Europarecht

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

VI. Geeignete Vorkehrungen und Grundprinzipien für Fördermaßnahmen

47

Der Wortlaut der Art. 19 Abs. 1 und 2 AEUV lässt offen, welche Handlungsformen der EU zur Verfügung stehen. Neben den unterschiedlichen Verfahren (s.o. Rn. 33 ff.) ist auch hinsichtlich der Intensität zu differenzieren.

1. Geeignete Vorkehrungen, Art. 19 Abs. 1 AEUV

48

Hierunter fallen grundsätzlich alle denkbaren Handlungsformen, d.h. neben rechtlich verbindlichen auch rechtlich unverbindliche (z.B. Empfehlung). Vornehmliches Mittel der Wahl waren bisher Richtlinien (s. die sog. Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/43/EG, die sog. Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG und die Richtlinie 2004/113/EG, welche die Gleichbehandlung der Geschlechter beim Zugang zu bzw. der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen betrifft). Somit kann die EU auch Einfluss auf die Gestaltung von Privatrechtsverhältnissen nehmen, die dann von der Umsetzungsgesetzgebung erfasst sind, sofern die jeweils genutzten, der Union übertragenen Zuständigkeiten (Rn. 45 f.) dies zulassen.

2. Grundprinzipien für Fördermaßnahmen, Art. 19 Abs. 2 AEUV

49

Werden die Mitgliedstaaten tätig, um Ungleichbehandlungen i.S.v. Art. 19 Abs. 1 AEUV zu bekämpfen, kann dies nach Art. 19 Abs. 2 AEUV durch die EU gefördert werden. Die EU darf also immer nur einen Beitrag leisten, und dieser darf lediglich unverbindlich sein, also keine Harmonisierung des nationalen Rechts vorschreiben.

A › Anwendungsvorrang des EU-Rechts (Tobias H. Irmscher)

Anwendungsvorrang des EU-Rechts (Tobias H. Irmscher)

I.Unionsrecht als eigenständige Rechtsordnung mit unmittelbarer Geltung51, 52

II.Grundlagen zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts53 – 65

1.Herleitung54 – 57

2.Inhalt und Auswirkung58 – 61

3.Adressaten62, 63

4.Abgrenzung zum Geltungsvorrang64, 65

III.Grenzen des Anwendungsvorrangs66 – 74

1.Einhaltung eines unabdingbaren Grundrechtsstandards68, 69

2.Einhaltung der Kompetenzgrenzen (Ultra-vires-Kontrolle)70, 71

3.Schutz der Verfassungsidentität (Identitätskontrolle)72, 73

4.Einschätzung74

Lit.:

S. Hwang, Anwendungsvorrang statt Geltungsvorrang? Normlogische und institutionelle Überlegungen zum Vorrang des Unionsrechts, EuR 51 (2016), 355; T. Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, 2013; M. Ludwigs/P. Sikora, Der Vorrang des Unionsrechts unter Kontrollvorbehalt des BVerfG, EWS 26 (2016), 121; B. Schöbener, Das Verhältnis des EU-Rechts zum nationalen Recht der Bundesrepublik Deutschland, JA 2011, 885; A. Schwerdtfeger, Europäisches Unionsrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – Grundrechts-, ultra-vires- und Identitätskontrolle im gewaltenteiligen Mehrebenensystem, EuR 50 (2015), 290.

50

Der Anwendungsvorrang bezeichnet eine allgemeine Kollisionsregel für das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht der Mitgliedstaaten, die besagt, dass bei Normkollisionen dem EU-Recht Vorrang zukommt. Folge ist, dass das kollidierende mitgliedstaatliche Recht im konkreten Fall zwar nicht unwirksam, aber unanwendbar ist (Rn. 64 f.). Inhaltlich ist der Anwendungsvorrang des EU-Rechts v.a. von der unionsrechtskonformen Auslegung zu differenzieren (→ Auslegung des nationalen Rechts).

A › Anwendungsvorrang des EU-Rechts (Tobias H. Irmscher) › I. Unionsrecht als eigenständige Rechtsordnung mit unmittelbarer Geltung

I. Unionsrecht als eigenständige Rechtsordnung mit unmittelbarer Geltung

51

Mit dem Unionsrecht haben die Mitgliedstaaten eine neue, eigenständige Rechtsordnung außerhalb des jeweiligen nationalen Rechts geschaffen. Anders als völkerrechtliche Verträge und hiervon abgeleitete Sekundärrechtsakte kommt den Bestimmungen der Unionsrechtsordnung unmittelbare Geltung zu, d.h. sie gelten direkt und – jedenfalls in Bezug auf das → Sekundärrecht – ohne weitere Vollzugsanordnung oder sonstige Zustimmung des nationalen Gesetzgebers im innerstaatlichen Rechtsraum nach Maßgabe ihres eigenen Geltungsanspruchs; lediglich das → Primärrecht der Verträge unterliegt als Völkervertragsrecht dem jeweiligen, im nationalen Verfassungsrecht wurzelnden Rechtsanwendungsbefehl.

52

Die unmittelbare Geltung des Unionsrechts folgt aus dem besonderen Charakter der Verträge, welche die Gründung einer auf unbegrenzte Zeit angelegten Integrationsgemeinschaft zum Gegenstand haben, die mit eigenen Organen, mit Rechts-, Geschäfts- und internationaler Handlungsfähigkeit sowie mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist (EuGH, Urt. v. 15.7.1964, 6/64 – Costa/ENEL –, Rn. 8). Grundlage des Unionsrechts und seiner unmittelbaren Geltung ist somit eine Öffnung der innerstaatlichen Rechtsordnung durch die Übernahme unbedingter Verpflichtungen seitens der Mitgliedstaaten.

A › Anwendungsvorrang des EU-Rechts (Tobias H. Irmscher) › II. Grundlagen zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts

II. Grundlagen zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts

53

Die Entwicklung einer Unionsrechtsordnung mit unmittelbarem Geltungsanspruch auch im innerstaatlichen Bereich bei gleichzeitigem Fortbestand der innerstaatlichen Rechtsordnungen, wie dies dauerhaft in den Verträgen angelegt ist, wirft die Frage ihres Rangverhältnisses auf. Diese wird durch den Grundsatz des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts geregelt, über dessen Begründung und Herleitung unterschiedliche Ansichten bestehen.

1. Herleitung

54

Aus der Perspektive des Unionsrechts, wie sie v.a. vom → Europäischen Gerichtshof (EuGH) vertreten und weiterentwickelt wurde, besteht ein unbedingter und uneingeschränkter Anwendungsvorrang des Unionsrechts. Dies folgt aus dem Gebot der einheitlichen Wirkung: Um der auf der Grundlage der Gegenseitigkeit beruhenden Unionsrechtsordnung praktische Wirksamkeit zu verleihen und die Ziele der Verträge effektiv umzusetzen, bedarf es einer einheitlichen Wirkung in allen Mitgliedstaaten; diese kann sich nicht – wie im Völkerrecht – nach den verschiedenen innerstaatlichen Rechtsordnungen richten. Daraus folgt zwingend, dass die Mitgliedstaaten nicht von Unionsrecht abweichen dürfen – anderenfalls würde der Charakter des Unionsrechts und die Rechtsgrundlage der Union insgesamt in Frage gestellt. Die mit den Verträgen eingegangenen Verpflichtungen zur Beachtung und Umsetzung des Unionsrechts in Verfolgung der Zielvorgaben der Verträge sind unbedingt; ein Abweichen hiervon, soweit nicht explizit im Vertragstext vorgesehen, ist prinzipiell damit unvereinbar und unwirksam (EuGH, Urt. v. 15.7.1964, 6/64 – Costa/ENEL –, Rn. 8 ff.).

55

Der Vorrang wird zudem aus den Bestimmungen abgeleitet, die die unmittelbare Geltung und Verbindlichkeit der Unionsrechtsakte (jetzt Art. 288 AEUV) anordnen, und ergänzend aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV, → Unionstreue).

 

56

Die Verträge selbst enthalten demgegenüber keine Aussage zum Anwendungsvorrang; die von der Regierungskonferenz von Lissabon (→ Europäische Union: Geschichte) verabschiedete Erklärung (Nr. 17) zum Vorrang verdeutlicht die gemeinsame Überzeugung der Mitgliedstaaten, dass das Unionsrecht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des EuGH unter den dort genannten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten hat.

57

Die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen erkennen den Anwendungsvorrang des Unionsrechts im Grundsatz an, oft freilich nur nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehls – in Deutschland also nach Maßgabe des Zustimmungsgesetzes zu den Verträgen und der vom BVerfG als „Wirksamkeits- und Durchsetzungsversprechen“ (BVerfGE 126, 286 [302] – Honeywell) bezeichneten Ermächtigung in Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG, die die Übertragung von Hoheitsrechten und – im Rahmen und nach Maßgabe der Verträge – deren unmittelbare Ausübung bzw. Anwendung erlaubt (dazu unten Rn. 67).

2. Inhalt und Auswirkung

58

Der Vorrang des Unionsrechts ist mithin ein ungeschriebener Verfassungsgrundsatz der Union. Er ist Voraussetzung für die praktische Wirksamkeit der Verträge und der auf ihrer Grundlage erlassenen Rechtsakte, d.h. letztlich für den darauf fußenden Fortbestand der Union.

59

Als Kollisionsregel kommt er im Einzelfall zur Anwendung, wenn eine mitgliedstaatliche Rechtsnorm, gleich ob geschrieben oder ungeschrieben, im Widerspruch oder Konflikt zu den Bestimmungen des Unionsrechts steht: Erstere darf dann nicht angewendet werden und muss unberücksichtigt bleiben.

60

Voraussetzung ist allerdings ein wirklicher Konflikt in der Normanwendung, dass also die Anwendung der mitgliedstaatlichen Norm zu einem Ergebnis führen würde, das im Widerspruch zu Unionsrecht steht. Kann ein solcher Konflikt durch unionsrechtskonforme Auslegung der innerstaatlichen Vorschrift oder entsprechende Ermessensausübung vermieden werden, wird der Anwendungsvorrang nicht aktiviert; er flankiert insoweit den Grundsatz der Unionstreue.

61

Der Anwendungsvorrang erstreckt sich aus unionsrechtlicher Perspektive auf alle Rechtsnormen der Mitgliedstaaten, unabhängig von ihrer Rangstufe in der innerstaatlichen Normenhierarchie und unabhängig davon, ob sie vor oder nach dem widersprechenden Unionsrechtsakt in Kraft getreten sind. Er gilt für sämtliches innerstaatliches Recht – Gesetze, Rechtsverordnungen, Einzelrechtsakte und Verwaltungsentscheidungen eingeschlossen – und erstreckt sich auch auf das mitgliedstaatliche Verfassungsrecht (s. unten Rn. 67 ff.). Auch Verfahrens- und Zuständigkeitsvorschriften, bspw. für die Ungültigkeitserklärung nationalen Rechts oder die Umsetzung von Verwaltungsentscheidungen – z.B. betreffend die Rückforderung rechtswidrig gezahlter Beihilfen – oder sonstige Vorgaben, die die praktische Wirksamkeit unionsrechtlich verliehener Rechte erschweren oder unmöglich machen würden, werden von entgegenstehendem Unionsrecht verdrängt und müssen im konkreten Fall außer Betracht bleiben. Der Rang der Unionsrechtsnorm ist unerheblich; der Anwendungsvorrang gilt für Kollisionen mit Unionsrecht jeglichen Ursprungs und jeglicher Rangstufe und erstreckt sich mithin auch auf rechtskräftig gewordene Entscheidungen der Kommission.

3. Adressaten

62

Der Anwendungsvorrang ist von sämtlichen Organen und Einrichtungen der Mitgliedstaaten und ihrer Gliedstaaten zu beachten, soweit sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln. Insbesondere sind die mitgliedstaatlichen Gerichte verpflichtet, kollidierendes innerstaatliches Recht nicht anzuwenden – und zwar auch dann, wenn ihnen nach innerstaatlichem Recht keine Normverwerfungskompetenz eingeräumt ist (vgl. EuGH, Urt. v. 9.3.1978, 106/77 – Simmenthal II –, Rn. 21 ff.). In diesem Zusammenhang kommt der Möglichkeit nationaler Gerichte, ein → Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 AEUV einzuleiten, eine bedeutende Rolle zu. Dieses Verfahren ist zwar auf die Auslegung von Unionsrecht beschränkt; durch entsprechende Formulierung der Vorlagefrage kann jedoch faktisch auch die Vereinbarkeit einer innerstaatlichen Norm mit dem Unionsrecht einer Überprüfung durch den EuGH zugänglich gemacht werden. Zu berücksichtigen ist der Anwendungsvorrang auch von nationalen Verwaltungsbehörden, die insoweit zur Prüfung der Vereinbarkeit mit Unionsrecht und, im Falle der Kollision, zur Nichtanwendung der innerstaatlichen Vorschrift verpflichtet sind.

63

Schließlich bindet der Anwendungsvorrang die nationalen Gesetzgeber insoweit, als auch später erlassene Gesetze ihm unterliegen; für diese folgt eine Pflicht zur Achtung und Umsetzung des Unionsrechts zudem aus dem Loyalitätsgebot (Art. 4 Abs. 3 EUV). Hieraus ergibt sich im Einzelfall ein Verbot des Tätigwerdens i.S.e. Kompetenzsperre, soweit nämlich Gegenstände betroffen sind, die in die ausschließliche Kompetenz der Union fallen oder in Bezug auf die die Union auf der Grundlage einer geteilten (konkurrierenden) Zuständigkeit bereits tätig geworden ist (→ Verbandskompetenz). Aus dem Anwendungsvorrang ergibt sich überdies eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Rechtsbereinigung, d.h. eine Pflicht, wegen Kollision mit dem Unionsrecht unanwendbar gewordenes nationales Recht aufzuheben (EuGH, Urt. v. 2.7.1996, C-290/94, Rn. 29).

4. Abgrenzung zum Geltungsvorrang

64

Der Anwendungsvorrang bewirkt die Nichtanwendbarkeit des mit Unionsrecht unvereinbaren innerstaatlichen Rechts; dieses darf im konkreten Fall nicht herangezogen werden, muss also bei der konkreten Entscheidung außer Betracht bleiben. Die innerstaatliche Rechtsnorm bleibt jedoch weiterhin gültiges Recht. Ein Geltungsvorrang des Unionsrechts mit der Folge der generellen Unwirksamkeit bzw. Nichtigkeit ist nicht erforderlich, um dessen Vorrang im Kollisionsfall sicherzustellen, und wäre daher unverhältnismäßig.

65

Dies bewirkt, dass die grundsätzlich vom Anwendungsvorrang verdrängte mitgliedstaatliche Vorschrift auf Sachverhalte, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, weiterhin Anwendung finden kann – z.B. im Verhältnis zu Drittstaatsangehörigen oder im rein innerstaatlichen Kontext. Im Vergleich zum Geltungsvorrang bleibt der nationale Gesetzgeber durch einen Anwendungsvorrang somit besser geschützt.

A › Anwendungsvorrang des EU-Rechts (Tobias H. Irmscher) › III. Grenzen des Anwendungsvorrangs

III. Grenzen des Anwendungsvorrangs

66

Das Verhältnis zwischen zwei oder mehreren Rechtsordnungen – hier Unionsrechtsordnung und mitgliedstaatliche Rechtsordnung(en) – kann, soweit nicht eine dieser Rechtsordnungen ihren Geltungsanspruch aus sich heraus uneingeschränkt zurücknimmt, nicht von einer dieser Rechtsordnungen abschließend vorgegeben werden. Der unionsrechtlich mit den funktionalen Erwägungen der Sicherung der Einheitlichkeit des Unionsrechts und der Verwirklichung der Ziele der Union begründete Vorrang setzt daher dessen Akzeptanz durch die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen voraus.

67

Aus Sicht des BVerfG und anderer mitgliedstaatlicher oberster und Verfassungsgerichte folgen unmittelbare Geltung und Anwendungsvorrang des Unionsrechts aus dem mitgliedstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl – in Deutschland also aus dem Zustimmungsgesetz gem. Art. 23 Abs. 1 und Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG. Grundlage für die Geltung des Unionsrechts im deutschen Rechtsraum ist aus dieser Perspektive das Grundgesetz. Unionsrecht kann dann nur i.R.d. verfassungsrechtlichen Grenzen Geltung erlangen; selbst für Fälle der verfassungsändernden Übertragung von Hoheitsgewalt auf die Union gelten hiernach und im Einklang mit Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG die gem. Art. 79 Abs. 3 GG änderungsfesten Bestimmungen der Art. 1 und 20 GG – und zwar auch als Begrenzung des Anwendungsvorranges.

1. Einhaltung eines unabdingbaren Grundrechtsstandards

68

Der historisch erste Bereich, in dem das BVerfG seine Prüfungskompetenz gegenüber Rechtsakten der Union ungeachtet des Anwendungsvorranges behauptete und später ausdifferenzierte, betrifft den Grundrechtsschutz gegen Maßnahmen der EU. Hatte sich das BVerfG anfangs eine Prüfung auf Einhaltung der Grundrechte vorbehalten, „solange“ die Organe der EG einen hinreichenden Grundrechtsschutz nicht gewährleisteten (BVerfGE 37, 271 [285] – Solange I), ging es später dazu über, auf die Überprüfung von Unionsrechtsakten am Maßstab der deutschen Grundrechte zu verzichten, solange ein dem deutschen System gleich zu achtender und den Wesensgehalt der Grundrechte generell sicherstellender, wirksamer Schutz durch die Organe der EG gewährleistet ist (BVerfGE 73, 339 [378 ff.] – Solange II; Näheres dazu unter → Grundrechte: Historische Entwicklung).

69

Mittlerweile werden Verfassungsbeschwerden gegen Sekundärrechtsakte für von vornherein unzulässig erachtet, es sei denn, der Beschwerdeführer könnte darlegen, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des EuGH seit der Solange-II-Entscheidung unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken, also der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet sei (BVerfGE 102, 147 [164] – Bananenmarktordnung). Das BVerfG nimmt insoweit lediglich im Anwendungsbereich von Art. 1 GG eine Identitätskontrolle vor (dazu unten Rn. 72 f.). Im Übrigen ist mit dieser Rechtsprechung der Anwendungsvorrang im Verhältnis zu den Grundrechten faktisch und auf absehbare Zeit gesichert; die Grundrechtsgewährung obliegt den europäischen Gerichten nach Maßgabe der Unionsgrundrechte.

2. Einhaltung der Kompetenzgrenzen (Ultra-vires-Kontrolle)

70

Gemäß dem → Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung sind die Kompetenzen der Union durch die Verträge begrenzt; wird die Union außerhalb der so gesetzten Grenzen tätig, läge darin ein „ausbrechender Rechtsakt“ bzw. ein Handeln ultra vires („über ihre Befugnisse hinaus“). Das BVerfG behält sich die Prüfung der Kompetenzmäßigkeit von Unionsrechtsakten vor, da die Übertragung von Hoheitsrechten nach Maßgabe des gem. Art. 23 GG vom Bundestag verabschiedeten Zustimmungsgesetzes nur in Bezug auf ein klar festgelegtes und abgegrenztes „Integrationsprogramm“ erfolgen dürfe (BVerfGE 123, 267 [353 f.] – Lissabon). Eine Überschreitung der diesem Integrationsprogramm entsprechenden Kompetenzgrenzen seitens der Unionsorgane sei nicht mehr vom Zustimmungsgesetz gedeckt, weshalb ihnen insoweit die demokratische Legitimation fehle.

 

71

Allerdings setzt die Feststellung eines Handelns ultra vires voraus, dass der Verstoß hinreichend qualifiziert ist, d.h. dass das kompetenzwidrige Handeln offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zu Lasten der Mitgliedstaaten führt (BVerfGE 126, 286 [303 ff.] – Honeywell). Die Ultra-vires-Kontrolle dient auch der Gewährleistung des Rechtsstaatsprinzips, da sie die Notwendigkeit des Bestehens einer wirksamen Ermächtigung sicherstellt. Da es insoweit auf die Auslegung der Zuständigkeitsnormen der Verträge ankommt, aktiviert das BVerfG seit dem OMT-Verfahren die im Grundsatz auch für Verfassungsgerichte geltende Verpflichtung, diese Frage dem EuGH im Wege des → Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 267 AEUV vorzulegen (BVerfGE 134, 366 [323] – OMT-Vorlage).

3. Schutz der Verfassungsidentität (Identitätskontrolle)

72

Insofern Geltung und Anwendungsvorrang des Unionsrechts im deutschen Rechtsraum auf dem im Zustimmungsgesetz enthaltenen Rechtsanwendungsbefehl beruhen, unterliegen sie auch den grundgesetzlichen Grenzen für die Öffnung der nationalen Staatsgewalt, wie sie sich aus der unverfügbaren Verfassungsidentität des Grundgesetzes ergeben. Im Rahmen der Identitätskontrolle prüft das BVerfG, ob die durch Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze durch eine Maßnahme der Union berührt werden. Während nach Maßgabe der Ultra-vires-Kontrolle jede entsprechend qualifizierte Kompetenzüberschreitung den Prüfungsvorbehalt des BVerfG auslöst, wird i.R.d. Identitätskontrolle eine Kompetenzüberschreitung nur am Maßstab der absoluten Grenze des änderungs- und damit integrationsfesten Kernbestands des Grundgesetzes geprüft. In eng begrenzten Einzelfällen kann sich auch insoweit und trotz Anwendungsvorranges die Unanwendbarkeit des Unionsrechts ergeben, wobei eine entsprechende Feststellung u.a. als Folge der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes nur vom BVerfG selbst getroffen werden kann (BVerfGE 140, 317 [337] – Europäischer Haftbefehl).

73

Prüfungsmaßstab sind die von der Ewigkeitsgarantie in Art. 79 Abs. 3 GG erfassten Garantien, namentlich also die in Art. 20 GG verankerten Staatsstrukturprinzipien, und davon in erster Linie das Rechtsstaats-, das Demokratie- und das Sozialstaatsprinzip, und die durch Art. 1 GG geschützte Menschenwürde einschließlich des daraus ableitbaren unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutzes im Einzelfall. Aus dem Demokratieprinzip, dem darin verankerten Grundsatz der Volkssouveränität und einem diesem korrelierenden „Anspruch auf Demokratie“ folgt insbesondere ein Schutz vor einer Erosion der Gestaltungsmacht des Bundestages und seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung, den das BVerfG i.R.d. Identitätskontrolle und neben der Ultra-vires-Kontrolle vornimmt; zu den wesentlichen Bereichen demokratischer Selbstgestaltung zählen zudem die Staatsbürgerschaft, das zivile und militärische Gewaltmonopol, das Strafrecht und andere Formen des Freiheitsentzugs sowie kulturelle Fragen wie die Regelung von Sprache, Bildung, Familienordnung, Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit und Bekenntnisfragen (vgl. BVerfGE 123, 267 [358, Rn. 249] – Lissabon).