Sieben Farben

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„Mehr nicht?“ fragte Peter ungläubig.

„Nein, es gibt nur sehr wenige von uns.“

„Na, das ist aber dann komisch, dass jetzt schon drei hier zusammensitzen“, entgegnete Peter da.

„Naja, so komisch ist das gar nicht. Weißt Du, Peter, Sehende scheinen sich irgendwie anzuziehen, wie Magneten“, erklärte der Großvater und fuhr dann fort: „Nun, wir trafen uns also alle an diesem Ort. Die Weiße Königin berichtete, dass immer mehr Arquatusdrachen verschwinden würden.“

„Ar…was?“ Lara schaute fragend. Der Knonk verdrehte zum wiederholten Male die Augen.

„Arquatusdrachen“, wiederholte der Großvater. „Arquatusdrachen sind ganz besondere Drachen. Diese Drachen sind auf eine spezielle Weise mit Coloranien verbunden. Wenn sie verschwinden, ist das kein gutes Zeichen. Die Weiße Königin sorgte sich so sehr, dass sie die sieben aktorisierten Farben nicht mehr in Coloranien verwahren wollte. Sie hatte sie mitgebracht, damit wir Sehende sie in Palidonien verstecken konnten. Sie war gerade dabei, Deinem Vater die siebte Farbe zu reichen, da wurden wir plötzlich angegriffen…“

„Angegriffen?“ Peter verzog das Gesicht.

„Ja, völlig unvermittelt flogen Feuerbälle in unsere Mitte. Mit knapper Not konnte die Weiße Königin gerettet werden. Vor Schreck ließ ich die aktorisierte Farbe, die die Königin mir anvertraut hatte, stehen und rannte um mein Leben. Dein Vater lief dicht hinter mir aus dem Versammlungsgebäude. Ich lief, was das Zeug hielt. Als ich mich endlich umdrehte, sah ich Deinen Vater nicht mehr. Auch die anderen Sehenden waren mir nicht weiter gefolgt. Dafür hörte ich ein lautes Gekreische über meinem Kopf. Riesige Vögel, bunt wie Kanarienvögel mit einem langen Hals kreisten da und gaben laute Krähenschreie von sich. Sie mussten die anderen Sehenden gepackt und verschleppt haben. Ich rief nach Deinem Vater und suchte ihn tagelang. Doch ich fand ihn nicht. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Weißt Du, Lara, es gibt nicht nur gute Kreaturen in Coloranien. Es gibt auch sehr gefährliche. Und wenn man nicht aufpasst…“ Der Großvater stockte wieder. Er war jetzt ganz blass und sackte in seinem Sessel zusammen. Der Knonk nickte traurig.

Das war also damals geschehen. „Hast Du das Mama jemals erzählt?“ flüsterte Lara fragend mit stockender Stimme.

Der Großvater sah sie an und schüttelte den Kopf. „Das habe ich bis jetzt noch nie jemandem in dieser Welt erzählt. Deine Mutter hätte mich für verrückt erklärt. Sie glaubt, Dein Vater wäre beim Schwimmen im Meer verunglückt und vom Wasser fortgerissen worden.“

Lara blickte traurig zum Fenster. Dann war ihr Vater ja vielleicht tatsächlich noch am Leben, irgendwo in Coloranien. Und vielleicht könnte sie ihn dort dann auch noch finden…

Sie schaute hinaus. Da erschrak sie. Zwei dunkle Gestalten lugten durch das Fenster. Tiefe Falten durchfurchten ihr graues Antlitz, stechende Augen blickten sie direkt an. Lara zuckte zusammen.

„Was ist?“ Der Knonk drehte sich zum Fenster und sah sie auch. Instinktiv duckte er sich weg und rief laut: „Oh nein, Schattenspäher.“

Der Großvater sprang vom Sessel hoch. Seine 75 Jahre merkte man ihm gar nicht an. Er griff nach einem Gegenstand, der auf dem kleinen Tisch neben seinem Sessel lag und machte einen Satz zum Fenster, riss es auf und hielt den Gegenstand hoch. Die Kreaturen verzogen das Gesicht und lösten sich augenblicklich in Rauch auf.

Peter und Lara schauten ganz verdattert zum Fenster. Lara erkannte, dass es sich bei dem Gegenstand um einen kleinen Spiegel mit einem reich verzierten Griff handelte. Der Großvater sah die fragenden Kinderaugen.

„Das waren Schattenspäher“, erklärte er.

„Und wozu der Spiegel?“ fragte Lara.

„Diese Kreaturen ertragen es nicht, ihre eigene Boshaftigkeit im Spiegel zu sehen. Deshalb verschwinden sie, wenn sie in einen blicken müssen.“

„Das heißt, sie sind noch irgendwo da draußen?“ Peter gruselte es jetzt sehr.

„Ja“, antwortete der Knonk.

„Und was wird jetzt?“ Lara hatte das Gefühl, dass ihr der Boden unter den Füßen weg glitt. Vor zwei Tagen war sie noch davon überzeugt gewesen, dass alles, was sie in Märchenbüchern las, bloße Erfindung war. Ein paar fixe Ideen, die sich irgendjemand irgendwann einmal ausgedacht hatte. Doch jetzt saß sie neben einem Knonk, erfuhr, dass ihr Vater ein Sehender und vor langer Zeit in einer Welt namens Coloranien verschwunden war, und musste sich vor Schattenspähern in Acht nehmen.

„Jetzt raff Dich auf und hilf uns!“ rief der Knonk da in die Stille nach dem Schreck und schaute den Großvater auffordernd an.

Da nickte dieser langsam. „Ich werde mitkommen.“

„Sag ich doch, das Schicksal hat mich schon aus gutem Grund zu Dir geführt.“ Der Knonk sah entgegen seines Naturells äußerst zufrieden aus.

„Naja“, warf Lara da ein, „genaugenommen hat es Dich zu mir geführt.“

„Was soll das denn jetzt!?“ Der Knonk schaute sie ernst an.

Der Großvater schüttelte den Kopf. „Nein, meine Kleine, das ist nichts für Dich.“

Da fing der Knonk plötzlich an rumzudrucksen. „Naja, wahrscheinlich hat sie recht.“

Der Großvater sah ihn böse an. „Nein, das geht nicht!“ rief er mit fester Stimme.

Es gefiel dem Knonk auch nicht, auf die Hilfe eines Kindes angewiesen zu sein. Aber irgendwie ahnte er, dass in dem kleinen Mädchen viel mehr steckte, als man auf den ersten Blick sehen konnte. Und so sagte er: „Ich denke, sie muss mitkommen.“

„Aber ohne Peter geht das nicht!“ warf Lara da ein. Peter schaute verdutzt. Das Atmen fiel ihm sichtlich schwerer. Er verzog das Gesicht.

Doch wenn Lara sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann konnte man es da nicht mehr so leicht herausbekommen.

Der Großvater blickte sehr unglücklich drein. Doch auch er ahnte, dass der Knonk recht hatte.

„Na gut. Aber, mein lieber Knonk, versprich mir, dass Du mir helfen wirst, gut auf die beiden aufzupassen.“

„Beide?“ Peter fühlte sich ein wenig überrumpelt und schaute ängstlich.

Und dann fügte der alte Mann hinzu: „Dann schauen wir doch mal, ob ich das Tor noch habe.“

Schnaufend erhob er sich von seinem Sessel und stapfte in Richtung Treppe. Die anderen schauten ihm nach, ohne sich zu bewegen. Am Treppenabsatz, der sich direkt an das offene Wohnzimmer anschloss, drehte er sich um. „Na, was ist denn. Seid Ihr festgewachsen? Los geht’s!“ Er machte eine auffordernde Handbewegung. Da standen auch die anderen auf. Der Knonk hopste mit einem lauten Platsch vom Sofa auf den Holzboden. Sie stiegen die beiden Treppen, die unter jedem Schritt laut knarrten, hinauf bis ganz unters Dach. Der Großvater öffnete die Tür zur Dachkammer.

‚Hier bin ich ja noch nie gewesen’, dachte Lara. Es war ziemlich dunkel.

„Ach, Mist“, schimpfte der Großvater leise. „Wir brauchen eine Taschenlampe. Hier oben haben wir ja nie elektrisches Licht einbauen lassen.“ Er drehte sich um, und lief die Treppe wieder schnellen Schrittes herunter. Unten hörte man noch zwei weitere „Mist!“. Dann kam er wieder herauf. Diesmal etwas lauter schnaufend. In der Hand hatte er eine dicke Kerze.

„Ich hab vergessen, Batterien zu kaufen. Die Taschenlampe geht deshalb auch nicht“, grummelte er entschuldigend vor sich hin. Er drängelte sich an den drei anderen vorbei und ging voran in den dunklen Speicherraum.

Es roch muffig, nach Staub und Spinnweben. Das Kerzenlicht gab den Blick frei auf ein ziemliches Durcheinander. In der hinteren rechten Ecke befand sich eine große Kommode. Darauf stand ein Spiegel, der schon blind geworden war. Daneben lehnte ein zerlegtes Bettgestell an der Wand. Links stand ein großer schwarzer Schrank. Wahrscheinlich ein alter Wohnzimmerschrank. Auf der der Tür gegenüberliegenden Seite entdeckte Lara eine große Staffelei. Auf ihr stand irgendein Gemälde. Man konnte es aber nicht erkennen, es war von einem gelblichen Tuch vollständig bedeckt. Der Großvater steuerte auf die Staffelei zu.

Das Tor

Peter hustete vor Aufregung. Außerdem machte ihm der Staub hier oben sehr zu schaffen. Allergien plagten ihn, die Lunge schmerzte, der Hals kratzte. Er brauchte einen Zug aus seinem Asthmaspray. Der Knonk schaute ihn neugierig an.

Der Großvater griff nach dem gelben Tuch. Als er den vollkommen verstaubten Stoff beiseite zog, wurde der Raum schlagartig heller. Die Farben des Gemäldes reflektierten nicht nur den fahlen Kerzenschein, sie schienen selbst förmlich zu leuchten, als würde hinter der Leinwand ein Feuer brennen und durch den bemalten Stoff hindurch scheinen. Aber dahinter war nichts. Das Licht kam in der Tat von dem Bild selbst.

„Ah, da ist es ja“, entfuhr es dem Großvater zufrieden. „Seht Ihr, Kinder. Das ist ein Tor.“

„Gibt es davon noch mehr?“ Jetzt war Peters Neugier geweckt.

„Ja, aber nicht sehr viele. Im Großen Museum hängen ein paar. Aber die Museumsleute wissen nicht, welchen Schatz sie da haben. Ansonsten gibt es noch eines im Louvre und eines im Prado. Das war’s.“

„Nein, die Bilder sind weg, alle“, warf der Knonk ein.

Der Großvater seufzte. „Weg?“

„Ja, sie sind gestohlen worden“, entgegnete der Knonk. Und er fügte mit finsterem Blick hinzu: „Das waren bestimmt diese Schattenspäher.“

Der Großvater schüttelte den Kopf. Dann wandte er sich wieder dem Bild zu. Sein Gesicht schien vor Freude über den vergessenen und nun wieder gefundenen Schatz um einige Jahre jünger geworden zu sein. Gleichzeitig mischte sich Sorge in seinen Gesichtsausdruck. Wenn die Schattenspäher hinter den Bilderdiebstählen steckten, war es kein Zufall, dass sie jetzt auch hier aufgetaucht waren. Sie wollten das letzte Tor.

„Na, geht es jetzt los?“ Der Knonk wurde langsam ungeduldig.

 

„Ja.“ Laras Augen strahlten. Das Gesicht des Großvaters füllte sich mit Sorge. Und Peter entgegnete: „Äh, Lara, das geht nicht.“ Er dachte daran, wie seine Mutter wohl reagieren würde, wenn er heute Abend um 18:30 Uhr nicht wieder zu Hause wäre. Und er wollte sich gar nicht ausmalen, was seine Mutter wohl sagen würde, wenn er erst sehr viel später nach Hause käme und ihr erklären müsste, dass er ja nicht um 18:30 Uhr hatte da sein können, weil er ein ominöses Coloranien retten musste… „Meine Eltern werden sicher nicht begeistert sein, wenn ich heute Abend nicht pünktlich zu Hause bin…“

Der Knonk tippte hektisch mit dem rechten Fuß auf den Boden. Er wurde immer ungeduldiger. „Das gibt es doch nicht!“ warf er energisch ein. „Die Jugend von heute ist träge und feige. Wer hat früher schon danach gefragt, was die Eltern wohl sagen würden, wenn es doch eine Welt zu retten gab…“

Der Großvater nickte verständnisvoll. „Macht Euch darum mal keine Sorgen. Die Uhren gehen in beiden Welten anders. Ihr werdet zurück sein, bevor es 18:00 Uhr ist.“ Er legte den beiden aufmunternd die Hände auf die Schultern und dachte: ‚Hoffentlich…’

Doch jetzt wurde es Peter sehr mulmig. „Und was ist, wenn uns da was passiert?“ Peter war eigentlich nicht für unvorhersehbare Abenteuer zu haben. Genau genommen mochte er überhaupt keine Abenteuer. Schon die Märchenbahn im Freizeitpark war ihm an manchen Stellen zu aufregend. Gleichzeitig würde er diese andere Welt aber auch mal gerne sehen. Mut und Verzagtheit wechselten sich bei ihm im Kopf gerade im Sekundentakt ab.

Lara blickte Peter an, dann den Knonk, der immer missmutiger dreinschaute und dann den Großvater. Peter erwiderte unentschlossen ihren Blick. Das Ganze klang wie eine total verrückte Sache. Doch Lara nickte Peter aufmunternd zu.

Dann sagte der Großvater: „Ach so, ich muss ja noch ein paar Sachen zusammensuchen. Wartet hier, ich bin gleich wieder da.“ Der Großvater drückte Peter die Kerze in die Hand und ging – nein lief – nein sprang schon fast – die Treppe hinunter.

Lara betrachtete derweil das Gemälde. Es zeigte eine leicht hügelige Landschaft. Rechts schlängelte sich ein kleiner Bach entlang, der fröhlich vor sich hinzuplätschern schien. In der Mitte leuchtete das Gras saftig grün. Es war über und über durchsetzt von Blumen der unterschiedlichsten Farben. Links begrenzte ein großer Baum das Bild. Er sah aus, wie eine alte, dicke Eiche. Im Hintergrund ragte ein weißer Turm auf. Er gehörte zu einem großen Gebäudekomplex, der aussah wie ein großes Schloss. Vom Vordergrund ausgehend wand sich ein kleiner Fußweg durch das Bild in Richtung des weißen Turms.

Wie schön das Bild war. Noch nie hatte Lara so klare, helle und reine Farben gesehen. Obwohl doch! Jetzt erinnerte sie sich an den kleinen Raum im Großen Museum, in dem sie den Knonk getroffen hatte. Einige Bilder an den Wänden dort hatten einen ähnlich eigentümlichen Glanz verstrahlt. Sie ging näher heran. Plötzlich war ihr, als könnte sie die Blätter des Baumes, der auf dem Bild abgebildet war, rauschen hören. Sie machte wieder einen Schritt zurück. Das Rauschen verstummte. Dann ging sie nochmals heran und es war wieder zu hören. Immer stärker wurde der Wunsch, das Gemälde zu berühren. Unten hörte man den Großvater poltern. Etwas fiel zu Boden und er fluchte leise. Lara drehte sich kurz von dem Gemälde weg, verspürte aber gleich wieder den Drang, sich ihm zuzuwenden. Peter beobachtete, wie neugierig Lara das Bild anschaute, während der Knonk unruhig hin- und herwippte. „Wie lange dauert das denn noch?“ fragte er in die Dunkelheit des Raumes hinein. Lara hob ihre Hand. Sie wusste selbst nicht warum. Langsam bewegte sie sich auf das Bild zu.

„Lara, nicht!“ Peter griff nach ihrem Arm. Ihm war das Ganze immer noch nicht geheuer. Der Knonk schaute Lara skeptisch an und fasste sie dann am Bein. Er wollte gerade sagen: „Lass…“ und schwups waren die drei verschwunden.

Schattenspäher

Endlich stapfte der Großvater zufrieden die Treppe wieder hinauf. „Ich hab alles zusammen!“ rief er, noch bevor er oben angekommen war. Niemand antwortete ihm. Als er in den Raum trat, war er verlassen. Die Kinder und der Knonk waren weg.

„Die werden doch wohl nicht, ja so was…“ murmelte er und starrte auf das Bild. Sie mussten durch das Tor gegangen sein! Doch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, spürte er, wie ihm ein dunkler Umhang ins Gesicht schlug.

Schattenspäher!

Er hörte ein lautes Pfeifen. Dann sah er zwei gelbe Augenpaare boshaft in der Dunkelheit blitzen. Er riss instinktiv die Arme über den Kopf, um eine drohende Attacke abzuwehren. Tatsächlich fing er damit den Schlag eines Angreifers ab.

Der Großvater machte einen Satz in Richtung Treppe, wurde aber von dem zweiten Schattenspäher am Arm gepackt und niedergerissen. Neben der Tür stand ein alter Wanderstock. Auf dem Boden liegend griff der alte Mann danach. Mit Mühe bekam er ihn zu fassen. Er packte kräftig zu und schlug mit dem Stock auf den Angreifer ein. Mit dem dritten Schlag erwischte er ihn in Kniehöhe. Offensichtlich verursachte dies der Kreatur starke Schmerzen, denn sie zog sich laut winselnd in die hintere Ecke des dunklen Raumes zurück.

Der zweite Schattenspäher war geschickter. Er wich mit wehendem Umhang den Angriffen des alten Mannes aus. Der Großvater versuchte wieder auf die Füße zu kommen. Doch die zweite Kreatur drückte ihn nieder. Nach längerem Ringen bekam er aber auch sie mit dem Stock zu packen. Sie krümmte sich vor Schmerz und ließ von ihm ab. Der Großvater sprang auf und lief zur Treppe. Er rannte so hastig herunter, dass er beinahe stürzte. Im letzten Moment konnte er sich noch am Treppengeländer festhalten. Er eilte ins Wohnzimmer und griff nach dem Spiegel. Dann drehte er sich um. Mit angstverzerrtem Gesicht und völlig außer Atem starrte er auf die Treppe. Doch nichts geschah. Die alte Wanduhr tickte leise.

Plötzlich hörte der Großvater ein Rumpeln. Sein Herz schlug immer noch laut und heftig und sein Atem ging schwer. Er lauschte wieder. Nichts rumpelte mehr. Die alte Wanduhr tickte gemächlich weiter.

Lange Zeit stand er so da. Irgendwann fasste er sich dann aber doch ein Herz und stieg die Treppe wieder hinauf, ganz langsam, Stufe für Stufe. Immer wieder blieb er stehen und lauschte. Endlich war er oben angekommen. Nichts passierte. Seine Beine zitterten von der Anstrengung. Den Spiegel umklammerte er fest. Schließlich schaute er vorsichtig um die Ecke.

„Ich hätte hier wirklich mal eine Lampe einbauen sollen“, fluchte er leise. Es war stockfinster. Der Wanderstock lag noch auf dem Boden an der Treppe, wo er ihn vorher hatte fallen lassen. Vorsichtig zog er ihn mit dem Fuß zu sich her. Er schaute nochmals in den Raum. Ja, tatsächlich, er war dunkel. Ganz dunkel. Das Leuchten des Bildes war verschwunden. Die Staffelei war leer.

Unvermittelt hörte er ein Sirren. Die beiden Schattenspäher schossen aus der Dunkelheit an ihm vorbei, das Bild unter dem wehenden Mantel. Der Großvater machte einen Schritt zurück und wäre fast gestrauchelt. Die Schattenspäher sprangen die Dielen herunter, dass es nur so krachte. Dann rissen sie die Haustür auf und flohen in den Wald. Der Großvater hörte, wie die Haustür laut scheppernd wieder ins Schloss fiel. Dann war es wieder ganz still. Nur die Wanduhr tickte.

Langsam ging der Großvater die Treppe wieder herunter. Er spürte, wie erschöpft er war. Die Knie zitterten. Das Atmen fiel ihm schwer. Er musste sich am Treppengeländer festhalten. Die Schattenspäher hatten bei ihrer hastigen Flucht einiges zertrümmert. Die fliederfarbene Vase neben dem Eingang lag in Scherben. Der Großvater hatte sie vor langer Zeit aus China mitgebracht. Zwei Gemälde seines Schwiegersohnes, die im Treppenhaus gehangen hatten, waren herunter gefallen. Die Scheiben waren zerbrochen und die Rahmen gesprungen.

Unten angekommen setzte sich der alte Mann auf eine der abgetretenen Stufen. Nur langsam konnte er wieder einen klaren Gedanken fassen. Erst war seine Enkelin weg und jetzt das Tor. Hoffentlich war sie sicher auf der anderen Seite angekommen. Er schüttelte traurig den Kopf und strich sich über das Kinn. Er konnte nur hoffen, dass der Knonk den Kindern schnell den Heimweg zeigen würde.

Langsam stand der Großvater auf und fasste sich an den schmerzenden Rücken. Er verzog das Gesicht. Dann ging er zur Haustür, öffnete sie und starrte in den Winterwald. Kalter Wind blies ihm ins Gesicht. Eiskristalle wurden von den schneebeladenen Nadelbäumen hereingeweht. Sein Blick fiel auf die kleine Tanne, die er vor nicht allzu langer Zeit neben dem Eingang gepflanzt hatte. Ihre Blätter waren aschfahl.

„Es hat also begonnen“, murmelte er. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis sein ganzer Wald großflächig betroffen sein würde. Wie betäubt drehte er sich um und ging zurück ins Haus. Weil er die Stille nicht ertrug, stellte er das Radio an. Musik dudelte vor sich hin. Dann kamen die Neuigkeiten des Tages.

„…Ein neuer Virus hat mittlerweile weltweit unterschiedliche Pflanzenarten befallen. Die Blätter der betroffenen Pflanzen färben sich über Nacht aschfahl mit einem leichten Lilastich und die Pflanzen sterben ab…“

Der Großvater schaltete das Radio wieder aus. Entsetzt schüttelte er den Kopf. „Hoffentlich geht es Lara und Peter gut“, murmelte er hilflos. „Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.“

Alle Tore waren verschwunden. Er würde nichts tun können, als warten und hoffen…

Kapitel 2: Eine unbekannte Welt
Auf der anderen Seite

Lara öffnete die Augen. Der Dachboden war verschwunden. Stattdessen stand sie mitten auf einer Wiese. Sie blinzelte. Die Sonne stand hoch. Ihre Augen brauchten einige Zeit, um sich an das grelle Licht zu gewöhnen. Sie war tatsächlich durch das Bild nach Coloranien gelangt!

„Aua“, entfuhr es ihr sogleich. Peter hatte sich wohl etwas sehr fest an sie geklammert.

„Tschuldigung“, stammelte er sichtlich erschrocken, während er sich mit eingezogenem Kopf umschaute.

Der Knonk hing auch noch an Laras Bein und schimpfte leise vor sich hin. „Das darf ja wohl nicht wahr sein!“ rief er aufgeregt, als er sie losließ. „Wo ist Raffael? Warum kommt er nicht nach?“

Peter war so verdattert, dass er gar nichts sagen konnte. Mit offenem Mund stand er da. Lara schaute betreten. Plötzlich flackerten für ganz kurze Zeit die Farben um sie herum. Die Kinder erschraken. Der Knonk kniff nachdenklich die Augen zusammen. Sein Gesicht verfinsterte sich. „Irgendetwas stimmt mit dem Tor nicht. Da stecken sicher die Schattenspäher dahinter!“ sagte er mit düsterer Stimme.

„Was?“ brach es aus Peter heraus. Lara riss die Augen auf.

„Raffael wird uns bestimmt nicht folgen können“, ergänzte der Knonk.

Peter zwickte sich in den Arm, um aus diesem schlimmen Traum wieder aufzuwachen. Aber es geschah nichts. Er stand immer noch an diesem seltsamen Ort.

„Wir haben keine Zeit mehr. Na gut, dann kommt Ihr eben alleine mit. Wir brauchen einen Palidonier. So hat es die Prophezeiung vorhergesagt. Naja, und jetzt haben wir dann eben zwei halbe Palidonier.“ Der Knonk drehte sich zum Gehen.

„Ja, aber was ist denn mit Großvater? Wir müssen doch wieder zurück!“ rief Lara ganz aufgeregt.

Der Knonk schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, wir sind erstmal auf uns gestellt.“

„Ja, aber…“ Lara blickte missmutig drein.

„Lara, da gibt es kein aber.“ Der Knonk schaute sie ernst an. Da nickte das Mädchen langsam. Sie würden wohl erstmal alleine klarkommen müssen.

Peter versuchte Luft zu holen. Er griff nach seinem Asthmaspray. Dann schaute er sich erneut um. Auch Lara begann, die Umgebung, in der sie gelandet waren, richtig wahrzunehmen. Alles war so, wie es auf dem Bild dargestellt gewesen war. Der Himmel war so blau, wie sie es in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen hatten. Ein leichter Frühlingswind umwehte sie und es lag schwerer Blütenduft in der Luft. Leise hörte man den Bach hinter ihnen plätschern. Vögel sangen fröhlich vor sich hin.

Lara musste an ihren Vater denken. Ob er hier auch schon einmal gewesen war? Sie versuchte sich vorzustellen, wie er hier einst stand und sich umschaute. Doch leider erinnerte sie sich kaum an sein Gesicht. Sie rief sich die wenigen Fotos, die sie zu Hause von ihm noch hatten, ins Gedächtnis. Ob er hier noch irgendwo war? Ob er sie vermisste?

Schließlich sah Lara nach oben. Sie standen unter dem Baum, der das Bild begrenzt hatte. Tatsächlich. Es war eine alte Eiche.

 

„Ui, die ist aber dick. Sie ist bestimmt ziemlich alt“, sagte Lara staunend, als sie an dem borkigen Stamm entlang nach oben schaute.

„Also bitte, so etwas sagt man ja wohl nicht zu einer Dame!“ zischte es von oben herab. Lara zuckte zusammen, Peter machte vor Schreck den Mund auf und der Knonk – ja, er war mal wieder genervt. Aber bevor er zu seiner üblichen Schimpferei ansetzen konnte, tat dies schon die alte – pardon – die Eiche.

„Ihr jungen Leute habt wirklich kein Benehmen mehr. Also so was. Wo kommt Ihr überhaupt her, so plötzlich und ohne Ankündigung?“

„Sie… äh… Sie können sprechen?“ stammelte Lara ein bisschen ungläubig. Sicher sie hatte schon in vielen Geschichten von sprechenden Bäumen gehört. Eine Eiche war natürlich auch dabei gewesen. Aber sie hätte doch nie gedacht, dass sie mal vor einer stehen und dann auch noch von ihr angeraunzt werden würde.

„Natürlich kann ich sprechen!“ zischte die Eiche mit hoher Stimme. „Wie alle Eichen. Was ist das denn für eine dumme Frage? Wo kommst Du denn her? Bei Euch können die Vögel wohl auch nicht fliegen, was? Ph… so was… gibt es doch gar nicht…“

Die Eiche wollte sich gar nicht mehr beruhigen. Laut rauschten ihre Blätter im Wind. Da schaute sie sich die Neuankömmlinge doch noch einmal etwas genauer an. „Moment mal. Ihr seid aber nicht von hier, oder?“ Sie zögerte ein wenig, dann fuhr sie fort: „Nein, ich weiß, Ihr seid die Palidonier, die Sehenden! Ach so, ja dann. Klar, in Eurer Welt können Bäume nicht sprechen. Gut, dann kann ich die Aufregung verstehen.“ Dann räusperte sie sich und sagte in feierlichem Ton und mit sehr hoher Stimme: „Willkommen, liebe Palidonier. Ich hoffe, Ihr werdet uns helfen können.“

„Danke, liebe Eiche“, entgegnete Lara etwas verdattert.

„Dann gibt es das alte Bild also noch? Oh wie schön!“ Die Eiche war jetzt ganz aufgeregt vor Freude. „Ich kann mich noch an den jungen Mann erinnern, wie er vor langer Zeit hierher kam, und das Bild malte. Landschaftsmaler war er, so hat er es mir erzählt. Und aus einer Gegend namens Lothringen stammte er…“

„So, haben wir es jetzt. Ja? Seid Ihr soweit?“ Der Knonk stand wieder da und klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. Er deutete mit der rechten Hand in Richtung Palast, was so viel hieß, wie ‚Jetzt aber mal schnell’. Die drei machten sich auf dem schmalen Fußweg auf, dem Palast entgegen. Die Eiche rief ihnen noch ein freudiges „Viel Glück, Ihr Lieben!“ nach und raschelte wieder mit ihrem ausladenden Blätterdach.

Auf ihrem Weg zum Palast bemerkten die beiden Kinder allerhand Seltsames, was dem Knonk, da er ja für gewöhnlich hier lebte, natürlich nicht auffiel. So wuchsen am Wegesrand wunderschöne Wegwarten. Ihre unglaublich blauen Blüten waren viel dicker als zu Hause. Und während man an ihnen vorbeiging, drehten sie sich einem nach, als schauten sie einem hinterher. Sobald man sie passiert hatte, schienen sie sogar die Köpfe zusammen zu stecken und miteinander zu tuscheln.

„Lasst Euch von denen nicht aus der Ruhe bringen. Die schwätzen gerne…“, sagte der Knonk knapp, als er bemerkte, wie Lara und Peter staunend vor den Blumen standen. Daneben gab es hier und dort riesengroße Schmetterlinge. Sie schimmerten in allen erdenklichen Farben und schienen, je nachdem aus welcher Richtung man sie ansah, zu allem Überfluss ihre Farben auch noch zu wechseln. Außerdem brummten sie wie Hummeln. Die Hummeln dagegen flogen ganz leise und waren ziemlich klein, viel kleiner als herkömmliche Bienen. Am Himmel zog ein großer Schwarm Gänse. Jedenfalls dachte Lara das zuerst, bis der Schwarm weiter herunter kam, und sie erkennen konnte, dass es sich um Vögel handelte, die zwar die Silhouette einer Gans im Flug hatten, aber eher die Färbung von Kanarienvögeln aufwiesen. Sie kreischten wie Krähen. Zwischen den Blumen wuchsen winzige Tannen, nicht größer als Steinpilze. Dafür wurden manche Grashalme baumhoch, wie sie weiter hinten am Waldesrand erkennen konnte. Außerdem bildeten noch riesige Flockenblumen und Schafsgarben Teile des Waldes. Sie waren haushoch und ihre Blüten schimmerten violette und schneeweiß in der Frühlingssonne. Zwischen diesen seltsamen Waldgewächsen erkannte Lara plötzlich Giraffen. Sie streckten ihre langen Hälse ganz nach oben, um an die weichen Spitzen der Baumgrashalme zu gelangen. Aber irgendetwas stimmte auch mit diesen Giraffen nicht. Ach, ja. Sie hatten keine braunen Flecken, sondern trugen ein geringeltes Muster aus Streifen in Tiefrot und strahlendem Gelb. Auf ihrem Kopf ragten an der Stelle, wo sonst die kleinen Hörner saßen, purpurne Federn heraus und wippten heftig, sobald sie den Kopf bewegten…

Ups. Beinahe wäre Peter über ein kleines Tier gestolpert, als er gedankenverloren den Weg entlang stapfte und dabei nicht aufhören konnte, sich über diese fremde Welt zu wundern. Was war das denn? ‚Das ist ja ein kleines Nashorn! Und es ist pink’, dachte er. Richtig, vor seinen Füßen stand ein Nashorn, nicht größer als eine Hauskatze und schaute ihn von unten trotzig an. „Man sollte schon schauen, wo man hingeht“, schimpfte es und ging dann seines Weges. Peter schaute ihm staunend nach.

Sie kamen an einem Teich vorbei. Rosa Schwäne und blaue Enten planschten in dem kristallklaren Wasser. Gelbe und rote Mückenschwärme tanzten über die Wasseroberfläche. Ein Teil des Teiches war von Seerosen bedeckt. Ihre Farben schienen in dem hellen Licht regelrecht zu flirren und sich in ihre Einzelteile zu zerlegen. In der sumpfigen Uferzone erspähte Lara eine Schlange. Sie schimmerte in allen Farben des Regenbogens. Ihr Schwanz trug farbige Federn. Sie hob den schweren Kopf und schaute die Fremdlinge an. „Guten… sss… Tag“, zischte sie. Ihre gespaltene Zunge bewegte sich dabei unablässig. „Ihr seid… sss… nicht… sss… von hier.“

„Wir scheinen hier ja sehr aufzufallen“, raunte Peter Lara zu.

Der Knonk drehte sich um und sagte: „Natürlich fallt Ihr hier auf.“

„Guten Tag“, sagte Lara noch zu der Schlange, bevor sie schnellen Schrittes dem Knonk nacheilen musste. Peter tat es ihr gleich. Die Schlange schaute ihnen nach. „Ihr seid sss… aus Palidonien… sss… stimmt’s?“ zischte sie den beiden hinterher. Peter und Lara blieben wieder stehen und drehten sich um. Die Schlange schaute sie eine Weile lang an. Der Knonk ging derweil einfach weiter. Er schien gar nicht bemerkt zu haben, dass die beiden Kinder immer noch bei der Schlange standen.

„Ich kenne Eure Welt“, hob die Schlange schließlich an. „Ich war schon einmal dort, vor sehr langer Zeit.“ Dann richtete sie sich auf. Erst jetzt konnte man erkennen, wie groß sie war. Ihr Körper wand sich um den halben See. Doch ihre Augen sahen gar nicht aus, wie die Augen einer Schlange. Sie waren sanft und dunkel. „Ihr seid hier, um uns zu helfen, stimmt’s? Die Weisen in Coloranien rätseln, was es mit diesen seltsamen Vorgängen wohl auf sich haben mag.“

Der Knonk war mittlerweile stehen geblieben und tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden.

„Ihr solltet vorsichtig sein“, fuhr die Schlange fort und bewegte dabei ihren Kopf auf die Kinder zu. „Wer auch immer hinter den dunklen Ereignissen stecken mag, er wird schnell ein Auge auf Euch werfen. Seid also auf der Hut. Und bedenkt, nicht alle Coloranier sind Euch Palidoniern gewogen. Einige haben sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Ich wünsche Euch alles Gute, Ihr Regenbogengeborene.“ Dann legte sie ihren Kopf wieder ab und begann in der Sonne zu dösen.

Lara und Peter bedankten sich und folgten schließlich dem Knonk. Beide waren von den Worten der Schlange beunruhigt, ahnte aber noch nicht, wie recht sie behalten würde.

„Was meinte die Schlange denn mit ‚Ihr Regenbogengeborene’?“ fragte Lara den Knonk.

Dieser zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung“, entgegnete er. „Diese Schlangen plappern immer so ein Zeug, das man nicht versteht.“

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