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Bevor das Gefühl in Unwohlsein umschlug, beendete Lukas seine Musterung und lächelte sie an.

»Ich liebe dich.«

»Ich dich auch.«

Mariana hatte diese Worte schon oft ausgesprochen, pflichtschuldig und ohne es jemals wirklich so zu meinen. Nur bei Lukas war das anders. Warum, wusste sie selbst nicht so genau. Natürlich war er reich und gut aussehend, aber sie war schon mit reicheren und besser aussehenden Männern zusammen gewesen. Trotzdem hatte sie nie das Bedürfnis verspürt, bei ihnen zu bleiben. Vielleicht war es die Tatsache, dass er sie nicht wie eine Prinzessin behandelte. Er nahm ihr nicht alles aus der Hand und widersprach ihr auch mal, wenn sie im Unrecht war. Er ging nicht den Weg des geringsten Widerstandes.

Mariana umfasste seinen Nacken und zog ihn zu einem weiteren Kuss zu sich runter. Kein Leben war perfekt, aber jetzt gerade fiel ihr nichts ein, was ihres noch besser hätte machen können.

Konstantin

Montag, 27. August

Sie hatten einen Kreis im Druckerraum gebildet und starrten auf das graue Ungetüm in ihrer Mitte. Händeringend suchte Konstantin nach Worten, während er dem erwartungsvollen Blick des Geschäftsführers auswich. Die Gesichter der Kollegen verrieten ihm, dass aus dieser Richtung keine Hilfe zu erwarten war.

»Es ist ein 3D-Drucker«, wiederholte Schmidt, offensichtlich verwirrt, weil sie noch nicht in Jubelgeschrei ausgebrochen waren. »Das allerneueste Modell!«

»Toll!«, tat Konstantin ihm den Gefallen und erntete dafür sofort böse Blicke von links und rechts. »Nur leider weiß niemand von uns, wie man damit umgeht.«

Und davon abgesehen gehörten dreidimensionale Modelle auch gar nicht zu ihrem Aufgabenbereich. Technische Zeichnungen und Werbematerial – das war es, was sie leisten konnten und wofür man sie eingestellt hatte.

»Oh.« Schmidt runzelte die Stirn. Über die fehlende Qualifikation seiner Mitarbeiter hatte er im Kaufrausch offenbar nicht nachgedacht. Doch schon im nächsten Moment hellte sich sein Gesicht wieder auf.

»Herr Krause, Sie machen eine Schulung und arbeiten die anderen dann ein.«

Konstantin lächelte gequält. »Oh, ich weiß nicht, ob wir momentan die Kapazitäten dafür haben.«

»Kein Problem, ich kenne da eine Firma, die auch Wochenendseminare anbietet.«

»Ach so … na dann …«

Neben ihm gab jemand ein Glucksen von sich. Konstantin drehte sich in die Richtung, aus der der Laut gekommen war. Frau Reislinger – nein Celine – erwiderte seinen Blick mit einem schadenfrohen Grinsen. Er hatte heute allen Mitarbeitern in der Abteilung das Du angeboten, in der Hoffnung, dass sich dadurch die Arbeitsatmosphäre ein wenig auflockern würde. Viel geholfen hatte es bisher noch nicht.

Er überlegte gerade, ob er vorschlagen sollte, seine Kollegen zu dem Seminar mitzunehmen, um das Ganze als Team-Building-Exercise zu nutzen, als Schmidts Handy klingelte. Ihr Chef nahm das Gespräch nach einem kurzen Blick aufs Display entgegen und klopfte Konstantin beim Hinausgehen auf die Schulter. Dann eben nicht. War wahrscheinlich auch besser so.

Langsam trottete die Gruppe in Richtung Büroräume zurück. Konstantin drehte noch eine Runde um das neue Gerät – inte­ressant sah es ja schon aus – bevor er zügig zu den anderen aufschloss. Celine ging ganz hinten. Er fiel in Gleichschritt mit ihr und machte sie mit einem Räuspern auf sich aufmerksam.

»Gute Arbeit mit dem Logo für den Kaffeeautomaten.«

»Danke«, erwiderte sie, ohne ihn anzusehen. Konstantin zögerte. Sie wirkte nicht so, als wäre sie an einem Gespräch interessiert. Dabei war sie am Freitag als Einzige so nett gewesen, ihn über Bettinas Situation aufzuklären. Oder hatte er zu viel in ihren kurzen Austausch hineininterpretiert? Vielleicht hatte sie auch Hemmungen, weil er ihr Vorgesetzter war.

»Gehst du heute Mittag in die Kantine?«, wagte er einen vorsichtigen Vorstoß.

Celine ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. »Wahrscheinlich.«

Kam es ihm nur so vor oder wurde sie auf einmal schneller? Unsinn! Das bildest du dir ein.

»Ich auch. Vielleicht können wir ja zusammen gehen?«

Dieses Mal hielt ihr Schweigen noch länger an.

»Okay.«

»Super.«

Damit waren Konstantins Gesprächsthemen erschöpft und der Weg zum Büro noch ziemlich lang. Es war doch nicht zu fassen, wie schlecht er im Small Talk war! Nach Feierabend würde er sich gleich hinsetzen und ein paar Sätze für solche Situationen aufschreiben. Aber dieser Vorsatz rettete ihn jetzt auch nicht über das peinliche Schweigen hinweg. Sein Blick blieb an den gekippten Fenstern hängen. Es regnete.

»Das Wetter …«

»Entschuldige, mir ist eben eingefallen, dass ich was vergessen habe. Geh ruhig schon mal vor.«

Ehe er sich versah, hatte Celine sich umgedreht und war in die Richtung davonmarschiert, aus der sie gerade gekommen waren. Beinahe sah es so aus, als würde sie vor ihm fliehen. Oder war das bloß sein mangelndes Selbstbewusstsein, das ihn die Dinge verzerrt wahrnehmen ließ wie durch eine schlierige graue Brille?

Er seufzte schwer. Vor ihm drehte sich ein untersetzter Mann um, dessen Namen er sich noch nicht gemerkt hatte, und warf ihm einen fragenden Blick zu. Hastig senkte Konstantin den Kopf und lenkte sich damit ab, die restlichen Schritte bis zu ihrem Büro zu zählen.

An seinem Platz erwartete ihn schon Schmidts E-Mail mit dem Link zur Bildungsanstalt. Ein kurzer Besuch auf der Website bestätigte ihm zu seinem Leidwesen, dass am Wochenende tatsächlich ein passendes Seminar angeboten wurde. Konstantin markierte die Nachricht mit einem Fähnchen und schob sie in seinen To-do-Ordner. Hätte es sich um einen echten Papierordner gehandelt, würde er langsam überquellen.

Bis zur Mittagspause war er mit dem Abarbeiten von E-Mails beschäftigt. In seinem alten Job, in dem er noch ein normaler Angestellter ganz unten in der Hierarchie gewesen war, hatte er nie so viele E-Mails bekommen. Nun wollten plötzlich alle sein Einverständnis zu irgendwelchen Entscheidungen haben, deren Konsequenzen er nicht mal ansatzweise begriff.

Gerd, der als Dienstältester der Abteilung für seine Einarbeitung zuständig gewesen war, hatte die wichtigsten Projekte nur einmal kurz angerissen und ihn dann mit einem großen Fragezeichen und ein paar nutzlosen Notizfragmenten zurückgelassen. Vielleicht konnte er Celine nachher unauffällig ein paar Infos entlocken.

Um Punkt zwölf schlenderte er zu ihrem Schreibtisch hinüber. Sie schaute kurz auf und fuhr dann damit fort, auf ihre Tastatur einzuhämmern. Konstantin wandte sich bedröppelt ab und tat so, als würde er sich für die Fachbücher interessieren, die in dem Regal neben ihrem Schreibtisch standen. Um fünf nach zwölf verstummte das Geklapper und Celine griff nach ihrer Handtasche.

»Wollen wir dann?«

In der Kantine herrschte die übliche Kakophonie aus sich überlagernden Stimmen und Geschirrgeklapper. Konstantin studierte das Menü auf der Suche nach einem laktosefreien Angebot und hatte sich schon bald hoffnungslos im Wald aus Sternchen und Fußnoten verirrt. E 123, E 575, E 954 … Ein paar davon hatten die sich doch bestimmt bloß ausgedacht!

Vor ihm beugte Celine sich zu der Angestellten an der Ausgabe. »Einen Caesar Salad, bitte.«

Die verhärmt wirkende Frau händigte ihr das Gewünschte mit einem Millimeter-Lächeln im Gesicht aus. »Und für Sie?«

»Äh«, zögerte Konstantin. »Ist in dem Dressing Milchzucker drin?«

Die Mundwinkel der Frau sackten herab.

Er schluckte. »Ach, egal. Eine kleine Menge wird mich schon nicht umbringen.«

Er nahm den Teller entgegen und beeilte sich, Celine zu folgen, die bereits zur Kasse vorgegangen war.

Celine

Das hatte sie nun davon. Warum hatte sie nicht einfach ihre Klappe halten können? Celine stopfte sich ein tropfendes Salatblatt in den Mund und sah missmutig zu Krause – pardon, Konstantin – hinüber, der seinen eigenen Salat sorgfältig mit Messer und Gabel in bissgerechte Stücke zerteilte.

Wie hatte dieser Milchbubi es nur geschafft, Gerd den Posten des Abteilungsleiters abzujagen? Wobei, wenn sie genau drüber nachdachte, konnte sie sich schon vorstellen, wie das Ganze zustande gekommen war. Die Begegnung mit Schmidt am Morgen hatte ja gezeigt, wie fügsam Konstantin vor dem Chef kuschte. Bestimmt hatte er im Vorstellungsgespräch mit großen staunenden Augen dessen üblichen Angebereien gelauscht, für die jeder gescheite Mensch nur ein Augenrollen übrighatte.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, hielt Konstantin in seinem Geschnippel inne.

»Sag mal, hast du dich eigentlich auch für meine Stelle beworben? Qualifiziert genug wärst du ja.«

Damit überraschte er sie, einerseits, weil sein Lob ernst gemeint klang, und andererseits, weil es ihr nicht mal im Traum eingefallen wäre, ihren eigenen Hut in den Ring zu werfen.

»Nein, ich tauge nichts als Abteilungsleiterin«, antwortete sie nach kurzem Zögern. Es war die Wahrheit, wenn auch nicht der wahre Grund.

Konstantins Blick senkte sich wieder auf seinen Teller. Es war klar, welche Frage ihm gerade durch den Kopf schoss: Tauge ich denn was? So wie Celine ihn bisher kennengelernt hatte, eher nicht, aber sie verkniff sich einen entsprechenden Kommentar. Schließlich war er immer noch ihr Chef. Außerdem hatte er etwas an sich, das es ihr schwer machte, so schonungslos ehrlich zu ihm zu sein wie zu anderen.

Aus ihrer Tasche ertönte ein Vibrieren. Automatisch bückte sie sich nach dem Handy und wischte über den Bildschirm. Ein neuer Beitrag auf der offiziellen Facebook-Seite von Kommissar Grey poppte auf. Gab es endlich einen Starttermin für die neue Staffel? Celine tippte auf die Benachrichtigung. Während sie darauf wartete, dass die App lud, fing sie den Blick ihres Chefs auf. Oh, richtig. Das fand er jetzt wohl unhöflich. Einen Moment lang rang sie mit sich, bevor sie das Handy widerstrebend beiseitelegte.

 

Zur Belohnung wurde sie in ein Gespräch über die Arbeit verwickelt. Sie war gerade dabei, Konstantin die lange, traurige Geschichte von der gescheiterten Umstellung auf digitale Stempelkarten zu erzählen, als sein Fokus sich auf einen Punkt zu ihrer Rechten verlagerte.

»Oh, was ist das denn?«

Celine sah neben sich auf ihr Handy, auf dem die Seite von Kommissar Grey nun vollständig geladen war. Eine Aufnahme von Lukas mit gezogener Pistole füllte beinahe das gesamte Display aus. Hastig ließ sie das Handy wieder in ihrer Tasche verschwinden.

»Ach, das ist nur von so einer Krimiserie, die ich schaue.«

Zu Celines Verblüffung leuchteten Konstantins Augen auf.

»Wirklich? Um was geht es denn da? Ich liebe Krimis!«

Auch das noch. Jetzt dachte er womöglich, dass sie ähnliche Interessen hatten.

»Die Serie heißt Kommissar Grey. Es geht um einen Polizisten, dem für die Aufklärung seiner Fälle alle Mittel recht sind. Der Name spielt auf die legalen Grauzonen an, in denen er sich bewegt.«

Obwohl sie sich die allergrößte Mühe gegeben hatte, den Inhalt so langweilig und klischeehaft wie möglich darzustellen, schien Konstantin immer noch Feuer und Flamme zu sein.

»Klingt super! Vielleicht können wir ja mal zusammen eine Folge gucken.«

Wäre dieser Satz von einem anderen Kollegen gekommen, hätte sie ihn als Anmache gewertet. Aber Konstantin war so offensichtlich harmlos, dass sie sich keine Sorgen darum machte, dass er seine Machtposition ausnutzen könnte. Trotzdem zerrte die Art, wie er versuchte, sich in ihr Privatleben zu drängen, allmählich an ihrer Geduld.

»Ja, mal sehen«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Dann lenkte sie das Gespräch schnell wieder auf die Arbeit zurück.

Kraftlos ließ sie sich nach der Pause in ihren Schreibtischstuhl fallen. Sie fühlte sich kein Stück erholt. Während des restlichen Mittagessens hatte Konstantin sie auffällig unauffällig über alle möglichen Projekte ausgequetscht, bei denen ihm offensichtlich der Durchblick fehlte. Was für eine Zeitverschwendung. Sie stockte und warf ihrem Chef einen abwägenden Seitenblick zu. Oder?

Langsam kam sie wieder auf die Beine und pirschte sich an seinen Schreibtisch heran.

»Hey!«

Konstantin fuhr zusammen. »Oh, hey.«

Okay, bloß nicht zu überschwänglich werden, ermahnte sie sich selbst. Sonst wittert er noch was.

»Du weißt ja, ich bin gerade ziemlich im Stress mit dem IMB-Projekt.« Sie legte eine Pause ein.

»Ja, natürlich, das IMB-Projekt«, nuschelte er, während seine Augen nach rechts wanderten. »Wie kommst du damit voran?«

»Ach, es geht. Es würde mir aber enorm helfen, wenn ich mich in einen freien Besprechungsraum zurückziehen könnte. Da wäre ich weniger abgelenkt, wenn du verstehst, was ich meine.«

Sie wies mit dem Kinn in Richtung Gerd, der am Telefon hing und irgendeinem Pechvogel einen Vortrag zum Thema Papierstärken hielt. Konstantin grinste, zögerte aber noch.

»Ich mache das oft bei wichtigen Projekten«, fügte sie hinzu. »Mein alter Chef hatte nichts dagegen.«

Jetzt hatte sie ihn. Tatsächlich nickte er einen Augenblick später.

»Gut, solange es dir beim Arbeiten hilft. Geh einfach zum IT-Büro und lass dir einen Laptop geben.«

»Klasse, danke!« In ihrer Kehle saß ein triumphierendes Kichern, das sie nur mit Mühe zurückhielt.

Erst als sie vor dem aufgeklappten Laptop saß, ließ sie ihrer Freude freien Lauf. IMB – Ich mach blau. Keine Sorge, Konstantin. In das Projekt werde ich mich voll reinhängen.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand sie durch die Glastür beobachten konnte, holte sie ihren USB-Stick aus der Tasche und steckte ihn in das Gehäuse. Ein Ordner öffnete sich. Celine wählte die Datei vom letzten Samstag aus und startete das Video.

Im Nu verblassten um sie herum Konferenztisch, Whiteboard und Yuccapalme und der triste Besprechungsraum wurde zu einem Wohnzimmer mit warmer Beleuchtung. Im hellsten Lichtkegel stand das rote Sofa, auf dem Lukas sich gerade aufrichtete und sein Hemd aufknöpfte. Geschmeidig ließ er den Stoff von den nackten Schultern gleiten und gewährte ihr einen kurzen Blick auf seine Bauchmuskeln, ehe er sich wieder an den Frauenkörper unter ihm presste.

Celine beugte sich weiter vor, bis ihre Nase fast den Bildschirm berührte. An dem Abend, als sie mit ihrer Kamera im Dickicht gesessen hatte, war sie viel zu aufgeregt gewesen, um die Szene richtig zu genießen. Doch inzwischen war sie so vertraut mit der Aufnahme, dass sie jede von Lukas’ Bewegungen und jeden sichtbaren Zentimeter seiner Haut verinnerlicht hatte.

Kurz wanderten ihre Gedanken zum eigenen YouTube-Kanal. Wenn sie dieses Video veröffentlichte, würden ihre Zuschauerzahlen explodieren, so viel stand fest. Doch der Höhenflug wäre von kurzer Dauer. Spycam-Aufnahmen von Promis wurden schneller gesperrt, als man »bingo« rufen konnte; erst recht, wenn es sich dabei um explizites Material handelte. Davon abgesehen dachte sie gar nicht daran, Fotos und Videos aus ihrer privaten Sammlung zu teilen. Diese Aufnahmen waren ihr größter Schatz, auf den niemand sonst ein Anrecht hatte.

Verärgert runzelte sie die Stirn, als die Frau im Film sich in den Vordergrund drängte. Wenn wenigstens ihr Gesicht nicht so deutlich zu erkennen gewesen wäre. Sie versuchte, es mental auszublenden, aber dafür waren die Züge des Models einfach zu markant. Scheiße.

Celine drückte auf Pause. Dann kam ihr eine Idee. Was soll’s. Ich hab ja Zeit. Sie öffnete die Datei in einem neuen Programm und zoomte näher an das Gesicht der Frau heran. Dann wählte sie einen Farbton, der dem ihrer Haut ähnelte. Mit dem Pinselwerkzeug fuhr sie über die großen braunen Augen, die gerade Nase und die dunkelroten Lippen, bis sie ein leeres Gesicht vor sich hatte, befreit von allem, was sie als Individuum erkennbar machte.

So gefällst du mir schon besser, Püppchen.

FabuLana

Samstag, 1. September

Es war einer jener Tage, die man wie durch eine Nebelwand erlebte, und an denen man schon am Abend nicht mehr sagen konnte, was man gedacht, getan oder gegessen hatte. Die meisten Menschen konnten es kaum ertragen, ihre Zeit so zu verschwenden. Sie konnten auch nicht ertragen, dass Alana es ertragen konnte. »Du verpasst das Leben«, hieß es dann immer. Früher meinten die Leute damit Hobbys, Partys und den neuesten idiotischen Trend. Inzwischen waren daraus Karriere, das Suchen und Binden des perfekten Partners und das große Babyglück geworden.

Was Alana anging, so hatte sie keine Lust, endlos Überstunden zu schieben, in der Hoffnung, dass eines Tages jemand davon Notiz nehmen würde. Sie wollte auch keinen Mann haben, dem sie ein Leben lang Treue schwören musste, selbst wenn er irgendwann einen haarigen Bierbauch bekam, den er nachts gegen ihren Rücken presste, während er ihr ins Ohr schnarchte. Und erst recht brauchte sie keine dieser nervtötenden Plärrmaschinen, die attraktive Frauen in faltige, dauermüde Spaßbremsen verwandelten, die Fahrradhelme und Hosen mit Gummizug trugen.

Von ihrem Platz am Fußende des Bettes aus gab Tessi einen zustimmenden Laut von sich. Alana beugte sich vor und strich der Katze über das seidige Köpfchen, das sie ihr mit einem behaglichen Schnurren entgegenstreckte. Als ihre beste Freundin letzten Monat aus heiterem Himmel mit dem Katzenkorb vor ihrer Tür gestanden hatte, wäre Alana fast in die Luft gegangen. Verantwortung für ein Tier zu übernehmen, war das Letzte, was sie wollte. Und es war schließlich nicht ihr Problem, dass der neue Kerl ihrer Freundin eine Katzenhaarallergie hatte. Mit dem Vorsatz, gleich am nächsten Tag ins Tierheim zu fahren, hatte sie den Korb schließlich doch entgegengenommen.

Aber dann war Tessi, kaum dass sie die Gittertür geöffnet hatte, in ihre Wohnung geschossen. Mit einem Satz war sie auf die Schuhkommode gesprungen und hatte mit der Tatze den hässlichen Porzellanengel heruntergefegt, den ihre Mutter ihr zum Einzug geschenkt hatte. Alana hatte zwischen den Scherben und der sich selbstgefällig putzenden Katze hin- und hergeschaut und gewusst, dass sie eine Seelenverwandte gefunden hatte.

Sie ruckelte das Tablet zurecht, das gegen ihre aufgestellten Beine lehnte. Es zeigte den Stream einer amerikanischen Comedyserie, die sie jedoch nur mit einem Auge verfolgte. Den Großteil ihrer Aufmerksamkeit nahm ihr Handy ein. Gekonnt schickte sie mit einer Wischbewegung ein Porträtfoto nach dem anderen über die Bildschirmkante hinaus. Zu machohaft. Zu spießig. Zu geeky. Zu fett. Zu alt. Oh. Hallo, Gast77.

Alana hielt inne und zoomte näher an das Foto heran. Es wirkte nicht so, als wäre es mit einer Handykamera aufgenommen worden. Trotz der offensichtlichen Nachbearbeitung ließ sich nicht bestreiten, dass der Mann darauf sehr gutaussehend war. Er hatte ein symmetrisches Gesicht mit eindringlichen braunen Augen, dichten Wimpern und einer geraden Nase. Fast schon zu perfekt.

Sie scrollte zu dem »Ich über mich«-Eintrag, fand jedoch nur eine leere Zeile vor. Das Ganze roch stark nach einem Fake-Profil. Aber was sollte ihm das bringen? Spätestens wenn sie sich gegenüberstanden, würde der Schwindel auffliegen.

Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende geführt, erschien ein grüner Kreis neben dem Foto von Gast77. Es hätte wie eine Fügung des Schicksals gewirkt, wenn Alana an so etwas Lahmes wie Schicksal geglaubt hätte. Kurz schwebte ihr Finger über dem Chatsymbol. Dann klickte sie darauf. Was hatte sie schon zu verlieren?

FabuLana: »Hi, wie geht’s?«

Die Antwort kam binnen weniger Sekunden.

Gast77: »Gut und selbst?«

FabuLana: »Gut. Wonach suchst du hier?«

Dieses Mal ließ der andere sich mehr Zeit. Vielleicht war ihm die Frage zu direkt gewesen. Aber Alana legte großen Wert da­rauf, von Anfang an mit offenen Karten zu spielen. Sie war nun mal nicht auf der Suche nach der großen Liebe. Man sollte meinen, Leute, die sich auf einer Seite mit dem Namen PassionPort anmeldeten, wüssten, worauf sie sich einließen. Doch weit gefehlt. Sie war schon mehr als einem Ahnungslosen begegnet.

Da poppte eine neue Nachricht im Chatfenster auf.

Gast77: »One-Night-Stand oder Freundschaft Plus.«

Alana grinste.

FabuLana: »One-Night-Stand klingt gut. Kein BDSM oder sonstige Fetische.«

Gast77: »Nee, ist auch nicht mein Ding. Und dein Foto ist ein aktuelles?«

Ob ihr Foto aktuell war? Der Typ hatte ja Nerven!

FabuLana: »Ja klar. Und deins?«

Gast77: »Natürlich. Also, wollen wir uns mal treffen?«

FabuLana: »Gerne. Vielleicht nächstes Wochenende?«

Gast77: »Wie wär’s mit heute Abend? 20 Uhr?«

Alana ließ das Smartphone sinken. Heute Abend? Theoretisch hatte sie ja Zeit. Aber hatte sie auch Lust, aus dem Bett zu steigen und das ganze Programm von duschen, rasieren, frisieren und schminken zu durchlaufen? Sie warf einen abwägenden Blick auf sein Profilbild. Der Typ war echt heiß. Wenn sie ihn jetzt zurückwies, hatte er bestimmt ruckzuck eine andere Partnerin gefunden. Sie zögerte noch einen Moment, dann begann sie zu tippen.

FabuLana: »Okay. Aber nur, wenn du hierherkommen kannst.«

Gast77: »Kein Problem. Wohnst du alleine?«

Sie bejahte und gab dem Mann ihre Adresse. Nachdem sie sich ausgeloggt hatte, erschien ein rot umrandetes Textfenster.

PassionPort bringt deine verspielte Seite zum Vorschein.

Aber kein Spiel ohne Regeln:

1 Plane dein erstes Rendezvous immer an einem öffentlichen Ort.

2 Teile niemals persönliche Daten wie Adresse oder Handy-nummer mit Leuten, denen du noch nie begegnet bist.

Die waren ja lustig. Erwarteten die allen Ernstes, dass man sich zum Sex an einem öffentlichen Ort traf? Oder war ihnen gar nicht klar, wer ihre Zielgruppe war? Rendezvous – dass ich nicht lache. Der Text war jedenfalls neu. Ob das etwas mit den Berichterstattungen über diese Mordserie zu tun hatte? Alana erinnerte sich vage, etwas von einem Killer gelesen zu haben, der sich seine Opfer über ein Datingportal suchte. War da etwa die Rede von PassionPort gewesen? Bei der Fülle von Anbietern wäre das schon ein ziemlich großer Zufall. Wahrscheinlicher war, dass die PR-Abteilung den Text vorsorglich eingefügt hatte, für den Fall, dass irgendeine Anwaltskanzlei zu einem Rundumschlag gegen Betreiber von Datingplattformen ausholte.

 

Nichtsdestotrotz hatte die Warnung Alana mit einem unbehaglichen Gefühl zurückgelassen, weshalb sie sicherstellte, dass neben Kondomen auch ein Pfefferspray griffbereit in ihrer Nachttischschublade lag.

Pünktlich um 20 Uhr klingelte es an der Tür. Alana schlitterte auf Socken in ihr Schlafzimmer, wo Tessi noch immer eingekringelt am Fußende des Bettes lag. Vorsichtig hob sie die sich windende Katze in ihren Arm.

»Tut mir leid, Prinzessin. Ich glaube nicht, dass er auf Zuschauer steht.«

Sie brachte Tessi in ihr Arbeitszimmer und ließ sie auf dem Teppich runter. Kurz sah es so aus, als wollte die Katze allein schon aus Protest wieder aufstehen, doch dann gruben sich ihre Pfoten in den dichten Flor und ihre Augen schlossen sich mit einem Seufzen. Braves Mädchen.

Alana zog die Tür des Arbeitszimmers hinter sich zu und joggte zur Wohnungstür. Sie öffnete und musterte ihren Besucher. Sportliche Figur, gepflegtes Erscheinungsbild, ein symmetrisches Gesicht und… blaue Augen?

»Was zur Hölle? Du bist nicht der Typ vom Foto!«

Der Fremde hatte den Nerv zu grinsen.

»Hab ich auch nie behauptet. Ich sagte, das Foto ist aktuell. Und das ist es auch. Ich hab es erst heute aus dem Internet runtergeladen.«

Blitzschnell stellte er den Fuß über die Schwelle, als Alana Anstalten machte, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen.

»Jetzt warte doch mal. Ich kann ja verstehen, dass du sauer bist. Aber warum vergessen wir die kleine Lüge nicht einfach und machen uns trotzdem einen schönen Abend? Oder gefalle ich dir nicht?«

Doch, das tat er. Und das machte die Tatsache, dass er sie verarscht hatte, umso ärgerlicher. Wieso veranstaltete er so einen Zirkus, wenn er es gar nicht nötig hatte? Abwägend inspizierte Alana ihren Besucher und versuchte zu entscheiden, ob sein Gesicht attraktiver war als sein Verhalten idiotisch.

Da wurde sie plötzlich von einer Erinnerung überrascht: der Mann in einem anthrazitfarbenen Mantel, seine Finger, wie sie sich um einen speckigen Hals schlossen, den Kehlkopf fanden und brutal dagegen drückten. Dazu die Aufforderung, die in Anbetracht der Lage des Opfers wie blanker Hohn klang »Rede!« Der Zwischenfall war ihr nur schemenhaft im Gedächtnis geblieben, aber irgendwie wusste sie noch, dass der andere Typ die Abreibung verdient hatte.

»Sind wir uns vielleicht schon mal begegnet?«

»Das bezweifle ich.«

Hm. Alana gab den Türrahmen frei und betrachtete ihn grübelnd, während er seine Schuhe an der Garderobe abstreifte. Vielleicht sollte sie sich dieses Mal zu einer kleinen Erinnerungsstütze verhelfen.

»Warte kurz hier. Ich muss noch was vorbereiten.«

Alana lief zur Schlafzimmertür, stellte sicher, dass er ihr nicht gefolgt war und verschwand dann in dem Raum dahinter, wo sie als Erstes den Bettkasten aufzog. Es dauerte eine Weile, bis sie ihre alte Digitalkamera wiedergefunden hatte, begraben unter einem Berg von Geschenkpapier und Dekoband. Die Qualität würde nicht großartig sein, aber für den privaten Gebrauch sollte es genügen.

Sie platzierte die Kamera direkt gegenüber vom Bett in einem Regal und stellte ein Buch vor das Gehäuse, sodass nur noch die Linse hervorlugte. Dann drückte sie auf »Aufnahme«. Ein rotes Lämpchen leuchtete auf. Alana wich ein paar Schritte zurück und betrachtete ihr Werk. Nicht allzu auffällig, solange sie die Deckenlampe anließ und er abgelenkt war. Was Letzteres anging, war sie optimistisch.

Sie öffnete die Schlafzimmertür und spähte in den Flur hinaus. Ihr Gast hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Alana krümmte den Zeigefinger in ihre Richtung.

»Ich wär dann so weit.«

Lächelnd kam er näher, bis er direkt vor ihr stand und sie seine Körperwärme durch den Stoff ihrer Kleidung spüren konnte. Alana, die es sich zur Regel gemacht hatte, niemals einen Mann den ersten Schritt machen zu lassen, zog ihn am Kragen zu sich runter und presste die Lippen auf seine.

Schnell entwickelte sich der Kuss zu einem leidenschaftlichen Kampf um Dominanz, den sie wie immer gewann. Unzeremoniell warf sie ihr T-Shirt hinter sich und schubste ihn aufs Bett zu. Bereitwillig ließ er sich darauf fallen. Als sie sich jedoch über ihn beugte, legte er eine Hand um ihre Hüfte und drehte sie mit erstaunlicher Geschwindigkeit herum, sodass ihre Positionen vertauscht waren und er über ihr thronte.

Unwillig verzog Alana den Mund. »Eigentlich bin ich lieber oben.«

Er lächelte erneut und machte sich noch ein bisschen schwerer. »Das wette ich. Aber ist es nicht langweilig, immer nur das zu bekommen, was man will?«

Seine Art zu sprechen hatte etwas Einnehmendes an sich, das es ihr schwer machte, stur zu bleiben.

»Na schön, dann spielen wir eben nach deinen Regeln.«

Er belohnte sie mit einem Kuss, der für ihren Geschmack etwas zu sanft ausfiel.

»Mach die Augen zu«, wisperte er gegen ihre Lippen.

Die Verführernummer nervte sie jetzt schon. Sie brauchte kein ausgedehntes Vorspiel. Alana überwand ihren Widerwillen und schloss die Augen. In den ersten Sekunden passierte rein gar nichts. Dann spürte sie, wie sein Gewicht sich über ihr verlagerte. Ein Klimpern ertönte. Was trieb er da? Sie öffnete die Augen und bekam gerade noch mit, wie er ein Paar Handschellen aus seinem Rucksack zog.

»Kannst du nicht einmal tun, was man dir sagt?«

Er sah ziemlich angepisst aus. Aber nicht so angepisst wie sie.

»Was soll der Scheiß! Ich sagte kein BDSM!«

Statt einer Antwort packte er ihren linken Arm und zerrte ihn in Richtung Bettpfosten. Alana zögerte keine Sekunde. Mit aller Kraft bäumte sie sich auf und rammte ihm ihr Knie zwischen die Beine. Keuchend klappte er über ihr zusammen. Bevor er sich von der Attacke erholen konnte, riss sie das Pfefferspray aus der Schublade und zielte auf sein Gesicht.

Als er sah, was sie vorhatte, drehte er es rasch zur Seite. Doch er war nicht schnell genug. Ein Teil des Strahls fand sein Ziel, wie sein Aufschrei ihr bestätigte. Während der Mann sich krümmte, sprang Alana aus dem Bett und rannte in den Flur. In ihrer Eile von ihm wegzukommen, stolperte sie fast über ihre eigenen Füße.

Ihr Blick erfasste die Wohnungstür am Ende des Ganges. Wenn sie es da raus schaffte, war sie in Sicherheit. Sie musste nur zu ihrer Nachbarin rüberlaufen und die Polizei verständigen. Aber bis die da war, wäre der Perversling längst über alle Berge. Was, wenn er es in ein paar Wochen bei einer anderen Frau versuchte und dann Erfolg hatte? Das durfte sie nicht zulassen! Verdammter Dreckskerl! Du glaubst wohl, du kannst alles mit uns machen. Aber da hast du die Rechnung mit der Falschen gemacht. Ich sperr dich hier ein und servier dich den Bullen auf dem Silbertablett.

Alana hechtete zu dem Säckchen auf dem Schuhschrank, in dem sie ihre Schlüssel aufbewahrte. Mit zitternden Fingern tastete sie nach dem Bund. Doch ihre Hände griffen ins Leere. Sie riss den Beutel herunter und stülpte ihn um. Nichts.

Da tauchte ein Erinnerungsfetzen von letzter Nacht in ihrem Kopf auf: sie, wie sie in die Wohnung gestolpert kam und mit einer unkoordinierten Bewegung den Bund in Richtung Schuhschrank warf. Der Schlüssel hatte einen silbernen Bogen am Säckchen vorbei beschrieben, war über die Ablagefläche geschlittert und schließlich in dem Spalt zwischen Schrank und Wand verschwunden. Scheiße! Das war eine scheiß Idee!

Alana wirbelte herum und stürmte auf die Wohnungstür zu. Kurz bevor sie die Klinke zu fassen bekam, wurde sie an den Haaren zurückgerissen. Schmerz explodierte in ihrem Schädel und sie knallte auf den Rücken. Zwischen den grell umrandeten dunklen Punkten, die durch ihr Blickfeld tanzten, sah sie sein Gesicht nah vor sich. Jetzt wusste sie auch, warum sie ihn vorhin nicht erkannt hatte. Er trug Kontaktlinsen. Eine hatte sich während des Kampfes gelöst und klebte ihm nun an der Wange. Seine unterschiedlich farbigen Augen waren blutunterlaufen. Es war ein wahrhaft dämonischer Anblick.

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