Lust auf Stadt

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Lust auf Stadt
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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Das gute Leben bleibt urban Das Land ist ein Sehnsuchtsort, doch die Zukunft liegt in der Stadt. Denn hier ist Raum für Mensch, Natur und Ideen – man muss ihn sich nur nehmen.

STADT ERLEBEN

Die Stadt mit der Nase entdecken Sie meinen, nur Landluft rieche gut? Dann braucht Ihre Nase eine Schulung! Urbane Smellscape-Projekte erweitern unsere Wahrnehmung.

Paris von unten, New York von innen Wer vor der Leinwand sitzt, kann mehr über das Leben großer Metropolen lernen als jeder Tourist. Wenn Sie fremde Städte in Ruhe erleben wollen, schauen Sie diese Filme.

STADTENTWICKLUNG

Eine Stadt wartet auf ihre Pointe Mehr als alles andere braucht Eisenhüttenstadt Einwohner. Die Stadt versucht es mit Ansiedlungspolitik. Kann auch die Geschichte ein Standortfaktor sein?

Wie Basel lernte, im Fluss zu leben Basel ist bekannt für seine Chemieindustrie – für die Erholung im Rhein weniger. Dabei hat die Schweizer Stadt in den vergangenen Jahrzehnten ihren Fluss lieben gelernt.

Atmende Fassaden statt Platte Holz ist ein nachwachsender Baustoff, speichert CO2 und ist behaglich. Warum in der Stadt damit bislang wenig gebaut wurde, erklärt der Architekt Michael Lommertz.

Gekommen, um wieder zu gehen Zwischennutzer können verwaiste Stadträume neu beleben. Doch wenn sie erfolgreich sind, droht bald der Verkauf. Wie Städte und Projekte damit umgehen, schreibt A. Haeming.

NATUR UND STADT

Entfaltung auf dem Rollfeld Kiten, skaten und grillen: Berliner haben aus dem Tempelhofer Feld einen Ort gemacht, von dem Stadtplaner träumen. Warum kann es nicht dabei bleiben?

Klimaanlagen mit Wurzeln und Laub Städte müssen grüner werden, schreibt der Architekt und Designtheoretiker Friedrich von Borries. Dann seien sie eine Antwort auf den Klimawandel und soziale Probleme.

Hier wächst die Hoffnung Detroit war einst eine Industriestadt. Heute werden Fabrikgelände in Beete und Äcker verwandelt. Kann die Gartenbewegung die marode Stadt retten?

KINDER UND STADT

Kleine Menschen unter vielen Stadt oder Land? Die Autorin Nana Heymann lebt in Berlin. Sie findet es gut, dass ihre Tochter als Stadtkind aufwächst: "So lernt sie Toleranz und freiheitliches Denken".

Die Härte des Lebens in kindgerechten Dosen Stadt oder Land? Die Autorin Julia Decker lebt den Traum vieler junger Eltern: mit Kind in der Idylle des Bregenzer Waldes. Aber manchmal ist ihr das zu nahe am Klischee.

"Wir sind keine Jack-Wolfskin-Eltern" Kinder gehören nicht in die Großstadt? Unsinn, sagt die Autorin Rike Drust. Die Mutter eines dreijährigen Sohns ist glücklich in ihrem Hamburger "Beton-Bullerbü".

GEMEINSCHAFT IN DER STADT

Ohne Aufhebens aufeinander achten Die Sozialpädagogin Jutta M. Bott hält das bessere Miteinander auf dem Land für einen Mythos. Gerade für Senioren biete die Stadt flexiblere Wohnkonzepte.

Eine Siedlung für alternde Künstler Gut leben im Alter: Mit der städtischen Siedlung "Camp der Renegaten" entwerfen Künstler eine Wohngemeinschaft, die zu ihren Lebensumständen passt.

TRANSPORT DURCH DIE STADT

Leise über den Dächern reisen Mit der Seilbahn erobert ein Transportmittel die Stadt, das bisher vor allem Bergwelten erschlossen hat. In London und Berlin soll sie nun Verkehrsprobleme lösen.

Mach's wie Kopenhagen Kaum eine Stadt fördert den Fahrradverkehr so vorbildlich wie die dänische Hauptstadt. Was können deutsche Städte davon lernen?

Mit dem Rad durch offene Türen Mit unseren Fahrrädern können wir die Welt retten – und dabei sogar noch Spaß haben, schreibt die Fahrradforscherin Jane Pirone im Gastbeitrag.

Weitere E-Books

Impressum

Einleitung

Städte sind eine große Errungenschaft – und sie bleiben eine ebenso große Herausforderung. Denn einerseits ermöglicht die Stadt ihren Bewohnern ein selbstbestimmtes Leben. Wer jemals auf dem Land lebte weiß, welche Freiheiten die Stadt bereit hält.

Auf der anderen Seite aber hadern viele Bürger mit dem beschleunigten, vernetzten, von globalen Kräften geprägten Arbeits- und Lebensstil, den die Großstadt ihnen abverlangt. Sie suchen nach Freiraum, nach Natur, wünschen sich Teilhabe und Gemeinschaft. Es verlangt sie nach Ruhe, Entschleunigung, Sicherheit und Ursprünglichkeit. Jedem dritten Stadtbewohner fehlen diese Dinge im hektischen und lauten Leben im Ballungsraum.

ZEIT ONLINE widmet sich deshalb dem guten Leben in der Stadt. Wir stellen Projekte und Ideen vor, wie ein gutes Leben in städtischen Räumen funktionieren kann. Wir suchen das Grün im Grau, fragen, wie man industrielle Ernährung durch gesunde, regional angebaute Lebensmittel ersetzen kann. Wir zeigen an Beispielen, wie Menschen auch in der vermeintlichen Anonymität miteinander leben und Isolation überwinden. Von Eisenhüttenstadt über New York bis Basel finden unsere Autoren gute Gründe, auch die Zukunft in großen und kleineren Städten zu verbringen. Weil man in ihnen schwimmen und Gemüse anbauen, sie der Nase nach oder mit dem Fahrrad entdecken kann. So wollen wir dazu beitragen, den Lebensraum Stadt zurückzuerobern.

Karsten Polke-Majewski

Stellv. Chefredakteur von ZEIT ONLINE

Hier finden Sie eine Übersicht aller E-Books von ZEIT ONLINE www.zeit.de/ebooks.

Das gute Leben bleibt urban
Das Land ist ein Sehnsuchtsort, doch die Zukunft liegt in der Stadt. Denn hier ist Raum für Mensch, Natur und Ideen – man muss ihn sich nur nehmen.
VON MARIA EXNER

Es ist Documenta in Kassel, und sie feiert die Kraft der Natur in einer vom Autoverkehr beherrschten Stadt.

Ein sandiger Hügel aus Abraum und Abfall. Aufgehäuft hat ihn der chinesische Künstler Song Dong. Man kennt solche Schuttberge als Revier abenteuerlustiger Kindermeuten. Auf diesem hier in der Kasseler Karlsaue wuchern Tomaten, Rittersporn und Sonnenblumen. Nur wenige Schritte weiter erhebt sich ein runder Erdturm, aus dem Kohlrabi und Rhabarber wachsen.

Packt jetzt auch die Kunst die Landlust? Geht es heute, dreißig Jahre nachdem Joseph Beuys 7.000 Documenta-Eichen in Kassel pflanzte, immer noch darum, die Urbanisierung zurückzudrängen?

Ganz und gar nicht. Was die Documenta mit derlei erdigen Werken fragt, ist nicht: Wie viel Stadt? Sie fragt: Was wollen die Menschen von der Stadt?

Grün statt Müll. Gesunde, regional angebaute Lebensmittel statt industrieller Ernährung. Miteinander statt Isolation. Kultur statt Kommerz. Was Kassel zeigt, ist dass das geht, und auch, welches Potenzial für ein besseres Leben in jeder Stadt steckt. Und wie schnell Veränderung möglich ist, ohne dass sie langwierig geplant ist und es teuer wird.

Das ist eine gute Nachricht. Denn viele Städter hadern, wie sie ihr Bedürfnis nach Freiraum, Natur, Teilhabe und Gemeinschaft, nach Ruhe, Entschleunigung, Sicherheit und Ursprünglichkeit mit dem hektischen, lauten, grauen Leben im Ballungsraum vereinbaren können. Jedem dritten Stadtbewohner fehlen diese Dinge, wie eine YouGov-Umfrage im Auftrag von ZEIT ONLINE ergab.

Diese Sorge um lebenswerte Räume in der Stadt lässt engagierte Bürger gegen die Berliner Mediaspree-Büros und den Bahnhof Stuttgart 21 protestieren, für den Erhalt des Hamburger Gängeviertels und den unverbauten Freiraum auf dem Tempelhofer Feld in Berlin. Andere treibt es zum Gärtnern zwischen Häuserwänden und auf die Mietscholle draußen vor die Stadt. Oder zumindest in den Bioladen. Dutzende Raus-aufs-Land-Bücher suchen nach Heilung für das, was in der Stadt nervt und fehlt.

Dabei ist die Stadt der Industrialisierung, in der Menschen auch unter erbärmlichen Umständen ausharrten, weil es dort Arbeit gab, längst Vergangenheit. Güterbahnhöfe sind heute Messehallen für Lifestyleprodukte und Fabriketagen Wohn- und Arbeitsräume. Der von Alexander Mitscherlich 1965 in Die Unwirtlichkeit unserer Städte beschriebenen Gesichts- und Herzlosigkeit begegnete die Stadtplanung mit besseren öffentlichen Plätzen und mehr Grün. Gegen die aufziehende Segregation legten Bund und Länder 1999 das Programm Soziale Stadt auf. Die deutschen Städte wurden Stück für Stück lebenswerter. Heute machen es die Möglichkeiten des mobilen Internet bequemer denn je, sich in der Stadt zu orientieren, zu bewegen, Freunde zu treffen und Dienstleistungen zu buchen.

 

Dennoch bleibt das Stadtleben herausfordernd. Großstädte sind der Austragungsort eines beschleunigten, vernetzten, von globalen Kräften geprägten Arbeits- und Lebensstils. Es ist gerade die Verdichtung von Kapital, Macht, Dienstleistung und Innovation, die Städte wirtschaftlich erfolgreich macht. In Deutschland teilt sich ein Netz von Städten die Aufgaben einer nationalen Schaltzentrale: München, Stuttgart, Köln, Frankfurt am Main, Düsseldorf, Hamburg, Berlin – nach den Vorhersagen sind sie es, die auch in Zukunft noch wachsen.

Nur geht dieser Erfolg zulasten der Lebensqualität. Austauschbare Hochhäuser und Shoppingarkaden machen sich in den Innenstädten breit, die außerdem unter Touristenmassen, Verkehrschaos und Mietpreisexplosion leiden. Stadtbewohner haben dieser Entwicklung lange zugesehen. Aalglatte Büros und Cocktailbars, perfekt ausgeleuchtete Einkaufsparadiese, Riesenräder und Clubterrassen wurden zu den Spielplätzen der Erlebnisgesellschaft. Statt Verantwortung zu übernehmen für den Lebensraum vor der Haustür, gibt es für viele Menschen nach getaner Arbeit nur ein Ziel: Es sich zu Hause gemütlich machen. Die Unmittelbarkeit des Lebens bleibt so auf Abstand.

Doch es scheint, als sei das Ende dieser Phase erreicht. Nicht nur der vermehrte Auftritt einer als Wutbürger denunzierten, engagierten Öffentlichkeit ist ein Zeichen dafür.

Auch hat der Rückzug aus dem Öffentlichen, und damit auch aus dem Echten, Wachsenden, Schmutzigen und Sinnlichen wenig vorangebracht. Wer stadtmüde aufs Dorf ziehen oder den Traum vom Leben auf dem Land in gesicherten Wohnkomplexen träumt, hat keine Lösung für die Probleme großer und kleiner Städte. Und den meisten Menschen erlauben ihr Arbeitsplatz, ihre familiäre und finanzielle Situation einen solchen Schritt schlicht nicht.

Nein, die Lösung liegt in der Stadt selbst. Sie gilt es gemeinschaftlich zu gestalten, angetrieben von einer neuen Lust auf Stadt. Mit einer Themenwoche will ZEIT ONLINE diese Stadtlust anfachen. Wir haben Projekte und Ideen gesucht, wie das Stadtleben mit dem Bedürfnis nach Mitgestaltung, einer intakten Umwelt und Pausen vom komplexen Alltag vereinbar bleiben kann.

Leer stehende Industriehallen und Wohnhäuser, Brachflächen und stillgelegte Bahntrassen können zwar den Spaziergang über weites Feld in einer grünen Landschaft nicht ersetzen. Aber es sind Orte, an denen Menschen sich austoben können. Parks, saubere Flüsse, begrünte Dächer und Fassaden sind es, die Städte lebenswerter machen und gleichzeitig dem Klimawandel und der Energiefrage Rechnung tragen.

Wir plädieren für eine neue Sicht auf die Stadtnatur und auf den Wert des Wachsenden. Denn er bietet Erwachsenen und Kindern die Möglichkeit, den Kopf aus- und die Sinne anzuschalten: Bäume riechen, Holz und Erde fühlen, Vögel hören, abtauchen und sich treiben lassen. Auch das ist möglich in der Stadt.

Wer aufmerksam seine Umgebung wahrnimmt, kann in der vermeintlich hektischen Großstadt die schönsten Orte der Ruhe finden. Wer sich bewusst für eine entschleunigte Art der urbanen Fortbewegung entscheidet, beispielsweise mit dem Fahrrad, kann aus rasendem Stillstand ein selbstbestimmtes Fortkommen machen.

Auch urbane Mythen stellen wir infrage. Ist das Stadtleben per se wirklich einsamer und – besonders für Kinder und Jugendliche – gefährlicher als das Leben auf dem Land? Wie groß der Wunsch nach einem selbstbestimmten Miteinander an einem gemeinsam genutzten Ort ist, zeigen die vielen genossenschaftlich organisierten Baugemeinschaften. Wo Wohnungsbaugesellschaften darauf reagieren, kann die Stadt für alle Lebensphasen zu einem lebendigeren Zuhause werden. Und zwei Autorinnen und Mütter geben zu, dass Städte für ihre Kinder längst ein gutes Zuhause sind.

Es lohnt sich, den Lebensraum Stadt zurückzuerobern. Wie es die Documenta in Kassel vormacht: Statt sich abzukapseln und wegzuziehen, können sich Menschen in die Stadt hineinstürzen – und sie verändern.

Stadt erleben

Die Stadt mit der Nase entdecken
Sie meinen, nur Landluft rieche gut? Dann braucht Ihre Nase eine Schulung! Urbane Smellscape-Projekte erweitern unsere Wahrnehmung.
VON RABEA WEIHSER

Einatmen, 20.000 Mal am Tag. Mehr als zwölf Kubikmeter Luft saugen wir durch unsere Nasen in die Lungen und mit ihnen unzählige Geruchsmoleküle. Doch nur selten sind wir uns bewusst, was wir da aufnehmen. Die Landluft hat es immerhin an die Spitze der Geruchsstereotype geschafft. Von Kuhdung, Moderteich und Stinkmorchel schwärmt man besonders in urbanen Ballungsräumen. Erst wo die Welt nach geschnittenem Gras dufte, sei der Mensch ganz bei Sinnen.

Die Stadtluft gilt als schmutzig, verbraucht und ungesund. Doch wer ihr etwas Aufmerksamkeit schenkt, kann einiges erleben: Die Winde in den Häuserschluchten erzählen uns Geschichten über unser gesellschaftliches Zusammenleben, über Arbeit, Kinder, Ernährung, Hygiene, Architektur, Technik, Geschichte. Bloß hat eine durchschnittliche Menschennase kein Ohr für das Säuseln der Geruchsmoleküle. Ohne Umwege erreichen die Informationen aus der Luft unser limbisches System, das unsere Gefühle steuert. Wir reagieren also oftmals, ohne zu wissen, warum.

Im Lauf der Evolution haben wir unseren wichtigsten Sinn vernachlässigt und ins Unterbewusste sinken lassen. "Man nimmt die Umgebung zuerst mit der Nase wahr", sagt die Duftforscherin Sissel Tolaas. "Danach bestätigen die Augen, was die Nase schon weiß." Die Chemikerin widmet ihre Arbeit den Geschichten, die in der Luft liegen. Und sie möchte dazu beitragen, dass alle zuhören lernen.

"Jede Stadt hat einen Eigengeruch, eine Identität", sagt sie. Die Viertel ihrer Berliner Wahlheimat hat Tolaas mittlerweile duftkartografiert: Neukölln riecht, neben Döner, nach Weichspüler und Wäschetrockner – hier wohnen viele kinderreiche Familien. Charlottenburg hingegen nach Seifensauberkeit. Reinickendorf nach Sonnenstudio. Und aus dem S-Bahn-Schacht Jannowitzbrücke dünstet noch immer die sozialistische Vorwendezeit mit ihren Kohleöfen und scharfen Putzmitteln.

Kalkutta, Stockholm, Kapstadt, London, Paris, Mexiko City: Viele Städte und Kunstzentren auf der ganzen Welt laden Tolaas ein, damit sie Duftproben von Straßen, Häusern, Parks, Nachbarschaften nimmt und sie anschließend im Labor chemisch reproduziert. Sie lassen ihre olfaktorische Identität abfüllen. Die Auftraggeber mögen das Ergebnis für bloßes Stadtmarketing verwenden, aber die Forscherin erkennt einen höheren Zweck in ihrer Arbeit. Sie fördert Toleranz: Rieche Deinen Nachbarn wie Dich selbst.

George Orwell schrieb, dass alle Unterschiede in Ethnien, Religion, Bildung, Moral und Temperament überwindbar sind, nur die körperliche, geruchliche Ablehnung des Gegenübers nicht. Tolaas aber sagt: Wer ein offener Staats- und Weltbürger sein möchte, muss mit der Toleranz der Nase beginnen. Die ist lernbar, wenn man den Geruchssinn wieder ins Bewusstsein holt. Dann ist es möglich, Kategorien wie riecht gut / riecht schlecht aufzulösen, Düfte differenzierter zu beschreiben und sie vielleicht irgendwann – wie Tolaas – als neutrale Informationen zu verarbeiten. Mit ein wenig Übung verschafft uns die Nase ungeahnte Lust am Sinn und damit Erkenntnisse, die anderen verschlossen bleiben.

An olfaktorischen Wahrheiten hat jedoch nicht jeder Interesse. In zeitgenössischen Wohn- und Konsumwelten ist es ein beliebter Trick, Frische, Sauberkeit und Wohlgefühl durch Parfümierung vorzutäuschen. Wo es gut riecht, da lass dich nieder. Supermärkte verströmen den Duft frisch gebackenen Brotes, um ihren Umsatz zu steigern. Oder sie entziehen der Welt gleich ganz ihren natürlichen Geruch: Auf Madeira wurde 2006 ein Fischmarkt entworfen, der nicht nach Fisch riecht. Allein um als mündige Verbraucher die Welt begreifen zu können, müssen wir unseren Geruchssinn fit machen.

Ein olfaktorischer Stadtrundgang kann Neugierige auf die richtige Fährte bringen. Die Sommerzeit eignet sich bestens für Erkundungstouren der Nase nach, weil die warmen Temperaturen Geruchsmoleküle mobilisieren. Warum nicht nach New York, um die Zwiebelbagel an der Wall Street, die Hochglanzmagazine im Central Park oder das billige Eau de Cologne in Harlem zu riechen. Diese Stadt ist ein Zentrum der Olfaktoristen, so viele Schnüffelwege und Sinnesführungen gibt es. Die Stadtplanerin Nicola Twilley hat eigene Duftkarten für New York gestaltet, zum Rubbeln: Ihr Scratch ‘N Sniff NYC ist inspiriert von Tolaas' Methoden und nutzt sie, um einzelne Metropolregionen und Nachbarschaften zu charakterisieren. Die britische Grafikerin Kate McLean spürt am Zeichentisch den Winden nach und übersetzt ihre nasale Wahrnehmung in optisch wirkungsvolle Sensory Maps .

Nach der Optik und Akustik hat man in den vergangenen Jahren die Olfaktorik als Gestaltungsmöglichkeit entdeckt. Die Erforschung der Gerüche ist eine noch junge Teildisziplin der Architektur. Die Erkenntnis, dass bestimmte Düfte eigene, positive Räume und Gefüge entstehen lassen, ganz unabhängig von der baulichen Struktur, kann der Stadtplanung wichtige Impulse geben. Voraussetzung ist auch hier, dass bewusst über Gerüche gesprochen wird. Dass die Bewohner eines Viertels befragt werden, ob ihnen der Hähnchenimbiss genauso stinkt wie den Architekten oder ob sie den Bratendunst nicht doch als heimelig und identitätsstiftend empfinden.

Victoria Henshaw von der Manchester University untersucht urbane Smellscapes. Sie hat schon viele Testpersonen durch Stadtviertel geführt und sie nach deren Wahrnehmung gefragt. Mit ein wenig Konzentration riechen sie tatsächlich über das Offenkundige hinaus. Hinter den Verkehrsabgasen, dem Müll, Zigarettenrauch und Kaffeedunst entdecken sie Bäume, Blumen, Beton, Wasserkanäle oder Flüsse, Marktplätze, Restaurants, Straßenhändler und andere Menschen. Die Erforschung der alltäglichen Geruchswahrnehmung lenke die Aufmerksamkeit auf klassische urbane Themen wie Luftqualität, Gesundheit, Integration sowie auf die schwierige Balance zwischen öffentlichem und privatem Raum in der Stadt, schreibt Henshaw.

Aus dem akademischen Ansatz kann ein didaktischer werden: In Kansas City hat Tolaas am 7. September ein mehrwöchiges Smellscape-Projekt begonnen. Es vereint Wissenschaft, Kunst und Schnitzeljagd zu einem game to discover the invisible city . Ein Detektivspiel mit olfaktorischen Spuren samt Smartphone-App, das bisherige Augmented-Reality-Programme infrage stellt: Es gibt eine erweiterte Realität, die wir ohne technische Hilfe wahrnehmen können.

Unser Geruchssinn öffnet uns neue Welten. Wie aber anfangen? Sofort? "Mach' die Augen zu und versuche, Deinen Weg zu finden", sagt Tolaas. "Wer seine Nase richtig benutzt, findet auch Land in der Stadt."

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