag wirkte es immer so, als hätten alle um ihn herum ihren Platz bereits gefunden. Jeder schien irgendwo dazuzugehören. Dass der Schein manchmal trog, vergaß er oft.

»Mir ist heute in der Firma etwas ziemlich Blödes passiert«, begann er zögernd und berichtete dann davon, wie er eine seiner Mitarbeiterinnen dabei erwischt hatte, wie sie während der Arbeitszeit Internetvideos angeschaut hatte. Aber in dem Moment hatte er sich nicht getraut, etwas zu sagen. Gleichzeitig hatte er gewusst, dass ihn die fehlende Zurechtweisung schwach wirken ließ. Also hatte er bei der nächsten Gelegenheit überkompensiert und einer anderen Kollegin zugesetzt, deren Mann gerade an Krebs gestorben war. Bei der Erinnerung an die Szene wurde ihm wieder ganz flau im Magen. Das war schon ein Fettnäpfchen in Badewannengröße, in das er da getreten war.

Alex

Alex streckte die Beine unter dem Couchtisch aus, während er mit halbem Ohr Konstantins Geschichte lauschte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sein neuer Nachbar so bald wieder bei ihm auf der Matte stehen würde. Nach ihrer letzten Begegnung war er davon ausgegangen, dass dieser ihn für ein Arschloch hielt. Aber scheinbar war das nicht der Fall.

Noch überraschender kam für Alex die Erkenntnis, dass er Konstantins Gesellschaft nicht als störend empfand – und das, obwohl dieser genau die Eigenschaft besaß, die ihm bei anderen Männern am meisten gegen den Strich ging: Sensibilität. Aber wenn sein Instinkt ihn nicht täuschte, schlummerte unter der ruhigen Oberfläche noch mehr. Es hatte ihm jedenfalls imponiert, wie Konstantin ihm bei ihrer ersten Begegnung die Stirn geboten hatte.

Mit einem Mal wurde Alex sich der Stille im Raum bewusst. Konstantin hatte aufgehört zu reden und erwartete nun offensichtlich eine Reaktion von ihm.

»Ich würde mir deswegen keine Sorgen machen«, antwortete er möglichst vage, um zu verschleiern, dass er bei der Hälfte der Geschichte ausgestiegen war.

Konstantin kratzte das Etikett an seiner Bierflasche ab. »Meinst du? Aber hätte ich nicht merken müssen, dass es der Frau nicht gut geht?«

Alex schnaubte. »Unsinn! Wie hättest du das denn merken sollen? Du kannst ja nicht in ihren Kopf reinschauen.«

Was er mitbekommen hatte, reichte, um zu verstehen, dass Konstantin lediglich ein verzeihliches Versehen unterlaufen war. Wenn er da an seine eigenen Ausrutscher im Dienst dachte …

Der letzte Vorfall, bei dem er einem Erstsemester die Hand gebrochen hatte, lag noch gar nicht allzu lange zurück. Da hatte er doppelt Glück gehabt – einerseits, weil seine Chefin die Lüge mit dem Unfall geschluckt hatte, und andererseits, weil der Student keine Anzeige gegen ihn erstattet hatte. Letzteres war vielleicht weniger verwunderlich. Immerhin hatte man den Mann beschuldigt, eine Minderjährige belästigt zu haben. Als Alex ihn mit den Vorwürfen konfrontiert hatte, hatte er seine Lage kein Stück ernst genommen. Aus seinem Blick hatte die Überheblichkeit eines reichen Snobs gesprochen, der sein Leben lang immer mit allem davongekommen war. Irgendjemand hatte ihn daran erinnern müssen, dass er nicht unantastbar war.

Alex’ Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf Konstantin, der immer noch vor sich hin brütete. Wie viele Gedanken er sich wegen dieser Lappalie machte!

»Du wirst sehen, am Montag haben deine Kollegen den kleinen Zwischenfall schon längst wieder vergessen.«

Konstantins Mundwinkel hoben sich. »Wahrscheinlich hast du recht. Danke.«

Alex erwiderte das Lächeln überrumpelt. Wann hatte er zuletzt das Wort »danke« gehört?

»Erzählst du mir jetzt von deiner Arbeit? Gibt es gerade eine Ermittlung, die euch beschäftigt?«

Es schien ihn wirklich zu interessieren. Wahrscheinlich stellte er sich seinen Job als eine spektakuläre Aneinanderreihung von Verhören und Verfolgungsjagden vor. In Wahrheit bestand sein Arbeitsalltag zu 30 Prozent aus dem Schlichten kleinlicher Streitereien und zu 70 Prozent aus langweiliger Büroroutine. Doch wie es der Zufall so wollte, hatten sie gerade tatsächlich einen spannenden Fall auf dem Schreibtisch – nun, nicht direkt auf seinem Schreibtisch. Leider.

»Hast du schon mal vom Joe-Black-Killer gehört?«, fragte er Konstantin.

»Joe Black wie der Film?«

»Genau.«

Seine Kollegen hatten mit den Augen gerollt, als sie von dem reißerischen Namen erfahren hatten, den die Medien dem Täter verpasst hatten. Er selbst fand ihn eigentlich ganz passend, hatten seine Opfer doch im wahrsten Sinne des Wortes ein Rendezvous mit dem Tod.

»Der Typ sucht sich Frauen über ein Datingportal aus«, erklärte er. »Sein Ziel sind dabei solche, die nur Spaß für eine Nacht wollen. Die, die dumm genug sind, ihn zu sich nach Hause einzuladen, erwürgt er im eigenen Bett.«

Konstantin machte große Augen. »Darfst du mir denn davon erzählen?«

Alex lachte. »Ich erzähl dir nur, was sowieso schon über die Medien verbreitet wurde.« Viel mehr sagt man mir ja auch nicht. Er bückte sich unter den Couchtisch und griff nach der obersten Zeitung auf der Ablage.

»Hier, fang!« Amüsiert verfolgte er, wie Konstantin ungelenk die Zeitung aus der Luft fischte und dabei beinahe sein Bier verschüttete. »Ein Handballer ist an dir jedenfalls nicht verloren gegangen.«

Sein Gegenüber warf ihm einen beleidigten Blick zu, der Alex noch mehr erheiterte. Ja, doch. Sein neuer Nachbar war ihm durchaus sympathisch.

Gemeinsam beugten sie sich über die Zeitung. Auf der ersten Seite prangten in großen schwarzen Lettern die Worte »One-Night-Stand mit dem Joe-Black-Killer« und darunter als Unterüberschrift »Wäre es doch beim kleinen Tod geblieben.«

Konstantins helle Augenbrauen zogen sich zusammen. Vermutlich fand er die Schlagzeile geschmacklos. Während sein Nachbar sich in den Artikel vertiefte, betrachtete Alex das beigefügte Foto, das ein vornehmes Haus in der Heidelberger Altstadt zeigte. Daneben war die Porträtaufnahme einer hübschen Blondine zu sehen, die scheu in die Kamera lächelte. Die Bildunterschrift lautete: Luise P. (23). Alias Opfer Nummer drei.

»Wow! Das klingt ja wie aus einem Krimi.« Konstantin faltete die Zeitung zusammen und verstaute sie wieder unter dem Tisch.

»Allerdings! Der größte Fall in Heidelberg seit mindestens 50 Jahren. Wärst du schon länger hier, hättest du bestimmt davon gehört. Die Zeitungen berichten über nichts anderes mehr.«

Und nicht nur die. Auf der Arbeit war der Serienmörder das Gesprächsthema überhaupt. Vom obersten Chef bis hin zum Hausmeister hatte jeder seine eigene Theorie. Nur in einem waren sich alle einig: Die »Hilfe«, die das LKA ihren Ermittlern nach dem neuesten Vorfall angeboten hatte, konnten diese elitären Speichellecker sich sonst wohin stecken.

»Habt ihr denn gar keine Idee, wer der Täter sein könnte?«, fragte Konstantin, als hätte er seinen Gedankengang mitverfolgt.

Alex schüttelte den Kopf. Dann fiel ihm ein, dass das tatsächlich eine Info war, die er nicht so einfach rausgeben durfte. »Nicht direkt«, schob er rasch hinterher. »Der Typ ist clever: Wartet immer ein paar Wochen ab, bis der Trubel abgeebbt ist und schlägt dann wieder zu.«

»Hm. Habt ihr mal versucht, den Mörder über die Datingplattform zurückzuverfolgen?«

Alex lächelte müde. »Nein, Sherlock. Auf die Idee sind wir noch gar nicht gekommen. Der Täter hat sich natürlich über einen öffentlichen WLAN-Hotspot eingeloggt.«

Sofort bereute er seinen spöttischen Tonfall. Er durfte nicht vergessen, dass er hier nicht mit seiner Partnerin saß, sondern mit einem neuen Bekannten, der nur an einem netten Plausch zum Kennenlernen interessiert war. Doch Konstantin schien die Tatsache, dass sein Vorschlag abgeschmettert worden war, nicht weiter zu stören.

»Vielleicht bin ich ja ein Meisterdetektiv«, raunte er und beugte sich mit geheimnisvoller Miene vor. »Dich habe ich nämlich schon längst durchschaut.«

Alex erstarrte. Furcht zog durch seine Eingeweide und in seinen Ohren rauschte es, als würde jemand Muscheln dagegen pressen. Von Konstantins nächstem Satz bekam er nur das Ende mit.

»… gar kein Bier.«

»Wie bitte?«

»Ich sagte, du magst gar kein Bier.«

Bier? Mehrere Sekunden verstrichen, bis er kapiert hatte, dass alles in Ordnung war. Er lockerte den verkrampften Kiefer, während er sich über seine heftige Reaktion ärgerte. Sie hatten gerade mal ein paar Sätze miteinander gewechselt. Was sollte der andere da schon groß über ihn herausgefunden haben? Nun, ein Geheimnis hatte er immerhin gelüftet – auch wenn es ein vergleichsweise harmloses war.

 

»Woher weißt du, dass ich kein Bier mag?«

Sein Nachbar grinste überlegen. »Hinweis Nummer eins«, sagte er und hob den rechten Zeigefinger. »Als wir uns kennengelernt haben, hattest du einen Weinfleck auf dem T-Shirt.«

»Okay, aber das …«

»Hinweis Nummer zwei«, unterbrach sein Nachbar ihn munter. Er schien Spaß an seiner Detektivrolle gefunden zu haben. Wie schön für ihn, dachte Alex verdrossen.

»Du hast vorhin ewig gebraucht, um einen Flaschenöffner zu finden. Daraus schließe ich, dass du ihn selten benutzt.«

Konstantin reckte den dritten Finger in die Höhe. »Hinweis Nummer drei: Deine Flasche ist noch fast voll, während meine schon wieder leer ist.« Damit schnappte er sich Alex’ Bier vom Couchtisch. »Ich schätze, du hast nichts dagegen, wenn ich das hier austrinke?«

Alex schüttelte den Kopf. Wie viele Flaschen Vorsprung Konstantin wohl schon hatte? Auf jeden Fall schien ihn der Alkohol lockerer zu machen. Da haben wir ja was gemeinsam.

Er erhob sich vom Sofa. Nun, da die Katze aus dem Sack war und Konstantin sich freundlicherweise seines Bieres angenommen hatte, konnte er sich selbst ja noch ein Glas Wein genehmigen.

Auf dem Weg in die Küche drückte er ein paar Knöpfe an der Stereoanlage, bis Tori Amos’ gefühlvolle Stimme aus den Lautsprechern drang. In seinem Rücken begann Konstantin die Melodie mitzusummen, die er offensichtlich gerade zum ersten Mal hörte.

Alex lächelte. Sah so aus, als würde es ein unterhaltsamer Abend werden.

Joe-Black-Killer

Mehrere Jahre zuvor

Linda Müller war die Königin des Gymnasiums. Während die meisten Mädchen in ihrem Alter mit Pickeln zu kämpfen hatten, war Lindas Haut so makellos wie die einer Puppe. Ihre ebenmäßige Blässe wurde nur von ein paar zarten Sommersprossen auf der Nasenspitze durchbrochen, die sie unschuldiger wirken ließen, als sie tatsächlich war. Und wenn die Sonne auf ihr langes rotes Haar fiel, war es, als liefen flammende Kaskaden ihren Rücken hinunter.

Ja, sie sah aus wie eine Königin und genau wie eine solche verstand sie es, die Jungs in der Schule herumzukommandieren. Sie kauften ihr, was immer sie wollte, und stimmten jedem Wort zu, das ihren Mund verließ. Es war armselig, wie weit manche seiner Mitschüler bereit waren zu gehen, nur um Linda ihre Freundin nennen zu dürfen. Er verachtete sie und gleichzeitig war er einer von ihnen, mit dem einzigen Unterschied, dass ihn nicht Lindas Schönheit reizte, sondern ihre Macht.

Viele Tage vergingen, ehe er sich endlich dazu durchgerungen hatte, Linda auf ein Date einzuladen. Was sie von ihm hielt, war ihm egal, aber er machte sich Sorgen darum, was eine Zurückweisung für sein Image bedeuten könnte. In diesem Schuljahr hatte er die Offensive gestartet und sich mithilfe von knallhartem Training und diversen Shopping-Ausflügen einen neuen Look zugelegt. So war es ihm gelungen, ein paar Sprossen auf der sozialen Leiter nach oben zu klettern. Auf keinen Fall wollte er jetzt abstürzen und wieder von vorne anfangen. Andererseits würde ein Date mit Linda ihn sofort an die Spitze der Schulhierarchie katapultieren und alles, was er dafür tun musste, war, sich ein paar Stunden lang ihr hohles Geschnatter anzuhören.

Er fand Linda im Schatten einer Eiche vor, wo sie umringt von ein paar Hofdamen ihre Schulsachen ausgebreitet hatte – keine ideale Situation, aber darauf, sie alleine anzutreffen, brauchte er gar nicht erst zu hoffen. Außerdem war er sich sicher, dass es nicht lange dauern würde, bis sie den Inhalt ihres Gesprächs auf dem ganzen Schulhof herumerzählt hatte. Er setzte ein Lächeln auf, sorgsam darauf bedacht, nur die obere Zahnreihe zu zeigen – die mit den geraden Zähnen.

»Hi, Linda.«

Obwohl er direkt vor ihr stand, hatte sie noch nicht zu ihm aufgesehen. Nun tat sie es, langsam und mit gerunzelter Stirn. In dem Moment, als sich ihre Blicke trafen, wusste er, dass sein Vorhaben zum Scheitern verurteilt war. Aber es war zu spät. Die ungeteilte Aufmerksamkeit der Clique lag bereits auf ihm. Hastig ging er im Kopf alternative Gesprächsthemen durch. Worüber redeten Mädchen denn so? Ihm wollte partout nichts einfallen.

Schließlich blieben seine umherschweifenden Augen an Lindas Ordner hängen. Auf der aufgeklappten Pappseite klebte ein Foto von einem gutaussehenden Mann mit zurückgegelten Haaren. Ein Sänger oder Schauspieler vielleicht.

»Wer ist das?«

Linda warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Das ist Leonardo DiCaprio. Kennst du den etwa nicht?«

Er schüttelte den Kopf. Neugierig musterte er die kleinen Filzstiftherzchen, die das Foto umrahmten. Also hatte selbst Linda jemanden, für den sie schwärmte. Interessant.

»Was gefällt dir an ihm?«

»Leo ist halt cool und megaheiß. Wieso fragst du? Bist du schwul oder was?«

Die Mädchen um sie herum gackerten los. Innerlich verdrehte er die Augen. Eine ernsthafte Antwort war wohl zu viel verlangt gewesen. Dämliche Hühner.

Nachdenklich fixierte er das verzierte Bildchen. Der Mann darauf hatte ein attraktives Äußeres, keine Frage. Aber damit war er in Hollywood nicht alleine. Was war an ihm so besonders, dass Linda sein Foto bei sich tragen wollte? Vermutlich wusste sie es selbst nicht mal. Aber er würde den Grund auch ohne ihre Hilfe herausfinden.

Nach der Schule führte ihn sein erster Weg zum Elektronikfachmarkt in der Innenstadt. Eine gelangweilte Verkäuferin schaute beim Bimmeln der Türglocke von ihrer Zeitschrift auf.

»Kann ich dir helfen?«

»Ich will alles von und mit Leonardo DiCaprio.«

Drei Wochen später fing Linda ihn auf dem Pausenhof ab, als er mit ein paar Freunden auf dem Weg zur Bushaltestelle war. Das Top, das sie trug, war gerade kurz genug, um das silberne Steinchen in ihrem Bauchnabel unter dem Saum aufblitzen zu lassen.

Linda ignorierte die gaffenden Blicke der anderen und schenkte ihm ein Lächeln. »Wie wär’s dieses Wochenende mit Kino? Am Donnerstag ist eine romantische Komödie angelaufen. Die will ich unbedingt sehen.«

Beiläufig wickelte sie eine seidige Strähne um ihren Finger. Die Geste sollte wohl verführerisch wirken, aber nachdem er so viel Zeit damit verbracht hatte, einem Meister bei der Arbeit zuzusehen, kam sie ihm furchtbar plump vor. Zum ersten Mal dachte er, dass er Linda ebenbürtig war, vielleicht sogar überlegen. Er musste nur noch tiefer in die Rolle abtauchen, die er seit drei Wochen spielte. Was würde Leonardo tun? Er strich sich das Haar aus der Stirn.

»Klar hab ich Lust auf Kino. Aber eine Liebesschnulze? Das klingt irgendwie lahm.«

Seine Freunde, deren Gespräche verstummt waren, als Linda an sie herangetreten war, sogen hörbar die Luft ein. Vermutlich grenzte es für sie an Blasphemie, ihr zu widersprechen.

Linda schien selbst nicht so recht zu wissen, wie sie mit der neuen Situation umgehen sollte.

»Du bist lahm!«, war das Einzige, das ihr einfiel. »Hol mich einfach um 19 Uhr ab. Dann entscheiden wir spontan, was wir gucken.«

Damit wollte sie in gewohnt divenhafter Manier abrauschen, aber er dachte gar nicht daran, sie so einfach davonkommen zu lassen.

»Nein«, sagte er gedehnt und schaffte es, seiner Stimme einen gelangweilten Unterton zu verleihen. »Ich wohne näher am Kino, also macht es mehr Sinn, wenn du mich abholst.«

Er steckte die Hände in die Hosentaschen. Nach außen hin wirkte die Geste lässig, doch in Wahrheit diente sie nur dazu, das Zittern seiner Finger zu verbergen. Hoffentlich war er mit dem letzten Satz nicht zu weit gegangen.

Linda klappte den Mund auf und wirkte dabei alles andere als sexy.

»Na schön, wie auch immer«, gab sie zurück. Es klang verwirrt. Einen Moment lang verharrte sie auf der Stelle, als wartete sie darauf, dass er noch etwas hinzufügte. Als das nicht geschah, drehte sie sich um und stolzierte davon. Der Schwung, der normalerweise ihre Schritte begleitete, hatte deutlich an Dynamik eingebüßt.

Innerlich triumphierend drehte er sich zu den anderen um, die seinen Blick beinahe ehrfürchtig erwiderten.

»Wow Mann, das war eiskalt«, sprach Sven schließlich das aus, was sie hoffentlich alle dachten.

Statt einer Antwort kräuselte er die Lippen zu einem blasierten Lächeln – Leonardos Lächeln. Es hatte viele Stunden vor dem Spiegel gebraucht, bis er den Ausdruck von arrogantem Amüsement perfektioniert hatte. Aber es war ihm gelungen und es hatte sich gelohnt. Er war der König der Welt.

Celine

Samstag, 25. August

Celine ließ das Fernglas sinken und massierte sich den Nacken. Gut elf Stunden befand sie sich schon in dieser gekrümmten Haltung. Ihre Muskeln hatten sich schmerzhaft verkrampft und die Kleidung klebte ihr, klamm vom Schweiß und der Feuchtigkeit des Waldbodens, auf der Haut. Was soll’s. Es gibt Schlimmeres.

Ein echtes Problem war jedoch die Sonne, die langsam aber stetig tiefer sank. Bald würde der Wald sich von einem idyllischen Ort in den Schauplatz eines Schauermärchens verwandeln. Eines von denen, in dem die Heldin von einem Monster gefressen wird. Oder elendig verhungert, weil sie im Dunkeln über eine Wurzel gestolpert ist und sich die Beine gebrochen hat.

Celine wandte den Blick vom Horizont ab. Sie konnte jetzt noch nicht nach Hause fahren, so ganz ohne Beute. Die Speicherkarte auf ihrer Kamera war leer, abgesehen von ein paar Nahaufnahmen von Moosflechten, die im Sonnenlicht in den unterschiedlichsten Grüntönen geleuchtet hatten. Dass ihr das Farbspiel überhaupt aufgefallen war, bewies, wie langweilig der Nachmittag verlaufen war.

Mit steifen Bewegungen fischte Celine die Thermoskanne mit dem Pfefferminztee aus ihrem Rucksack. Einhändig schraubte sie den Verschluss auf und wollte gerade einen großen Schluck nehmen, als ein Rascheln in ihrem Rücken sie zusammenzucken ließ. Die Flasche rutschte von ihrem Mund ab und ergoss sich in einem dampfenden Schwall über ihrem Pullover. Celine unterdrückte einen Aufschrei und fuhr herum.

Der Platz hinter ihr war leer. Einen Moment lang war nur das weit entfernte Hämmern eines Spechts zu hören. Dann wieder ein Rascheln. Das war aus dem schattigen Abschnitt zu ihrer Linken gekommen!

Celines Herz hämmerte gegen ihre Brust. Erst gestern hatte sie gelesen, dass Wölfe im Landkreis gesichtet worden waren. Was, wenn sich einer bis nach Heidelberg verirrt hatte? Schnell kramte sie den dicken Naturführer hervor, den sie bei ihren Ausflügen immer dabeihatte – für den Fall, dass sie einmal in Erklärungsnot geriet. Den würde der Wolf voll vor den Schädel kriegen, wenn er versuchen sollte, sie anzugreifen. Dann war das Teil endlich mal zu was gut.

Das Rascheln wurde lauter. Celine richtete sich zu ihrer vollen, zugegebenermaßen nicht sonderlich beeindruckenden, Größe auf und hob das Buch über den Kopf. Da teilten sich die Zweige und ein Eichhörnchen flitzte aus dem Gebüsch. Wenige Meter vor ihrem Lager hielt es inne und reckte die Pfötchen zum Maul. Sein buschiger Schwanz zuckte hektisch von einer Seite zur anderen.

Celine stieß die Luft aus und ließ die Arme sinken. Sie kam sich vor wie in einem schlechten Horrorfilm, in dem sich das vermeintliche Monster als Katze mit Faible für dramatische Auftritte entpuppte. Gut, dass keiner mitbekommen hatte, wie sie sich hier fast wegen eines Nagetiers eingenässt hätte. Dämliches Vieh. Obwohl sie zugeben musste, dass der kleine Kerl mit seinen großen Ohren und dem fluffigen roten Fell echt niedlich aussah.

Behutsam tastete sie nach ihrer Kamera und richtete das Objektiv auf das Eichhörnchen. Es gelang ihr, eine kurze Fotoreihe zu schießen, bevor das Tier am Stamm einer Fichte hochschoss und in den Ästen des Baums verschwand.

Flüchtig klickte sie sich durch die Aufnahmen. Ein paar davon waren ganz gut geworden. Die würde sie heute Abend ihrer Cousine schicken. Auf den letzten Tierschnappschuss hatte diese mit einer Welle an Smileys und Herzchen reagiert. Bei so viel Enthusiasmus sollte man meinen, Celine wäre es gelungen, ein Einhorn statt eines Rehs einzufangen.

Apropos Reaktion. Celine zog ihr Handy aus der Hosentasche. Mit dem Daumen wischte sie über das Display und aktualisierte ihr YouTube-Profil. »1210 Likes, 37 Dislikes, 15 Kommentare«, informierte sie die Zeile unter ihrem letzten Video, an dem sie bis heute Morgen um drei gesessen hatte. Nicht schlecht.

 

Celine überflog die Kommentare und freute sich, einige bekannte Namen zu lesen.

»Du bist die Queen! :)«, schrieb marifly.

Direkt darunter kommentierte KommissarGreyFan_22: »Deine Videos versüßen mir den Tag.«

Die wenigen negativen Kommentare richteten sich nicht gegen ihre Arbeit, sondern kritisierten vielmehr das Thema des Videos. Während sie las, wurde ihr Griff um die Handyhülle immer fester. Celine zwang sich, lockerzulassen. Don’t feed the trolls. Natürlich wusste sie, dass es das Beste war, Hater zu ignorieren. Aber es war schwer, wenn sich ihr Hass gegen ihn richtete. Die sind nur neidisch.

Celine steckte das Smartphone weg und wandte sich wieder dem eigentlichen Star ihres Fotoshootings zu: dem modern gestalteten Haus, von dem sie nur das Dickicht am Waldrand, ein löchriger Zaun und eine etwa 40 Meter lange Grundstücksfläche trennten. Der Zwischenfall mit dem Eichhörnchen musste sie stärker abgelenkt haben als gedacht, denn sie hatte gar nicht mitbekommen, wie Licht im Wohnzimmer angegangen war.

Ihr Herz tat einen aufgeregten Hüpfer, als sie an der Terrassentür die Silhouette eines Mannes erkannte. Eilig griff sie nach der Kamera und zoomte näher an die Szene heran. Das Bild verschwamm, dann fand es seinen Fokus in einem Paar Augen, unverkennbar in ihrem leuchtenden Hellbraun. Und direkt auf sie gerichtet.

Celine rutschte der Apparat aus der Hand. Das Band um ihren Hals spannte sich unter dem Gewicht und die Kamera klatschte hart gegen ihre Brust.

Wie ein Tier, das sich tot stellte, verharrte Celine in ihrer Position. Einige Minuten verstrichen, ohne dass der Schatten hinter der Scheibe sich rührte. Wenn er wirklich was gesehen hätte, würde er nicht so ruhig bleiben, oder?

Der rationale Part ihres Gehirns mahnte zur Vorsicht, doch der andere, weitaus stärkere Teil flüsterte ihr zu, dass sie schnell handeln musste, bevor sie die seltene Gelegenheit für ein paar Frontalaufnahmen verpasste. Am Ende siegte wie immer die Unvernunft.

Mariana

Mariana stieß sich vom Beckenrand ab und begann zu kraulen. Immer schneller wurde sie, bis der Puls hart gegen ihren Hals trommelte. Erst nachdem sie die zehnte Runde geschafft hatte, hielt sie sich an der Treppe fest, um zu verschnaufen. Sie blickte hinunter auf das Wasser, das gegen ihre Arme schwappte und folgte, ohne an etwas Bestimmtes zu denken, dem hypnotischen Auf und Ab der Wellen. Ich muss die Flammen löschen.

Mariana zuckte zusammen. Der Gedanke war, begleitet von dem Bild einer brennenden Krone, unvermittelt in ihrem Kopf aufgetaucht. Für einen Moment hatte sie die Flammen so deutlich vor sich gesehen wie die eigene Hand am Treppengeländer. Ihr Puls, der gerade erst zur Ruhe gekommen war, nahm erneut Fahrt auf und ließ sie nach Luft schnappen. Obwohl sich ihr Kopf ein gutes Stück über der Wasseroberfläche befand, glaubte sie zu spüren, wie die Wellen über ihr zusammenschlugen und ihr Körper in die Tiefe gezogen wurde.

»Mariana, nimm meine Hand!«

Die Stimme hatte nach Lukas geklungen. Doch das Gesicht, welches sie mit der Erinnerung verband, war nicht glatt und ebenmäßig, sondern beulig wie geschmolzenes Wachs. Erinnerung? Wohl eher ein Hirngespinst! Resolut verscheuchte sie die wirren Gedanken und verließ den Pool über die Treppe. Am Beckenrand trocknete sie sich flüchtig ab, bevor sie in den bereitliegenden Bademantel schlüpfte.

Barfuß tapste sie die Stufen hoch. Während ihrer Schwimmeinheit war draußen die Nacht hereingebrochen. Im Erdgeschoss war es still und gespenstisch dunkel, mit Ausnahme eines gedämpften Lichts, das aus dem Wohnzimmer drang. Dort musste Lukas sich aufhalten.

Mariana trat über die Schwelle und entdeckte ihren Freund an der Terrassentür. Er blickte nach draußen in den dunklen Garten und wirkte vollkommen in sich gekehrt. Entschlossen, die kurze Episode im Schwimmbad so schnell wie möglich hinter sich zu lassen, ging sie zu ihm und schlang die Arme um seinen Bauch. In Situationen wie diesen sah man deutlich, dass sie einen halben Kopf größer war als er. Ihm schien das nur allzu bewusst zu sein, denn er wand sich unwohl in ihrem Griff, bis sie ihn losließ. Männer und ihr Stolz. Mariana schluckte ihre Irritation herunter.

»Was gibt es da draußen denn zu sehen?«

»Nichts. Ich hab nur ein bisschen nachgedacht.«

Erst schien er es dabei belassen zu wollen, aber dann fuhr er doch fort. »Meine Zukunft als Schauspieler macht mir Sorgen. Ich bin jetzt 33. Wenn ich karrieretechnisch noch was reißen will, muss das bald passieren. Deshalb hab ich meinen Manager gebeten, die Fühler Richtung Hollywood auszustrecken.«

Karriere? Hollywood? Mariana hatte nicht gewusst, dass Lukas’ Ambitionen so weit gingen. Sie war immer davon ausgegangen, dass er – wie sie – zufrieden mit seinem Status als B-Promi war. Immerhin hatte dieser den Vorteil, dass sie sich auch mal in der Öffentlichkeit zeigen konnten, ohne gleich von Fans bestürmt zu werden. Aber wenn ihr Freund davon träumte, ein internationaler Star zu werden, wollte sie ihm dabei nicht im Wege stehen. Also zwang sie sich ein Lächeln aufs Gesicht und hoffte, dass Lukas, mit seiner Antenne für schlechte Schauspielerei, es ihr abkaufte.

»Klingt spannend. Habt ihr schon konkrete Projekte in Aussicht?«

»Ja, aber ich will lieber erst darüber sprechen, wenn ich wirklich weiß, dass es klappt.«

Okay? Mariana war sich nicht sicher, ob er von ihr erwartete, dass sie trotzdem nachhakte. Sie entschied sich dagegen.

Eine Weile standen sie vor der Glasfront, ohne etwas zu sagen. Es war kein unangenehmes Schweigen und sie war froh, dass Lukas nicht zu den Menschen gehörte, die meinten, jeden stillen Moment mit irgendwelchem Geschwätz füllen zu müssen. So langsam begannen allerdings ihre Füße zu frieren.

Mariana wollte sich gerade zum Sofa umdrehen, als sie aus den Augenwinkeln ein kurzes Aufblitzen in der Dunkelheit bemerkte.

»Hast du das gesehen?«

»Nein, was denn?«

»Da draußen hat etwas geleuchtet.«

Lukas zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich gibt es Gewitter.«

Wie ein Blitz hatte der Lichtschein eigentlich nicht gewirkt. Andererseits war sie sich nicht einmal sicher, überhaupt etwas gesehen zu haben. Vielleicht war es nur ihre eigene Reflexion in der Scheibe gewesen. Als sie erneut mit den Augen den Waldrand absuchte, erinnerte sie sich an etwas, das sie schon vor Wochen hatte ansprechen wollen.

»Weißt du, dass der Zaun an der Waldseite ein paar ziemlich große Löcher hat?«

»Nein«, erwiderte Lukas, ohne dabei sonderlich besorgt zu klingen. »Ich kann ja Montag mal den Handwerker anrufen, damit er sich das anschaut.«

»Das wäre toll. Danke.«

Mariana wandte sich endgültig ab und steuerte die Couch an. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie plötzlich von hinten gepackt und hochgehoben wurde. Sie lachte auf und wehrte sich halbherzig, als Lukas sie längs über seine Schulter legte. Nach ein paar Schritten ließ er sie vorsichtig auf dem Sofa runter und kniete sich über sie.

Sein Gesicht schwebte dicht über ihr – so dicht, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. Nach und nach wich der Schalk aus seinen Augen und wurde durch einen weniger kindlichen Ausdruck ersetzt. Behutsam legte er seine Lippen auf ihre und verwickelte sie in einen langen zärtlichen Kuss. Mariana schloss die Augen und genoss die Liebkosungen. Schon bald war ihr überhaupt nicht mehr kalt. Doch bevor sie ihre Hände auf Wanderschaft schicken konnte, löste er sich wieder von ihr.

Sie hob die Lider und begegnete seinem Blick. Lukas’ helle Augen studierten sie aufmerksam und schienen dabei jede Pore einzeln zu registrieren. Mariana liebte es, wenn er sie so ansah: als wollte er direkt in sie hineintauchen und alle Geheimnisse aus ihr herausziehen. Gleichzeitig hätte sie am liebsten das Gesicht abgewandt, um der Intensität seines Blickes zu entgehen.