Sieben Farben

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Lara stand in einem hellen Raum mit fliederfarbenen Wänden, an denen Werke aus allen Epochen hingen. Ein eigenartiger Glanz ging von manchen dieser Gemälde aus. Ihre Farben schienen förmlich aus ihnen herauszuspringen. Lara schaute sich um. Ihr Blick fiel auf ein kleinformatiges Bild. Es zeigte eine hügelige Landschaft, durch die sich ein Fluss schlängelte. Das Gemälde gefiel ihr sehr. Auf einem kleinen Zettel, der etwas lose am unteren Teil des Rahmens hing, stand ein Name: PHILIPP KONSTANTIN. „Philipp Konstantin“, flüsterte Lara. „So heißt ja mein Vater!“ rief sie etwas lauter aus. Das musste es sein! Sie hatte das Bild ihres Vaters gefunden. Wieso hing es denn hier?

Plötzlich hörte Lara aus der hinteren, ziemlich dunklen Ecke ein leises Flüstern, das immer lauter wurde. Lara blickte angestrengt in seine Richtung. Sie konnte aber niemanden erkennen.

„Hat die feine Dame mich immer noch nicht bemerkt, was?“

Lara schaute nach unten. Da stand ein kleines, ziemlich seltsames Männlein vor ihr. Es trug eine rote, samt schimmernde Mütze, einen grünen Umhang, unter dem ein gelbes Seidenhemd hervor schien. Seine Beine wurden von einer blauen Samthose mit orangefarbenen Knöpfen bekleidet. Darunter trug es schwarze Stiefel mit weißen Schnürsenkeln. Alles in allem war es eine sehr bunte Erscheinung. Zu allem Überfluss leuchteten seine Augen violett. Seine Wangen glühten vor Aufregung und unter seiner Mütze lugten braune Haare hervor. Es hatte seine kleinen Hände in die Seiten gestemmt, klopfte unruhig mit einem Fuß auf den Boden und schaute sehr vorwurfsvoll drein.

„Bist du ein Kobold?“ fragte Lara das Wesen erstaunt.

„Ein Kobold, ha, dass ich nicht lache! Wie kommt nur immer alle Welt darauf, dass ich ein Kobold sei? Häh??? Kobolde sind kleine, zu bunt gewandete, ziemlich seltsame Wesen. Ich bin doch kein Kobold, ich bin ein Knonk!“

Lara schaute verdutzt. „Ein Knonk?“ frage sie ungläubig.

„Ist Madame taub?“ entgegnete der Knonk unwirsch. Jetzt war er aber wirklich enttäuscht. Der Knonk stammte vom Stamme der Knonks. Dieses Volk hatte die Eigenart seinen Mitgliedern keine Namen zu geben. Und deshalb hießen sie alle Knonk. Für die Knonks war das kein Problem, da ihre Sprache es ihnen erlaubte, das Wort Knonk auf so viele Arten, wie es Mitglieder ihres Volkes gab, auszusprechen. Daher wusste immer jeder, wer gemeint war, wenn er eine entsprechende Aussprache hörte. Dummerweise funktionierte das aber in anderen Sprachen nicht. Und so hießen sie dann alle gleich, Knonk eben. Dies war wohl auch der Grund, warum der Knonk zeit seines Lebens das Gefühl hatte, nicht ernst genommen zu werden. Immer wieder musste er dagegen ankämpfen, übersehen zu werden. Er selbst wusste, dass er wichtig war. Das musste er ja sein, sonst hätte man ihn sicher nicht auf diese heikle Mission geschickt. Aber schon wieder traf er auf eine Kreatur, der das wohl nicht bewusst war. Ja, die gar nicht wusste, wer er denn überhaupt war. Das ärgerte ihn.

„Lara“, hörte man plötzlich Peter durch den Spalt flüstern, „Lara, komm da raus, es geht weiter!“

„Entschuldigen Sie, Herr Knonk, ich muss dann wohl weiter.“

„Also, das ist ja jetzt wirklich eine Unverschämtheit“, erregt sich der kleine Wicht. „Hier ist wirklich jeder bemüht, mich nicht zur Kenntnis zu nehmen…“

„Lara, komm!“ schalte es nochmals leise durch die Tür.

Da schlüpfte Lara zurück durch den Spalt. Kurz entschlossen folgte ihr der Knonk, leise vor sich hinschimpfend.

Die Gruppe war mittlerweile in den nächsten Raum weitergezogen. Hier hingen Bilder, die antike Gebäude, Römer oder irgendwelche anderen Personen zeigten. Napoleon war auch dabei. Die Bilder waren sehr fein ausgearbeitet. Peter fand sie sehr schön. Lara stand neben ihm und schien noch gedankenverlorener zu sein.

„Sag mal“, flüsterte sie, „hast Du schon mal einen Knonk gesehen?“

Peter schaute sie erstaunt mit großen Augen an. „Geht es Dir nicht gut?“ Was sollte das denn sein, ein Knonk? Peter fing an, sich Sorgen zu machen.

„Nein, ist alles in Ordnung.“ Lara verzog das Gesicht und schlurfte weiter. Komische Sachen passierten hier… wirklich komische Sachen…

Peter schaute ihr kurz nach und folgte ihr dann.

Im nächsten Raum waren einige Gemälde aus der Romantik ausgestellt. Ein Wanderer schwebte verloren über den Wolken. Er sah aus, als wäre er der einzige Mensch auf der ganzen Welt. Peter schauderte es. Er blickte zum nächsten Bild. Ein paar Leute saßen an irgendwelchen Felsen und blickten aufs Meer. Das gefiel ihm. Er ging weiter. Da lag ein Schiff ziemlich kaputt unter einem Haufen von Eisschollen. Das war sehr traurig.

‚Wer hängt sich denn so was ins Wohnzimmer?’ dachte er.

Lara schaute sich derweil das Gemälde von der Felsenküste genauer an. Moment… Das Bild schien von Nahem betrachtet richtig zu flirren. Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Das Blau wurde immer milchiger und blasser und dann verschwand es plötzlich ganz. Nur ein ganz blasses Grau mit einem leichten Lilastich blieb erhalten. Die anderen Farben verblassten ebenfalls, eine nach der anderen. Das Bild war innerhalb von Sekunden fahl. Lara stutzte. Das war eben in dem anderen Raum doch auch mit einer Vase passiert. Gerade war sie noch schwarz-rot gewesen und plötzlich hatte sie die Farbe in ein gräuliches Lila gewechselt. Jetzt reichte es aber. Was war das denn hier für ein seltsamer Ort?

Sie ging zu dem Referendar, der sich zum wiederholten Male die Brille zurechtrückte. „Äh, Herr Krenzler, das Bild hier hat gerade die Farbe gewechselt.“

Herr Krenzler drehte sich zu Lara und lächelte freundlich. „Aber Lara, das kann nicht sein. Wahrscheinlich… äh… hat gerade die Sonne durch das Oberfenster geschienen und auf Grund der neuen Lichtverhältnisse hat sich die Farbwirkung des Bildes etwas geändert. Lass uns mal weitergehen.“

Lara schüttelte leicht den Kopf. Sie schaute das Bild nochmals an. Nein, es war wirklich aschfahl mit einem leichten Lilaeinschlag. Sie schaute Herrn Krenzler entgeistert hinterher und folgte ihm widerwillig. Dabei drehte sie sich noch mehrmals nach dem verblassten Bild um.

Im nächsten Raum befanden sich Bilder, deren Maler offensichtlich ein Problem hatten, den Pinsel ruhig zu halten. Alles war getupft, nirgends war eine richtige Linie zu erkennen. Zudem wirkten ihre Farben recht blass. Manche Bilder sahen aus, als wären sie regelrecht vergammelt.

„Was ist denn hier passiert?“ fragte Herr Krenzler den kleinen, untersetzten Mann, der ziemlich entsetzt vor einem sehr ergrauten Bild stand und den er offenbar kannte.

„Hans, Mensch, lange nicht mehr gesehen…“ Der Mann erkannte Herrn Krenzler. „Tja, wir vermuten Schimmel. Das Labor kann aber auch nix genaues sagen. Also, mit einem Wort: Wir haben keine Ahnung.“ Der Mann schaute ziemlich resigniert drein und schüttelte hilflos den Kopf.

„Und warum habt Ihr diesen Raum nicht für Besucher gesperrt? Sieht ja echt schlimm aus.“

„Dieser Raum war bis vor einer Stunde noch nicht befallen, ansonsten hätten wir ihn doch zugemacht. Das hier ist mir gerade aufgefallen, als ich noch mal einen Rundgang machen wollte. Wir müssen den Saal sofort schließen.“

„Habt Ihr denn noch mehr solcher Fälle?“

„Und ob, im rechten Trakt mussten wir schon sechs Säle schließen und im linken drei. Hier in der Mitte waren es bis jetzt zwei. Und wir sind nicht das einzige Museum mit diesen Problemen. Überall verblassen die Bilder über Nacht, wie von Geisterhand. Bis jetzt hat noch keiner herausbekommen, woran es liegt. Wie gesagt, wir tippen bis jetzt auf Schimmel, aber man kann keine Spuren eines Schimmelpilzes an den Bildern feststellen. Man kann genau genommen gar nichts feststellen. Die Oberfläche ist vollkommen unbeschädigt. Die Farbsubstanz ist unverändert. Schau hier, an der Struktur hat sich nichts geändert. Man sieht immer noch die Pinselspuren. Es ist, als wären die Farben einfach aus den Bildern verschwunden und es bleibt nur noch ein seltsames Grau mit einem leichten Lilastich…“

„Ja, dass Ihr Hornochsen das Problem nicht erkennt, ist mir klar. Und das ist erst der Anfang.“ Lara hatte ganz vergessen, dass sie ja einen kleinen Verfolger hatte. Peter schaute erst ihn und dann sie ungläubig an.

„Wo hast Du denn den Kobold her?“

„Ich bin…“ wollte der Knonk gerade in lautem Ton ansetzen, da hielt Lara ihm den Mund zu.

„Pst“, zischte sie ihm zu. Dann schaute sie Peter wieder an. „Das ist ein Knonk. Den hab ich in dem anderen Raum getroffen. Ich weiß auch nicht, wo er herkommt. Aber ich glaube, er ist sehr anhänglich.“

Der Knonk schaute die beiden böse an. Lara warf ihm einen drohenden Blick zu und nahm dann die Hand von seinem Mund. Er verkniff sich weiteres Geschwätz, wirkte aber äußerst entnervt.

Herr Krenzler verabschiedete sich von dem Mann und lotste die Gruppe in einen anderen Ausstellungsraum. Hier hingen Bilder, die zeigten nichts außer Farben. Eine Leinwand war ganz violett. Lara stutzte. Was sollte das denn nun?

Was ist ein Knonk?

„Hast Du Hunger?“ Lara schaute den Knonk an. Sie waren noch ein bisschen im Großen Museum herumgegangen. Da aber eine ganze Reihe von Sälen wegen der seltsamen Verfärbungen der Bilder geschlossen war, musste die Exkursion früher beendet werden als erwartet. So konnte die Schulklasse schon um eins nach Hause gehen. Jetzt saß Lara zusammen mit Peter in ihrem Zimmer und versuchte herauszubekommen, wer ihr anhänglicher Besucher eigentlich war.

„Ja“, antwortete der etwas kleinlaut. Offensichtlich fühlte er sich in der ungewohnten Umgebung nicht wohl. Lara ging in die Küche herunter und kam mit Brot, Käse und Saft wieder hinauf in ihr Zimmer. Der Knonk musste sehr hungrig und durstig sein, denn er schlang alles in sich hinein ohne ein einziges Mal zu meckern. Dann lehnte er sich zufrieden im Bett an das Kopfkissen und entspannte sich sichtlich.

 

„Also“, setzte Peter an, „wer bist Du und was machst Du hier?“

„Ich bin ein Knonk, das hab ich doch schon gesagt.“

„Was ist ein Knonk?“ fragte Lara.

Das kleine Wesen verdrehte die Augen. Immer diese dummen Palidonier. „Ein Knonk ist ein Knonk. Ganz einfach. Ich frag ja auch nicht, was ist ein Palidonier…“

„Palidonier?“ Peter schaute noch ungläubiger.

„Ja, Du bist ein Palidonier. Ich bin ein Coloranier. Ist doch klar.“

„Aha“, entfuhr es Lara.

„Also“, der Knonk merkte, dass er es wohl mit sehr unwissenden Zeitgenossen zu tun hatte. Er musste also ganz von vorn anfangen. „Ich bin aus Coloranien nach Palidonien entsendet worden. Von der Weißen Königin. Sie schickt mich, um einen oder mehrere Sehende zu finden, die ihr und damit uns allen aus der dummen Misere helfen, in die wir geraten sind.“

„Und was ist diese Misere?“ hakte Lara nach.

„Die Lila Bleiche greift um sich.“

„Lila Bleiche?“ wiederholte Lara fragend.

„Naja, eigentlich heißt das Problem Palioviolettuenziaria.“

„Das kann ja keiner aussprechen!“ rief Peter da.

„Ja, genau. Deshalb wird das Ganze ja auch von allen nur Lila Bleiche genannt“, erklärte der Knonk.

„Und was heißt das jetzt genau?“ wollte Lara wissen.

„Unsere Welt bleicht aus. Wir verlieren die Farbe.“

„Wie die Bilder im Großen Museum?“ warf Peter da ein.

„Ja, genau.“

„Naja, das ist zwar nicht so schön, aber sterben wird man daran ja wohl nicht, oder?“ Peter konnte sich mit Blick auf die farblich doch sehr hervorstechende Kleidung des Knonk ein Grinsen nicht verkneifen.

„Du Dummkopf“, schimpfte der Knonk da. „Was lernt Ihr denn in Eurer komischen Schule? Viele unserer Wiesen und Wälder sind schon ganz fahl. Was meinst Du denn, was passiert, wenn sie alle verschwinden? Hast Du Dir mal überlegt, wo alles Leben herkommt? Von der Farbe! Wenn die Pflanzen ihre Farbe verlieren, sterben sie und mit ihnen alles andere gleich mit!“ Der Knonk schaute ganz aufgeregt drein.

„Könnte uns das auch bald treffen?“ frage Lara sichtlich erschrocken.

„Bald? … Das Ganze betrifft Euch doch schon. Denk doch mal an die Bilder im Großen Museum. Und das ist erst der Anfang, denn einige Bilder in Euren Museen sind die Verbindung zwischen unseren Welten. Die Lila Bleiche wird sich weiter verbreiten. Schon sehr bald werden andere Teile Eurer Welt betroffen sein.“

Lara erinnerte sich jetzt an die seltsam grauen Blätter, die sie an einem der Bäumchen, die neben dem Museumseingang standen, gesehen hatte. Sie war sprachlos. Peter konnte auch nichts mehr sagen. Er atmete schwer.

Da ging die Kinderzimmertür auf. Sie hatten Laras Mutter gar nicht nach Hause kommen gehört. „Hallo, Ihr zwei. Schon zurück?“ fragte sie sichtlich aufgeregt. Der Knonk, der immer noch auf Laras Bett gemütlich ausgebreitet lag, schien sie nicht weiter zu stören.

„Ja, im Großen Museum waren einige Räume gesperrt. Deshalb konnten wir früher wieder nach Hause“, erwiderte Lara.

„Geht es Euch gut?“ fragte die Mutter mit besorgter Stimme. Lara und Peter schauten sich fragend an.

„Äh, ja. Wieso?“ entgegnete Lara.

„Na, wegen dem Raub heute Vormittag im Großen Museum“, fuhr die Mutter fort.

Die Kinder zogen die Augenbraun hoch.

„Was denn für ein Raub?“ fragte Lara.

Die Mutter machte einen Schritt ins Zimmer. „Ich habe auf dem Nachhauseweg im Radio gehört, dass aus dem Großen Museum mehrere Bilder aus einem Abstellraum entwendet worden sind. Da ist offensichtlich eine Bande unterwegs. Letzte Woche ist etwas Ähnliches im Louvre und im Prado passiert. Dort wurde jeweils ein einziges Bild auch aus einem Abstellraum entwendet.“

Peter und Lara schüttelten den Kopf. „Davon haben wir nichts mitbekommen“, entgegnete Peter. Lara nickte heftig. Der Knonk schaute derweil sehr ernst drein. Die Mutter seufzte erleichtert.

„Schau mal, Mama, wir haben einen Knonk mitgebracht“, sagte Lara schließlich und zeigte dabei auf das für die Mutter vollkommen leere Bett.

„Ja, klar“, antwortete diese lächelnd. „Ich mach uns jetzt erstmal was zu essen. Peter, bleibst Du auch zum Essen?“

„Das wäre super. Meine Mutter kommt erst um drei und ich habe einen Riesenhunger.“

„Alles klar. Ich mach Nudeln mit Soße. In einer halben Stunde könnt Ihr runterkommen.“ Und schon war die Mutter nach unten verschwunden.

Der Knonk schaute entrüstet. „Sie hat mich einfach ignoriert, wie diese unverschämten Leute im Großen Museum!“

„Vielleicht können Dich ja gar nicht alle Menschen sehen“, erwiderte Peter.

Da hellte sich das Gesicht des Knonk auf. Ja, stimmt. Das hatte die Weiße Königin ihm doch auch angedeutet. Wie konnte er das nur vergessen! Nur Sehende konnten ihn erkennen. Da fiel ihm jetzt aber ein großer Stein vom Herzen. Für Knonks war es nämlich sehr wichtig, nicht übersehen zu werden.

„Und was machen wir jetzt mit Dir?“ fragte Lara.

Der Knonk schaute sie nachdenklich an. „Die Weiße Königin hat gesagt, dass ich dem folgen soll, der mich erkennt. Nun, da Ihr mich erkannt habt, werde ich Euch mal folgen.“

Beim Großvater

Lara genoss die Ausflüge zu ihrem Großvater. Er wohnte weit außerhalb der kleinen Stadt in einem hübschen Fachwerkhäuschen mit schwarz lackierten Balken. Entlang der Balken umrahmten gelbe Streifen die weiß verputzten Mauerstücke. An den Ecken waren bunte Schnitzereien an den Balken angebracht. Über der Haustür stand in ungelenken Lettern etwas, das Lara nicht entziffern konnte. Das Haus war aus dem 17. Jahrhundert oder so. Also schon ziemlich alt. Peter und sie hatten deshalb schon öfter vermutet, dass es darin spuken müsste. Bis jetzt hatten sie aber keinen Geist entdecken können.

Peter saß neben ihr im Auto. Die Weihnachtsferien hatten angefangen und er durfte heute mal wieder mit ihr mitfahren. Der Wagen bog in eine verwunschene kleine Straße ein, die von der breiten Landstraße rechtwinklig abzweigte. Laras Mutter drosselte die Geschwindigkeit. Über den holprigen und dazu auch noch verschneiten Weg konnte man nur im Schritttempo fahren. Sie fluchte leise vor sich hin, weil ihr Vater immer noch so weit draußen und dazu auch noch ohne richtige Straße wohnte.

Sie war in diesem Haus aufgewachsen, mochte es aber nicht besonders. Im Winter war es darin früher immer bitter kalt gewesen, da ihr Vater ständig vergaß, Holz zu machen. Eine Zentralheizung gab es damals noch nicht. Sie wurde erst später installiert. Ein Glück, ansonsten hätte sie ihre Tochter hier keine Stunde gelassen. Zumindest nicht im Winter.

Vorne sah man endlich das kleine Häuschen. Tannen standen ringsherum und trugen schwer an ihren Schneekappen. Manche Äste sahen bedrohlich überladen aus. Lara schaute aus dem Autofenster. Zwischen dem Geäst sah sie plötzlich zwei Gestalten. Ganz in schwarz gekleidet mit großen Kapuzen. Irgendwie kamen sie ihr bekannt vor. Die hatte sie doch schon mal gesehen! Lara zuckte zusammen. Sie erkannte sie wieder. Für einen kurzen Moment blickte sie zu Peter. Als sie den Kopf wieder drehte und nach draußen schaute, waren die Gestalten verschwunden. Ein Schauder lief ihr über den Rücken.

Das Auto kam vor dem Haus zum Stehen. Der Großvater öffnete die Haustür. Man sah ihm die Freude über die Ankunft seiner Besucher an. Für seine 75 Jahre hatte er sich gut gehalten. Er war immer noch ziemlich drahtig, ging aber schon etwas gebückt.

„Hallo!“ rief er den Ankommenden zu, noch ehe sie richtig ausgestiegen waren. Die Mutter begrüßte ihren Vater mit einer kurzen Umarmung, musste aber gleich weiter und übergab die beiden Kinder für den Rest des Tages ihrem Vater. „Ich bin um 18.00 Uhr wieder da. Benehmt Euch! Und viel Spaß!“

Schon saß sie wieder in ihrem Auto, das hier ziemlich deplatziert aussah. Langsam ruckelte sie leise fluchend wieder der Landstraße entgegen und verschwand hinter einer Biegung.

Lara strahlte. Sie war gern bei ihrem Großvater. Die beiden Gestalten hatte sie da schon wieder vergessen. Auch Peter freute sich. Er liebte es, durch den Wald zu streunen und allerlei Abenteuer zu erleben. Hier draußen merkte er von seinem Asthma nicht viel. Die Luft war rein und klar.

„Na, dann kommt mal herein, Ihr zwei beide. Ich hab schon mal eine heiße Schokolade fertig gemacht.“

Die beiden folgten dem alten Mann ins Wohnzimmer. Das war ziemlich klein, wie alles in diesem Haus. Die Decken waren ungewöhnlich niedrig. Der Großvater hatte erzählt, das sei so, weil die Leute früher kleiner waren und man kleine Räume außerdem besser heizen konnte. Er ging in die Küche und holte die dampfende Schokolade. Lara schaute sich um. Es sah alles noch aus wie immer. Darüber war sie sehr froh. Zu Hause räumte ihre Mutter ständig alles um. Sie liebte es, die Wände neu zu streichen, neue Gardinen aufzuhängen und die Möbel zu verstellen, wenn sie nicht gerade neue kaufen wollte, was zum Glück aus Geldmangel nur selten ging. Hier dagegen stand alles an seinem Platz, dort, wo es schon immer gestanden hatte.

„Na, erzählt mal, was habt Ihr denn in der letzten Zeit so erlebt?“ fragte der Großvater, während er die dampfende Schokolade vor den Kindern auf einen kleinen Holztisch stellte.

„Oh, wir waren im Museum“, erzählte Lara.

„Ja, und da haben wir einen Knonk getroffen“, legte Peter nach in Erwartung einer typischen Erwachsenenreaktion ob einer solchen Aussage.

Der Großvater zuckte zusammen. Er räusperte sich. „Einen Knonk“, wiederholte er ungläubig. „Seid Ihr sicher?“

Damit hatten die beiden Kinder nicht gerechnet.

„Wo ist er denn jetzt?“ fuhr der Großvater fort.

Peter und Lara schauten verdutzt. Einmal, weil der Großvater offensichtlich keine Anstalten machte, das Ganze für einen Kinderscherz zu halten, und zum anderen, weil der Knonk eben noch im Auto neben ihnen gesessen hatte, jetzt aber verschwunden war. Dann klopfte es. Der Großvater stand auf und ging in den Flur. Er öffnete die Tür und sah niemanden.

„Hallo!“

Er schaute nach unten. Und da stand er, der Knonk. Als dieser den Großvater erkannte, wechselten Freude und Ehrfurcht kontinuierlich auf seinem Gesicht ab. Die Königin hatte also mal wieder Recht gehabt. „Folge denen, die dich erkennen und Du wirst jemanden finden, der Dir helfen kann“, hatte sie gesagt. Und da stand dieser jemand schon vor ihm.

„Äh“, stieß der Großvater ziemlich verdutzt hervor. Dann fing er sich wieder und fügte hinzu: „Komm doch herein. Lange nicht mehr gesehen, was?“

Der Knonk schlüpfte ins Haus und schüttelte sich die Kälte aus den Gliedern. Schnell fand er seine Fassung wieder.

„Kalt ist es hier“, sagte er mit einem vorwurfsvollen Gesichtsaudruck.

„Komm, hier herein bitte, ins Wohnzimmer. Da ist es warm. Möchtest Du einen Kaffee?“

Der Knonk strahlte. Er liebte Kaffee. Leider gab es den in Coloranien nicht. Das letzte Mal, dass er einen Kaffee getrunken hatte… Ja, wann war das denn? Es musste eine Ewigkeit her sein. Der Großvater verschwand wieder in der Küche und der Knonk setzte sich neben Lara auf das helle Sofa.

„Wo warst Du denn?“ flüsterte sie vorwurfsvoll.

„Man wird ja wohl mal müssen dürfen. Das ganze Geschaukel in dieser Blechkiste, die ihr Auto nennt… Das geht ganz schön auf die Blase.“

„Ja, aber Du kannst doch auch im Bad auf die Toilette gehen“, erwiderte Peter mit gedämpfter Stimme.

Der Knonk schaute entnervt.

„So“, sagte der Großvater, als er zurück war, „jetzt erzählt mal alle der Reihe nach.“

Die Kinder schauten den Großvater ungläubig an. „Du kannst ihn sehen?“ fragte Lara.

„Ja, klar.“

„Aha.“ Peter staunte.

„Also, ich muss schon sagen, Du hast Dich ganz schön verändert, Raffael.“ Der Knonk schaute den Großvater prüfend an. „Alt bist Du geworden.“ Knonks waren in Coloranien für ihre Ehrlichkeit bekannt.

„Ja“, erwiderte dieser lachend, „jünger werd ich nicht mehr. Du siehst aus wie immer. Aber jetzt sag mal, warum bist Du in unsere Welt gekommen?“

Die Kinder schauten immer verwirrter zwischen den beiden hin und her. Es wirkte irgendwie grotesk, dass sich ein Erwachsener mit so etwas wie einem Knonk unterhielt.

Jetzt schaute der Knonk sehr ernst. „Die Weiße Königin schickt mich. Unsere Welt ist in Gefahr. Wir brauchen Deine Hilfe.“

 

Der Großvater strich sich nachdenklich über den weißen Bart. Er hatte nicht gedacht, dass er noch einmal jemanden aus Coloranien treffen würde, nach all dem, was damals passiert war.

„Äh, hallo“, unterbrach Lara die beiden, „könntet Ihr uns bitte mal einweihen?“ Die Kinder schauten die beiden fragend an.

„Ach so, ja natürlich“, hob der Großvater an, „also, vor langer Zeit, als ich ungefähr in Eurem Alter war, habe ich festgestellt, dass ich über eine bestimmte Gabe verfüge, die nur sehr Wenigen gegeben ist. Ich bin ein so genannter Sehender. Das sind Menschen, die zwischen Palidonien – das ist unsere Welt – und Coloranien – das ist die Welt, aus der der Knonk kommt – hin und her wechseln können.“

„Wie jetzt?“ warf Peter irritiert ein.

„Ja, äh… wie soll ich das jetzt erklären?“ Der Großvater schaute sich fragend um. „Was hat der Knonk Euch denn schon alles erzählt?“

„Fast nichts“, erwiderte Lara mit vorwurfsvollem Blick in Richtung Knonk. Peter nickte zustimmend.

Der Knonk wollte gerade schon wieder anfangen zu schimpfen, da hob der Großvater beschwichtigend seine Hand. „Mhm, also es ist so. Die Welt ist ein bisschen komplizierter, als man das in der Schule so lernt. Genau genommen gibt es nicht nur eine Welt, sondern viele. Und manche dieser Welten sind eng miteinander verbunden, während andere rein gar nichts miteinander zu tun haben. Es hat sich nun so ergeben, dass gerade unsere Welt und Coloranien besonders eng zusammenhängen, und zwar über die Farben. Die allermeisten Lebewesen in unserer Welt ahnen nichts von dieser Verbindung. Sie hat für ihr Leben keine Bedeutung. Es gibt aber Lebewesen, die zwischen beiden Welten hin- und herwechseln können. Diese Wesen werden Sehende genannt. Sehende stammen entweder von Sehenden ab – wie du Lara – und haben die Fähigkeiten geerbt oder es müssen einige Faktoren zusammenkommen – wie es bei Dir, Peter, offenbar der Fall ist. Man muss im Frühling oder Sommer geboren sein, idealer Weise im Mai oder August, und zwar auf einen Sonntag nach 18:00 Uhr…“

„Das ist wissenschaftlich widerlegt worden – das mit dem 18:00 Uhr“, warf der Knonk mit ernster Miene ein.

„Ja, gut“, fuhr der Großvater fort, „aber zumindest stimmen die anderen Punkte.“ Er schaute den Knonk fragend an. Der nickte bedeutungsschwer. Dann fuhr der Großvater fort. „Daneben gibt es wohl noch eine Reihe weiterer Aspekte, die aber jetzt zu weit führen würden. Auf alle Fälle sind solche Lebewesen – übrigens nicht nur Menschen, das können alle möglichen Geschöpfe sein – in der Lage, zwischen den Welten zu wechseln.“

„Einfach so?“ fragte Peter.

„Nein“, erwiderte der Großvater. „Nicht einfach so. Man muss schon ein Tor haben. Aber Sehende erkennen eben als einzige diese Tore und können sie aktivieren.“

„Und was sind das für Tore?“, Lara war ganz elektrisiert.

„Gemälde, meine Kleine, Gemälde.“

„Jedes Gemälde ist also ein Tor?“ Peter war verwirrt. Er atmete wieder schwer. Das Ganze war doch etwas zu aufregend für ihn. Verstohlen nahm er sein Asthmaspray aus der Hosentasche und setzte es sich an den Mund. Zwei Pumpstöße später war es wieder in der Hosentasche verschwunden.

„Nein, nicht jedes Gemälde. Nur ganz bestimmte, nämlich solche, die mit besonderen Pigmenten gemalt worden sind“, erklärte der Großvater.

„Was sind Pigmente?“ fragte Peter, nachdem er wieder zu Luft gekommen war.

„Farbpulver. Nur solche Bilder, die mit aktorisierter Farbe gemalt worden sind, können als Tore dienen…“

„Aktorisiert?“ Lara schwirrte langsam der Kopf.

„Das Aktorisieren ist eine bestimmte Zauberform“, warf der Knonk ein.

„Aha.“ Peter schüttelte ungläubig den Kopf.

Sonst waren es doch immer die Kinder, die den Erwachsenen wilde, erfundene Geschichten erzählten. Im Moment kam es ihm vor, als wäre es andersherum.

Der Großvater räusperte sich. „Vor vielen tausend Jahren hat Helis diese Form der Magie erfunden. Helis hat die sieben Farben des Regenbogens eingefangen und in Farbpulver gebannt. Ein Gemälde muss alle sieben Farben enthalten, damit es ein Tor wird. Außerdem heißt es, dass eine der sieben Farben viel stärker ist als die anderen und eine besondere Wirkung hat, weil Helis bei seiner Verzauberung den Zauberstab ein wenig zu heftig geschwungen hat. Aber das ist wohl eher eine Legende. Naja, Helis blieb das einzige Wesen in ganz Coloranien, das diese Zauberkunst beherrschte. Deshalb ist aktorisiertes Farbpulver so selten. Es stammt alles aus den sieben Farbpulverfässchen, die Helis damals verzaubert hat. Da Helis vor langer Zeit verschwunden und diese Art von Zauber somit verloren ist, wird das von Helis verzauberte Farbpulver das einzige bleiben, mit dem man Tore malen kann. Es wurde im Kristallpalast unter größten Sicherheitsmaßnahmen aufbewahrt.“

„Es wurde?“, warf Peter ein.

„Äh, ja, also… “, druckste der Großvater plötzlich herum.

„Du musst uns helfen“, warf der Knonk bestimmt ein. Er war schließlich nicht hierher geschickt worden, um Kindern eine Nachhilfestunde in Weltentheorie und Zauberkunst zu geben. Er durfte keine Zeit verlieren.

Der Großvater schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, mein alter Freund. Dafür bin ich wohl ein bisschen zu alt.“

Der Knonk blickte ihn entsetzt an. Seine Stimmung wurde schon wieder schlechter. „Das ist noch nicht alles, Raffael“, beeilte er sich zu sagen. „Die Große Prophezeiung hat sich entfaltet.“

„Wann?“ Jetzt schaute der Großvater entsetzt.

Lara und Peter blickten immer verwirrter zwischen dem Knonk und dem Großvater hin und her.

„Welche Prophezeiung denn?“ fragte Lara.

Der Großvater starrte nun sehr ernst ins Leere. Dann ließ er sich in seinem Ohrensessel nach hinten fallen und schnaufte leise. „Was sagt sie denn?“

Der Knonk kramte in seiner Hosentasche. Er konnte sich lange Texte nicht merken, also hatte er, da er geahnt hatte, dass es wichtig sein könnte, den Text der Prophezeiung auf einen kleinen Zettel übertragen. Er räusperte sich: „Also, ich zitiere: ‚Die Zeit ist gekommen. Nun entscheidet sich, ob die farbige Welt steht oder fällt und mit ihr beide Welten. Es liegt in aller Kreaturen Hand, dies zu bewirken, sei es zum Bösen oder zum Guten.’ Das ist alles.“

Lara wurde ungeduldig. „Hallo! Wovon sprecht Ihr?“

Der Großvater sah die beiden Kinder an. „Als Helis verschwand vor vielen Jahren, schickte das Sfanx-Orakel eine Prophezeiung an den Kristallpalast der Weißen Königin. Diese Prophezeiung war in einer gläsernen Rose eingelassen und nicht lesbar. Sie würde sich erst offenbaren, wenn die Zeit gekommen sei, so ließ das Orakel verlautbaren. Helis Verschwinden hat offenbar irgendetwas in Gang gesetzt, was die Grundfesten von Coloranien eines Tages erschüttern könnte. Wie es aussieht, ist dieser Tag nun gekommen. Und es scheint, als könne das Unheil nur abgewendet werden, wenn Kreaturen aus beiden Welten zusammenarbeiten.“

„Genau, und deshalb brauchen wir Dich. Wer sonst könnte uns denn bitte schön helfen?“ Der Knonk schaute den Großvater auffordernd an. Dieser schüttelte den Kopf.

„Tut mir leid, mein alter Freund, aber der Preis, den ich das letzte Mal zahlen musste, war zu hoch.“ Traurig starrte der Großvater auf den Boden.

„Wovon sprichst Du?“ Lara schaute ihn an.

Der Großvater schloss die Augen für einen Moment. Dann erwiderte er den Blick seiner Enkelin. „Du musst es ja irgendwann erfahren…“ Er setzte sich in seinem Sessel auf. „Vor einigen Jahren, als Du etwa zwei Jahre alt warst, schickte die Weiße Königin schon einmal den Knonk in unsere Welt.“ Der Knonk nickte wieder bedeutungsschwer. „Sie rief alle Sehenden zusammen. Dein Vater…“, der Großvater stockte.

„Was war mit meinem Vater?“ fragte Lara.

„Dein Vater…“, setzte der Großvater wieder an, „also, wie sich herausstellte, war Dein Vater auch ein Sehender. Er begleitete mich also zu dieser Zusammenkunft. Alle Sehenden waren der Bitte der Königin gefolgt und so trafen wir uns alle zum ersten Mal an einem geheimen Ort. Wir waren insgesamt sieben Sehende.“