Geschichte meines Lebens

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„Der Ort, den wir einnehmen und der Frühling erinnern mich an Fayel. Aber ach! wie fern ist Boulogne — das traurige Schloß überläßt mich ganz meiner Sehnsucht. Als ich ankam, habe ich es ganz leer gefunden; Alles war mit dem Prinzen nach Elbing gegangen, wo die große Revue des Kaisers stattgefunden hat. Der Prinz hatte den Oberbefehl und hat mich schön herumgejagt. Lebe wohl, theures Weib; man spricht viel vom Frieden, nichts verkündigt die Wiederaufnahme der Feindseligkeiten. Ach! wann werde ich bei Dir sein! ich drücke Dich und unsre Kinder tausendmal in meine Arme. Denke an Deinen Gatten, Deinen Geliebten.

Moritz.“

„Wie liebenswürdig von meiner Aurora, daß sie an mich denkt, und daß sie es Dir schon zu sagen weiß.“

Im Monat Juni desselben Jahres begleitete mein Vater den Prinzen Murat, der seinestheils in Napoleon's Gefolge war, als dieser sich zu der berühmten Conferenz auf dem Floße von Tilsit begab. Im Juli kehrte mein Vater nach Frankreich zurück, begab sich aber mit Murat und dem Kaiser, der neun Könige und neun Fürsten ernennen wollte, bald darauf nach Italien.

Venedig, 28. Sept. 1807.

„Nachdem ich allen Abgründen von Savoyen und vom Montcenis entgangen war, bin ich in einen morastigen Graben des Piémont gefallen; es war die schwärzeste, widerwärtigste Nacht und noch dazu inmitten eines Holzes, das als Mördergrube berüchtigt ist, und wo am Tage zuvor ein Kaufmann aus Turin erschlagen und beraubt worden war. Mit dem Säbel in der einen, die Pistole in der andern Hand haben wir Wache gestanden, bis man uns mit verstärkten Kräften zu Hülfe gekommen ist. Bald nachher fehlten uns die Pferde zum Weiterkommen und endlich wurden die Wege entsetzlich schlecht. Als wir an das Ufer des Meeres kamen, hat sich der Wind gegen uns erhoben, so daß wir in den Lagunen beinahe Schiffbruch gelitten hätten. Endlich sind wir nun in dem schönen Venedig, wo ich noch nichts, als sehr häßliches Wasser in den Straßen gesehen, und nichts als sehr schlechten Wein an Duroc's Tische getrunken habe. Seit ich Paris verließ, ist dies die erste Nacht, die ich in einem Bette zubringen werde. Der Kaiser bleibt nur acht Tage hier. Ich habe nicht Zeit, Dir mehr zu sagen. Ich liebe Dich, Du bist mein Leben, meine Seele, mein Gott, mein Alles!“

Aus Mailand, den 11. December 1807.

„Diese Ueberschrift, meine Geliebte, muß Dir sagen, daß ich womöglich noch einmal so viel als sonst an Dich denke, da ich an einem Orte bin, der von den Erinnerungen unserer Liebe erfüllt ist, erfüllt von meinen Schmerzen, meinen Qualen und meinen Freuden. Ach! mit welchen Gefühlen habe ich die Gärten in der Nähe des Corso durchstreift. Nicht alle diese Gefühle waren angenehm, aber was sie alle beherrscht, ist meine Liebe für Dich, meine Ungeduld, in Deine Arme zurückzukehren. Zu Ende des Monats sind wir ganz gewiß wieder in Paris. Es ist unmöglich, daß Du Dich mehr langweilst als ich; ich stecke in Festen und Ceremonien bis über die Ohren. Alle meine Kameraden sagen dasselbe, und doch haben sie nicht so ernste Gründe, das Ende aller dieser Komödien zu wünschen, als ich. Für mich wird die Luft durch diese Größe, diese Würde, diese Steifheit, diese Langeweile ordentlich schwer. Der Prinz ist krank und aus diesem Grunde werden wir hoffentlich noch vor der Rückkehr des Kaisers abreisen, und ich werde Dich bald wiedersehen — Dich, meinen Engel, meinen Dämon und meine Gottheit. Wenn ich in Turin keinen Brief von Dir finde, werde ich Dich an den kleinen Ohren zupfen. Lebe wohl und tausend zärtliche Küsse für Dich, für Aurora und meine Mutter. Ich schreibe Dir aus Turin.“

Das Leben meines Vaters, dieses reine, edle Leben nähert sich seinem Ende. Ich werde von ihm nur noch eine fürchterliche Katastrophe zu erzählen haben. Von jetzt an werde ich durch meine eigenen Erinnerungen geleitet, und da ich nicht die Kühnheit habe, die Geschichte meiner Zeit außerhalb der Grenzen meiner eigenen Lebensgeschichte zu erzählen, werde ich von dem Feldzuge in Spanien nur das berichten, was ich mit eignen Augen davon gesehen habe — und zwar zu einer Zeit gesehen, als die äußern Dinge mir noch fremd und unverständlich waren, aber doch wie geheimnißvolle Bilder meine Aufmerksamkeit erregten. Man erlaube mir, etwas zurückzugehen und mein Leben in dem Augenblicke wieder aufzunehmen, wo ich begann, desselben bewußt zu werden.

Zweite Abtheilung.
Erstes Kapitel.
Die ersten Erinnerungen. — Die ersten Gebete. — Das silberne Ei der Kinder. — Der Vater Noël. — Das System J. J. Rousseau's. — Das Lorbeergehölz. — Polichinelle und die Straßenlaterne. — Die Romane zwischen vier Stühlen. — Militärische Spiele. — Chaillot. — Clotilde. — Der Kaiser. — Die Schmetterlinge und der Sohn der Jungfrau. — Der König von Rom. — Das Flaschenet. —

Man muß wohl glauben, daß das Leben an und für sich etwas Schönes ist, da der Beginn desselben so lieblich und die Jugend eine so glückliche Zeit ist. Es giebt Keinen unter uns, dem diese Zeit nicht wie ein goldner, längst entschwundener Traum erschiene, mit dem Nichts im späteren Leben sich vergleichen läßt. Ich sage ein Traum, denn wenn wir in diese ersten Lebensjahre zurückdenken, wo unsere Erinnerung noch unbestimmt umherschweift und nur einzelne Eindrücke aus der Unsicherheit des Ganzen in uns zurückbleiben, so wissen wir nicht zu sagen, warum diese Lichtblicke, die Andern unbedeutend erscheinen, auf uns selbst einen so mächtigen Zauber ausüben.

Das Gedächtniß ist eine Fähigkeit, die sich bei jedem andern Individuum anders zeigt, und die, da sie bei Keinem vollständig ist, tausend Inconsequenzen hat. Bei mir, wie bei vielen andern Menschen ist sie in gewisser Beziehung außerordentlich entwickelt und in anderer außergewöhnlich schwach. Ich erinnere mich nur mit Anstrengung der kleinen Begebenheiten vom vergangenen Tage und den größten Theil der Einzelnheiten vergesse ich für immer — aber wenn ich den Blick weiter zurückwende, so finde ich Erinnerungen an ein Alter, in das die meisten Menschen nicht zurückzudenken vermögen. Hängt dies nun nothwendig von der Natur dieser Fähigkeiten in mir ab, oder von einer gewissen Frühreife des Selbstbewußtseins?

Vielleicht sind wir Alle in dieser Beziehung gleichmäßig begabt und vielleicht behalten wir eine klare oder dunkle Vorstellung der vergangenen Dinge nur im Verhältniß der größern oder geringern Erregung, die sie uns verursacht haben. Gewisse innere Vorgänge machen uns oft gleichgültig gegen Ereignisse, welche die Welt um uns her erschüttern. Es geschieht auch wohl, daß wir uns dessen, was wir schlecht begriffen haben, nur undeutlich erinnern und vielleicht ist das Vergessene nur eine Folge des Nichtbegreifens und der Unachtsamkeit.

Das mag nun sein, wie es will, meine erste Erinnerung, die ich hier mittheilen werde, schreibt sich aus dem frühesten Lebensalter her. Als ich zwei Jahr alt war, ließ mich meine Wärterin aus ihren Armen auf eine Kaminecke fallen; ich erschrak und verwundete mich an der Stirne. Dieser Stoß, diese Erschütterung des Nervensystems erweckte meinen Geist zum Gefühl des Lebens. Ich sah ganz deutlich und sehe noch den röthlichen Marmor des Kamins, mein dahinfließendes Blut und das verwirrte Gesicht meiner Wärterin. Ich erinnere mich eben so deutlich an den Besuch des Arztes, an die Blutigel, die man mir hinter das Ohr setzte, an die Unruhe meiner Mutter und an das Weggehen der Wärterin, die wegen Trunksucht verabschiedet wurde. Wir verließen das Haus; ich weiß nicht, wo es lag und bin nie dahin zurückgekehrt, aber wenn es noch existirt, so glaube ich, daß ich mich darin noch zurechtfinden würde.

Es ist daher gar nicht zu verwundern, daß ich mich der Wohnung, die wir ein Jahr später in der rue Grange-Batelière bewohnten, vollkommen erinnere. Von dort her datiren sich meine klaren und fast ununterbrochenen Erinnerungen. Aber von dem Unfall am Kamin bis zum Alter von drei Jahren kann ich mir nur eine unzählige Menge von Stunden zurückrufen, die ich schlaflos in meiner Wiege zubrachte und mit der Betrachtung einer Vorhangsfalte oder einer Tapetenblume ausfüllte.

Ich erinnere mich auch, daß die Bewegungen und das Summen der Fliegen mich viel beschäftigten, und daß ich die Gegenstände oft doppelt sah — ein Umstand, den ich nicht zu erklären vermag, dessen sich aber, wie mir gesagt ist, viele Menschen aus ihrer ersten Jugend erinnern. Vor Allem nahm die Flamme der Kerzen in meinen Augen diese Gestalt an und ich wußte, daß es eine Illusion war, konnte mich dem Eindrucke derselben jedoch nicht entziehen. Es scheint mir sogar, als hätten diese Einbildungen zu den einförmigen Unterhaltungen meiner Gefangenschaft in der Wiege gehört und dies Leben in der Wiege zeigt sich mir als ein außerordentlich langes und von einer sanften Eintönigkeit erfüllt.

Meine Mutter arbeitete früh an meiner Entwickelung, und wenn mein Gehirn auch keinen Widerstand leistete, so war es doch auch in keiner Weise voraus und hätte sich vielleicht erst spät thätig bewiesen, wäre man ihm nicht zu Hülfe gekommen. Gehen konnte ich, als ich zehn Monate alt war; sprechen lernte ich ziemlich spät, aber als ich angefangen hatte, einige Worte zu sagen, lernte ich die andern sehr schnell und mit vier Jahren las ich, sowie meine Cousine Clotilde; wir Beide waren wechselsweise durch unsre Mütter unterrichtet. Man lehrte uns auch Gebete und ich erinnere mich, daß ich sie ohne Anstoß von einem Ende zum andern hersagte, aber nicht das Geringste davon verstand — ausgenommen die ersten Worte des letzten Gebetes, das wir hersagen mußten, wenn wir, wie das oft geschah, unsere Köpfe auf ein Kissen legten. Es begann: Mein Gott, ich gebe dir mein Herz! Ich weiß nicht, warum ich dies besser als alles Andere verstand, denn es ist viel Metaphysik in diesen wenigen Worten; aber gewiß ist, daß ich es verstand, und daß es die einzige Stelle in meinen Gebeten war, bei welcher ich an Gott dachte und an mich selbst. Das Vater unser, den Glauben und das Ave Maria konnte ich sehr gut auf französisch, mit Ausnahme der Bitte: gieb uns heute unser täglich Brod! — aber wenn ich diese Gebete wie ein Papagei lateinisch hergeplappert hätte, würden sie nicht unverständlicher für mich gewesen sein.

 

Man ließ uns auch La Fontaine's Fabeln lernen; aber als ich sie fast alle konnte, waren sie mir noch immer ein verschlossenes Buch. Ich glaube, ich war es so müde, sie herzusagen, daß ich darum mein Möglichstes that, um sie recht spät zu verstehen und erst im Alter von 15 oder 16 Jahren wurde mir ihre Schönheit klar.

Man hatte sonst die Gewohnheit, das Gedächtniß der Kinder mit einer Unmasse von Schätzen anzufüllen, die über ihrem Begriffsvermögen stehen. Die kleine Anstrengung, die man ihnen dadurch verursacht, tadle ich nicht; Rousseau, der dieselbe in seinem „Emile“ ganz verwirft, setzt das Gehirn seines Zöglings der Gefahr aus, in Unthätigkeit so zu verdummen, daß es die Dinge, die für sein späteres Alter aufbewahrt sind, nicht mehr zu lernen vermag. Es ist gut, die Kindheit so früh als möglich an eine mäßige, aber tägliche Uebung der Geistesgaben zu gewöhnen; man beeilt sich nur zu sehr, ihnen köstliche Dinge darzubieten.

Es giebt keine Literatur zum Gebrauch für kleine Kinder, alle die hübschen Gedichte, die man ihnen zu Ehren gemacht hat, sind geziert und mit Worten überladen, die nicht aus ihrem Wörterbuche stammen. Die ersten Verse, die ich gehört habe, sind folgende, die wahrscheinlich Jedermann bekannt sind und mir meine Mutter mit der frischesten und sanftesten Stimme vorsang:

„Wir wollen in die Scheune geh'n,

Um das weiße Huhn zu seh'n;

Es legt ein Ei von Silber fein,

Das soll für unser Kindchen sein.“

Der Reim ist nicht eben reich; aber darauf kam es mir nicht an und das weiße Huhn, das silberne Ei, das man mir jeden Abend versprach und nach dem ich Morgens schon nicht mehr verlangte, machte auf mich den lebhaftesten Eindruck. Das Versprechen kam immer wieder und mit demselben die naive Erwartung. Freund Leclair, erinnerst Du Dich daran? auch Dir hat man jahrelang dies wunderbare Ei versprochen; es erweckte nicht Deine Habsucht, aber es erschien Dir als ein poetisches, anmuthiges Geschenk des guten Huhnes. Und wenn man Dir das silberne Ei gegeben hätte, was hättest Du damit gemacht? — Deine schwachen Hände hätten es nicht zu halten vermocht und Dein unstäter, wechselnder Sinn wäre dieses dummen Spielzeugs bald müde geworden. Was liegt an einem Ei, was liegt an einem Spielzeuge, das nie zerbricht? Aber die Einbildungskraft macht Etwas aus Nichts und die Geschichte dieses silbernen Eis ist vielleicht die aller materiellen Güter, deren Besitz unsere Begierde reizt. Der Wunsch ist viel, der Besitz ist sehr wenig.

Am Vorabend des Weihnachtsfestes sang mir meine Mutter ein ähnliches Lied vor; da dies jährlich aber nur einmal geschah, kann ich mich nicht mehr darauf besinnen. Desto deutlicher erinnere ich mich meines festen Glaubens an den Vater Noël, der als ein kleiner Greis mit weißem Barte erschien, durch den Schornstein in's Kamin hinunterstieg und um die Mitternachtsstunde ein Geschenk in meinen kleinen Schuh legte, das ich dann beim Erwachen fand. Mitternacht! diese phantastische Stunde, welche die Kinder nicht kennen, und die man ihnen als das unerreichbare Ziel ihres Wachens zeigt! welche unglaublichen Anstrengungen habe ich gemacht, um nicht vor der Ankunft des guten Alten einzuschlafen! ich hatte zugleich das größte Verlangen und die größte Angst, ihn zu sehen; aber es gelang mir nie, mich bis dahin wach zu erhalten, und am folgenden Morgen war mein erster Blick für den Schuh am Rande des Kamins. Welche Bewegung verursachte mir die Umhüllung von weißem Papiere! denn der Vater Noël war von außerordentlicher Reinlichkeit und versäumte nie, seine Gabe sorgsam einzuwickeln. Ich lief barfuß hin, um mich meines Schatzes zu bemächtigen; es war niemals ein sehr kostbares Geschenk, denn wir waren nicht reich. Es war nur ein kleiner Kuchen, oder eine Orange, oder ganz einfach ein schöner rother Apfel. Aber das erschien mir so köstlich, daß ich es kaum zu essen wagte. Die Einbildungskraft spielte auch hierbei ihre Rolle — sie ist das ganze Leben des Kindes.

Ich kann Rousseau, der alles Wunderbare als Lüge verwirft, durchaus nicht beistimmen. Die Vernunft und der Unglauben kommen früh genug und von selbst; ich erinnere mich genau des Jahres, als ich zuerst an der Existenz des Vaters Noël zu zweifeln begann. Ich war fünf oder sechs Jahr alt und dachte: es möchte wohl meine Mutter sein, die den Kuchen in meinen Schuh legte. Darum erschien er mir aber auch weniger schön und weniger wohlschmeckend, als die andern Male und ich fühlte eine Art von Bedauern, daß ich nicht mehr an den guten Alten mit weißem Barte glauben konnte. Ich habe meinen Sohn länger daran glauben sehen, denn Knaben sind einfältiger als Mädchen. Er machte, ebenso wie ich, große Anstrengungen, um bis Mitternacht wach zu bleiben; das mißlang ihm ebenso wie mir, aber am folgenden Morgen fand er, wie ich, den wunderbaren Kuchen, der in den Küchen des Paradieses gebacken ist. Aber auch für ihn war das erste Jahr des Zweifels das letzte, wo der gute Alte erschien. Man muß den Kindern die Speisen vorsetzen, deren sie gerade bedürfen und muß ihrem Alter nicht voraneilen, so lange ihnen das Wunderbare zusagt, muß man es ihnen geben; aber sobald sie anfangen, desselben überdrüssig zu werden, muß man sich wohl hüten, den Irrthum zu verlängern und den natürlichen Fortschritt ihrer Vernunft zu hemmen.

Das Wunderbare aus dem Leben des Kindes streichen, ist ein Eingriff in die Gesetze der Natur. Ist nicht die Kindheit selbst ein geheimnißvoller Zustand des Menschen und voll unerklärter Wunder? Woher kommt das Kind? Hat es nicht vielleicht, ehe es im Mutterschooße seine Gestalt gewann, im unergründlichen Schooße der Gottheit irgend ein Dasein gehabt? Entstammt das Theilchen Leben, das es erfüllt, nicht jener unbekannten Welt, in die es zurückkehren soll? Die rasche Entwickelung der Seele in unsern ersten Jahren; der wunderbare Uebergang aus einem chaotischen Zustande in ein verständiges und geselliges Dasein; die ersten Sprachbegriffe, die unbegreifliche Thätigkeit des Geistes, welcher lernt, nicht allein den äußern Dingen, sondern auch dem Thun, dem Gedanken, dem Gefühl einen Namen zu geben — dies Alles gehört zu den Wundern des Lebens und ich wüßte nicht, daß sie irgend Jemand erklärt hätte. Ueber das erste Zeitwort, das ich von kleinen Kindern aussprechen hörte, bin ich immer ganz erstaunt gewesen. Ich begreife, wie sie das Hauptwort lernen — aber die Zeitworte, und besonders die, welche Neigungen ausdrücken, sind etwas Wunderbares. Wenn das Kind seiner Mutter z. B. zum ersten Male sagen kann, daß es sie liebt, ist das nicht, als ob es eine höhere Eingebung empfangen und ausgedrückt hätte? Die äußere Welt, in welcher sich dieser arbeitende Geist bewegt, kann ihm noch keinen deutlichen Begriff von den Regungen der Seele gegeben haben. Er hat bis dahin nur in seinen Bedürfnissen gelebt und das Erwachen seines Verständnisses ist nur durch die Sinne vor sich gegangen. Das Kind will sehen, greifen, schmecken und alle äußern Gegenstände, deren Gebrauch es zum größten Theile nicht kennt, von deren Ursache und Wirkung es nichts weiß, müssen Anfangs wie eine räthselhafte Erscheinung an ihm vorübergehen. Hier beginnt nun die innere Verarbeitung: die Einbildungskraft erfüllt sich mit diesen Gegenständen; das Kind träumt im Schlafe; es träumt wahrscheinlich auch, wenn es nicht schläft, wenigstens kennt es während einer langen Zeit den Unterschied des schlafenden und wachenden Zustandes nicht. Wer kann sagen, warum es durch einen neuen Gegenstand erschreckt oder erheitert wird? Wodurch empfängt es den unbestimmten Begriff des Schönen und des Häßlichen? Durch eine Blume, durch einen kleinen Vogel wird es niemals erschreckt; eine mißgestaltete Maske, ein lärmendes Thier flößen ihm Furcht ein. Indem seine Sinne durch diese Gegenstände der Zuneigung oder des Widerwillens berührt werden, muß sich also seinem Begriffsvermögen eine Vorstellung des Vertrauens oder des Schreckens offenbaren, die ihm nicht beigebracht werden konnte, denn diese Anziehung und dies Abstoßen zeigt sich schon bei einem Kinde, das die Sprache noch nicht versteht. Es liegt also etwas in ihm, das allen Begriffen der Erziehung vorangeht und dies Etwas ist das Geheimniß, das mit dem Urquell des Menschenlebens im Zusammenhange steht.

Das Kind lebt natürlicherweise in einer, so zu sagen, überirdischen Umgebung; während Alles in ihm selbst wunderbar ist, muß ihm auf den ersten Blick Alles rings umher ebenso wunderbar erscheinen. Man erzeigt ihm keine Wohlthat, indem man sich bemüht, ihm ohne Schonung und Auswahl den Werth aller Dinge zu offenbaren. Es ist besser, wenn es selbst danach sucht, und wenn es sich in dem ersten Abschnitt seines Lebens auf eigene Weise einrichtet; denn anstatt seines unschuldigen Irrthums würden ihm unsere Erklärungen, die es nicht zu fassen vermöchte, nur andere Irrthümer geben, die vielleicht noch größer und für die spätere Klarheit seines Unheils, also für die Sittlichkeit seiner Seele auf immer verderblich wären.

Man mag daher noch so lange suchen, welchen Begriff der Gottheit man den Kindern geben könnte — es wird sich kein besserer finden lassen, als der jenes guten, alten Gottes, der im Himmel ist, und der Alles sieht, was auf Erden vorgeht. Später wird es Zeit sein, ihm begreiflich zu machen, daß Gott das unendliche Wesen ist, ohne Götzengestalt, und daß der Himmel nicht mehr in der blauen Wölbung, die uns umgiebt, zu suchen ist, als auf der Erde, die wir bewohnen und im Heiligthum unserer Gedanken. Aber warum sollten wir das Kind, für das jedes Symbol eine Wirklichkeit ist, auf das Symbolische hinweisen? Der unendliche Aether, der Abgrund der Schöpfung, der Himmel, in welchem die Welten kreisen, erscheint dem Auge des Kindes viel schöner und größer, als er durch unsre Erklärungen für seine Begriffe werden könnte, und wir würden das Kind mehr verwirren, als aufklären, wenn wir ihm die Maschinerie des Weltalls erklären wollten, so lange ihm das Gefühl von der Schönheit des Weltalls genügt.

Ist nicht das Leben des Individuums ein Abbild des allgemeinen Lebens? Wer die Entwickelungen des Kindes beobachtet, den Uebergang zur Jugend, zum Mannesalter und alle Umwandlungen bis zu den reifern Jahren, überblickt zugleich eine kurze Geschichte des Menschengeschlechts, das auch seine Kindheit, seine Jugend und sein Mannesalter gehabt hat. Versetzen wir uns in die Urzeiten der Menschheit zurück, so sehen wir alle Völker dem Wunderbaren huldigen; die Geschichte, die entstehenden Wissenschaften. die Philosophie und die Religion werden durch Symbole ausgedrückt, durch Räthsel, welche die moderne Vernunft löst oder erklärt. Die relative Wahrheit und Wirklichkeit der ersten Zeiten liegt in der Poesie, in der Fabel sogar. Es ist also ein ewiges Gesetz, daß der Mensch eine wirkliche Kindheit habe, wie das Menschengeschlecht die ihrige gehabt hat, und wie sie jetzt noch die Völkerschaften besitzen, die nur leicht durch unsere Civilisation berührt sind. Der Wilde lebt im Wunderbaren; er ist weder blödsinnig, noch verrückt, noch thierisch, er ist ein Dichter und ein Kind; er äußert sich nur durch Dichtungen und Gesänge, wie unsere Vorfahren, denen ebenfalls der Vers natürlicher zu sein schien, als die Prosa, der Gesang natürlicher als die Rede. Die Kindheit ist also das Alter der Lieder; man kann ihr deren nicht zu viele geben; so ist auch die Fabel, die nur ein Symbol ist, die beste Form, um im Kinde das Gefühl des Poetischen zu wecken, das wiederum die erste Bethätigung des Wahren und Schönen ist.

Lafontaines Fabeln sind für die erste Kinderzeit zu großartig und tief. Sie enthalten die herrlichsten Sittenlehren, aber das kleine Kind bedarf derselben noch nicht; es wird durch dieselben in ein Gedankenlabyrinth geführt, worin es sich verirrt, denn jede Moral setzt die Idee der Gesellschaft voraus und das Kind kann sich noch keinen Begriff von der Gesellschaft machen. Darum ziehe ich vor, ihm religiöse Begriffe in poetischer, gefühlvoller Form zu geben. Wenn mir die Mutter sagte, daß ich durch meinen Ungehorsam die heilige Jungfrau und die Engel im Himmel zum Weinen brächte, wurde meine Einbildungskraft lebhaft erregt. Diese wunderbaren Wesen und alle diese Thränen riefen eine unendliche Zärtlichkeit und Furcht in mir hervor. Wenn mich der Gedanke an ihr Dasein erschreckte, erfüllte mich die Vorstellung ihres Schmerzes mit Bedauern und Zuneigung.

 

Ich will also mit einem Worte, daß man dem Kinde das Wunderbare giebt, so lange es dasselbe liebt und sucht; und daß man es endlich von selbst aufhören läßt und nicht des Kindes Irrthum systematisch verlängert, sobald es sich vom Wunderbaren abwendet, das aufhört, seine natürliche Kost zu sein, und sobald es uns durch seine Fragen und Zweifel anzeigt, daß es in die wirkliche Welt einzutreten verlangt.

Weder Clotilde noch ich haben eine Erinnerung an die größere oder geringere Anstrengung, die uns das Lesenlernen verursacht haben könnte. Unsere Mütter haben uns seitdem gesagt, daß ihnen der Unterricht nur wenig Mühe gemacht hat, aber sie erwähnten eines kindischen Eigensinnes von mir. Als ich eines Tages nicht Lust hatte, mein ABC durchzunehmen, sagte ich zu meiner Mutter: „A will ich gleich sagen, aber B kann ich nicht sagen.“ Es scheint, daß mein Widerstand ziemlich lange dauerte, ich nannte alle Buchstaben des Alphabets, ausgenommen den zweiten, und wenn ich gefragt wurde, warum ich diesen überginge, antwortete ich regelmäßig: „Weil ich das B nicht kenne.“

Die zweite Erinnerung, die ich mir ohne Hülfe bewahrt habe, ist die an das weiße Kleid und den Schleier, den die Tochter des Glasers am Tage ihrer ersten Abendmahlsfeier trug. Ich war damals etwa drei und ein halbes Jahr alt; wir wohnten in der rue Grange-Batelière in der dritten Etage und der Glaser, dessen Laden im Parterre war, hatte mehrere Töchter, die mit mir und meiner Schwester spielten. Ihre Namen weiß ich nicht mehr und kann mich nur der ältesten deutlich erinnern, deren weißes Kleid mir als das schönste in der Welt erschien; ich wurde gar nicht müde, sie zu bewundern. Es that mir sehr weh, als meine Mutter plötzlich sagte: das Weiß wäre ganz gelb und das Mädchen wäre überhaupt schlecht angezogen. Mir war, als hätte mich ein großer Kummer getroffen, indem man mir den Gegenstand meiner Bewunderung zuwider machte.

Ich erinnere mich, daß einmal, als wir eine Ronde tanzten, dieselbe Kleine zu singen begann:

„Wir gehen nicht mehr in das Holz,

Die Lorbeerbäume sind gefällt.“

Ich war, so viel ich weiß, noch nie im Holze gewesen und hatte vielleicht noch niemals Lorbeerbäume gesehen, aber ich mußte wohl wissen, was damit gemeint war, denn diese zwei kleinen Verse versenkten mich in tiefe Träumerei. Ich verließ den Tanz, um darüber nachzudenken und wurde sehr wehmüthig. Auch mochte ich Niemand vertrauen, was mir im Sinne lag, aber ich hätte weinen mögen, so traurig war ich über den Verlust dieses lieblichen Lorbeergehölzes, in das ich nur im Traume eingetreten war, um sogleich wieder daraus vertrieben zu werden. Wer kann die Sonderbarkeiten des Kindesalters erklären? auf mich hatte dies Lied solchen Eindruck gemacht, daß sich der geheimnißvolle Einfluß desselben nie wieder verwischt hat. So oft dies Tanzlied gesungen wurde, fühlte ich mich von derselben Traurigkeit erfüllt und ich kann es auch jetzt nicht von Kindern singen hören, ohne dieselbe Wehmuth, dasselbe Bedauern zu empfinden. Ich sehe das Holz noch immer, wie es war, ehe es durch die Axt zerstört wurde und in der Wirklichkeit habe ich nie ein schöneres gesehen. Dann erblicke ich wieder die Erde mit den frisch gefällten Lorbeerbäumen bedeckt und es scheint mir, daß ich den Vandalen noch immer zürne, die mich auf ewig daraus vertrieben haben. Welche Absicht hatte wohl der kindliche Dichter, als er das kindlichste Tanzlied also begann?

Ich erinnere mich auch an das hübsche Liedchen von Giroflé, girofla, das alle Kinder kennen, und in welchem abermals von einem geheimnißvollen Holze die Rede ist, in welches man einsam eindringt, und wo man dem König oder der Königin, dem Teufel und der Liebe begegnet, lauter phantastische Wesen für den kindlichen Sinn. Ich wüßte nicht, daß ich mich vor dem Teufel gefürchtet hätte; wahrscheinlich glaubte ich nicht an ihn und man verhinderte mich, an ihn zu glauben, weil ich eine sehr rege Einbildungskraft hatte und leicht in Schrecken gerieth. Man schenkte mir einmal einen prachtvollen Polichinell, der von Gold und Scharlach glänzte. Ich fürchtete mich zuerst, besonders wegen meiner Puppe, die ich zärtlich liebte und die mir neben diesem kleinen Ungeheuer von großer Gefahr bedroht schien. Nachdem ich sie sorgfältig im Schranke verschlossen hatte, verstand ich mich endlich dazu, mit dem Polichinell zu spielen, der mir wegen seiner Porzellanaugen, die sich mittels einer Feder in ihren Höhlen bewegten, ein Mittelding zwischen Puppe und lebendem Wesen zu sein schien. Als ich zu Bett ging, wollte man ihn in den Schrank zu meiner Puppe legen, aber das wollte ich durchaus nicht erlauben. Endlich ging man auf mein Verlangen ein, ihn auf dem Ofen schlafen zu lassen, denn es stand ein kleiner Ofen in unserer Stube, die mehr als bescheiden war und deren mit Leimfarben in länglichen Quarrés gemalte Wände ich noch immer erblicke. Ein anderer Umstand, dessen ich mich erinnere, obwohl ich diese Wohnung seit dem Alter von vier Jahren nicht mehr betreten habe, ist, daß der Alkoven durch eine Gitterthür von Messingdraht mit grünen Gardinen verschlossen werden konnte. Außer einem kleinen Vorzimmer, das als Speisesaal diente und einer kleinen Küche, die mein Arrestlocal war, gab es kein anderes Gemach, als dieses Schlafzimmer, das am Tage als Salon benutzt wurde. Man sieht, daß dies nicht sehr luxuriös war. Abends wurde mein kleines Bett vor den Alkoven gestellt, und wenn meine Schwester, die damals in Pension war, zu Hause schlief, wurde neben mir auf dem Kanape ein Bett für sie zurecht gemacht. Dies Kanape war mit grünem Utrechter Sammet bezogen; alle diese Einzelnheiten stehen mir klar vor der Seele, obwohl ich in dieser Wohnung nichts Bemerkenswerthes erlebt habe; aber wahrscheinlich hat sich mein Geist in jener Zeit emsig arbeitend in sich selbst vertieft, denn es scheint mir, als wären alle jene Gegenstände von meinen Träumereien erfüllt, und als hätte ich sie durch meine immerwährende Betrachtung abgenutzt. Vor dem Einschlafen hatte ich noch eine besondere Unterhaltung; sie bestand darin, das Messinggitter der Alkoventhür neben meinem Bette mit den Fingern zu streichen. Der schwache Ton, den ich dadurch hervorbrachte, erschien mir wie eine himmlische Musik und meine Mutter pflegte dabei zu sagen: „Da spielt Aurora wieder das Gitter!“ Doch ich kehre zu meinem Polichinell zurück, der mit dem Rücken auf dem Ofen liegend, mit seinen gläsernen Augen und häßlichem Lachen die Decke des Zimmers betrachtete. Ich sah ihn nicht mehr, aber meine Einbildungskraft zeigte mir ihn noch — ich schlief ein, während ich mich mit dem häßlichen Wesen beschäftigte, das mir mit den Augen in alle Winkel des Zimmers folgen konnte und während der Nacht hatte ich einen schrecklichen Traum. — Polichinell war aufgestanden, sein mit einer Weste von rothem Goldbrokat bekleideter Buckel hatte auf dem Ofen Feuer gefangen; er lief überall umher und verfolgte bald mich, bald meine Puppe, die entsetzt vor ihm floh, während uns die langen Feuerstrahlen erreichten, die er auf uns abschoß. Meine Mutter erwachte von meinem Geschrei und meine Schwester, die nahe bei mir schlief, sah, was mich ängstigte und trug den Polichinell in die Küche, indem sie bemerkte, daß er eine häßliche Puppe für ein Kind meines Alters sei. Ich sah ihn nicht wieder, aber ich behielt noch einige Zeit das imaginäre Gefühl der Brandwunde, die ich im Traume erhalten hatte, und statt wie bisher, gern mit Feuer zu spielen, setzte mich schon der Anblick desselben in Schrecken.

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