Geschichte meines Lebens

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Nun bin ich wieder einmal weit von meinem Gegenstande entfernt und meine Geschichte läuft Gefahr, der von den sieben Schlössern des Königs von Böhmen zu gleichen. Wohlan, was kümmert es Euch, meine guten Leser? Meine Geschichte ist an und für sich sehr uninteressant. Thatsachen spielen darin die kleinste Rolle und Grübeleien füllen sie aus. Niemand hat in seinem Leben weniger gethan und mehr geträumt als ich — konntet Ihr vom Dichter etwas Anderes erwarten?

Hört mich an: mein Leben ist das Eure — denn wer mich liest, ist nicht betheiligt an dem Lärm der Tagesinteressen, er würde sonst mein Buch mit Ueberdruß bei Seite schieben. Ihr seid Träumer wie ich. Also hat Alles, was mich auf meinem Wege aufhält, auch Euch gefesselt. Ihr habt, wie ich gesucht, Euch Rechenschaft zugeben von Euerm Dasein — und Ihr seid zu einigen Schlüssen gekommen. Vergleicht die meinigen mit den eurigen, wägt sie gegen einander und entscheidet, die Wahrheit geht erst aus der Prüfung hervor.

Wir werden also bei jedem Schritte still stehen und jeden Gesichtspunkt in's Auge fassen. Hier ist mir eine Wahrheit klar geworden: nämlich daß der Götzendienst der Familie falsch und gefährlich ist, aber daß Achtung und Einigkeit in der Familie nothwendig sind. Im Alterthum spielte die Familie eine große Rolle — aber dann überschätzte sie ihre Bedeutung; der Adel übertrug sich wie ein Privilegium und die Edelleute des Mittelalters hatten eine so hohe Meinung von ihrer Abstammung, daß sie die ehrwürdigen Familien der Patriarchen verachtet haben würden, wäre ihr Andenken nicht durch die Religion geheiligt. Die Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts erschütterten den Kultus des Adels, die Revolution warf ihn nieder; aber auch das fromme Ideal der Familie wurde in dieser Zerstörung fortgerissen und das Volk, das unter erblichen Bedrückungen gelitten hatte, das Volk, das die Wappen verlachte, begann sich allein für den „Sohn seiner Thaten“ zu halten. Das Volk irrte sich, denn es hat seine Ahnen so gut wie die Könige. Jede Familie hat ihren Adel, ihren Ruhm, ihre Würden: die Arbeit, den Muth, die Tugend oder die Klugheit. Jeder Mensch, der mit irgend welcher natürlichen Auszeichnung begabt ist, verdankt sie einem der Männer, die vor ihm lebten oder einer der Frauen, von denen er abstammt. Jeder Abkömmling irgend welcher Linie hätte also Vorbilder aus der Geschichte seiner Familie zu befolgen, wenn er in die Vergangenheit zurückschauen könnte; auch würde er dort Manches sehen, was er zu vermeiden hätte. Die berühmten Geschlechter geben Beispiel davon — und so wäre es keine üble Lehre für das Kind, wenn es aus dem Munde seiner Amme die alten Traditionen der Familie hörte, die einst den Unterricht des Edelmanns ausmachten.

Ihr Handwerker, die ihr anfangt Alles zu verstehen, ihr Bauern, die ihr anfangt lesen zu lernen, vergeßt doch Eure Todten nicht mehr. Uebertragt das Leben Eurer Väter auf Eure Söhne; macht Euch Titel und Wappen, wenn Ihr wollt, aber macht sie Euch Alle! Die Mauerkelle, die Hacke oder das Gartenmesser sind ebenso schöne Attribute als das Jagdhorn, der Thurm oder die Glocke. Ihr könnt Euch dies Vergnügen machen, wenn es Euch zusagt — Kaufleute und Geldwechsler machen es sich auch.

Aber Ihr seid ernster als diese Leute. — Nun wohl, so möge sich ein Jeder unter Euch bemühen, die guten Thaten und die nützlichen Arbeiten seiner Vorfahren kennen zu lernen und vor Vergessenheit zu bewahren. Und dann handelt danach, daß Eure Nachkommen Euch die nämliche Ehre erweisen. Vergessenheit ist ein geistloses Ungeheuer, das nur zu viele Generationen verschlungen hat. Wie viele Helden bleiben auf ewig unbekannt, weil sie nicht genug hinterließen, ein Grabmal zu errichten! Wie manches Licht ging der Geschichte verloren, weil der Adel die einzige Fackel und die einzige Geschichte der vergangenen Jahrhunderte zu sein begehrte! Entzieht Euch der Vergessenheit, Ihr Alle, die Ihr mehr im Sinne tragt, als die begrenzte Kenntniß der Gegenwart. Schreibt Eure Geschichte, Ihr Alle, die Ihr das Leben verstanden und Euer Herz ergründet habt — aus diesem Grunde schreibe ich auch die meinige, wie das, was ich von meinen Eltern erzählen werde.

Friedrich August, Kurfürst von Sachsen und König von Polen, war der größte Wüstling seiner Zeit. Es ist gerade keine seltne Ehre, etwas von seinem Blute in den Adern zu haben, denn er hatte, wie man behauptet, einige hundert Bastarde. Von der schönen Aurora von Königsmark, der großen, gewandten Kokette, vor welcher Karl XII. zurückwich, so daß sie sich an Furchtbarkeit einer Armee überlegen glauben konnte *), hatte er einen Sohn, der ihn an Adel bei weitem übertraf, obwohl er nie mehr war, als Marschall von Frankreich. Es war Moritz von Sachsen, der Sieger von Fontenay; er war gutmüthig und tapfer wie sein Vater und nicht weniger unsittlich; aber er war geschickter in der Kriegskunst, war glücklicher in seinen Unternehmungen und wurde besser unterstützt.

*) [Diese Anekdote ist ziemlich sonderbar; Voltaire erzählt sie folgendermaßen in seiner Geschichte Karl's XII.: „August zog es vor, die harten Gesetze seines Siegers, als die seiner Unterthanen zu empfangen. Er entschloß sich, den König von Schweden um Frieden zu bitten und wollte einen geheimen Vertrag mit ihm abschließen; aber dieser Schritt mußte dem Senat verborgen bleiben, den er als einen noch unerbittlichern Feind betrachtete. Die Sache war äußerst schwierig und er übertrug sie der Gräfin Königsmark, einer Schwedin, von hoher Geburt, mit welcher er damals ein Verhältniß hatte. Es ist dieselbe, deren Bruder durch seinen unglücklichen Tod bekannt wurde und deren Sohn die französischen Heere mit so viel Erfolg und Ruhm befehligte. Diese in der ganzen Welt durch Geist und Schönheit berühmte Frau war mehr als jeder Minister dazu geeignet, eine Unterhandlung zum Ziele zu führen. Da sie überdies in den Staaten Karl's XII. begütert war und lange an seinem Hofe gelebt hatte, fehlte es ihr nicht an glaubwürdigen Vorwänden diesen Fürsten aufzusuchen. Sie ging also nach Lithauen in das Lager der Schweden und wendete sich zuerst an den Grafen Piper, der ihr leichtsinnigerweise eine Audienz bei seinem Gebieter versprach. Unter den Vollkommenheiten, welche die Gräfin zu einer der liebenswürdigsten Frauen Euro pa's machten, besaß sie das wunderbare Talent, die Sprachen verschiedener Länder, die sie nie gesehen hatte, mit einer Zartheit zu sprechen. als wenn sie dort geboren wäre. Sie unterhielt sich zuweilen auch damit, französische Verse zu machen — und man würde geglaubt haben, daß ihre Verfasserin in Versailles lebte.

Sie dichtete einige für Karl XII., welche die Geschichte nicht verschweigen darf; nachdem sie alle Götter des Heidenthums eingeführt hatte, die verschiedene Tugenden des Königs priesen, schloß sie mit den Worten.

„Enfin chacun des dieux discourant à sa gloire Le plaçait par avance au temple de Mémoire: Mais Vénus et Bacchus n'en dirent pas un mot.“

Auf einen Mann wie der König von Schweden blieben so viel Geist und Liebenswürdigkeit wirkungslos. Er weigerte sich beharrlich, die Gräfin zu sehen, und so ergriff sie endlich das Mittel, ihm bei einem seiner häufigen Spazierritte zu begegnen. Sie traf ihn wirklich eines Tages auf einem sehr schmalen Wege und stieg aus dem Wagen, sobald sie ihn erblickte. Der König grüßte sie, ohne ein Wort zu sagen, drehte sein Pferd um und ritt augenblicklich von dannen, so daß die Gräfin von Königsmark von ihrer Reise nur die Genugthuung mitbrachte, sich für das einzige Wesen zu halten, vor welchem der König von Schweden Furcht empfand.“]

Aurora von Königsmark wurde auf ihre alten Tage Stiftsdame einer protestantischen Abtei — derselben Abtei von Quedlinburg, deren Aebtissin später die Prinzessin Amalie von Preußen war, die Schwester Friedrich's des Großen und die Geliebte des berühmten und unglücklichen Baron Trenk. Die Königsmark starb in dieser Abtei und wurde daselbst beigesetzt. — Und vor einigen Jahren berichteten deutsche Zeitungen, daß man bei Nachgrabungen in den Gräbern der Stiftskirche zu Quedlinburg die einbalsamirten, vollständig erhaltenen Ueberreste der Aebtissin Aurora aufgefunden habe, gehüllt in ein mit Edelsteinen verziertes Brokatkleid und in einen mit Marderpelz gefütterten Mantel von rothem Sammet. Nun habe ich aber auch in meinem Zimmer, auf dem Lande, ein Bild der Dame aus ihrer Jugendzeit, das von einer strahlenden Schönheit der Farben ist. Man sieht sogar, daß sie sich geschminkt hat, um zu dem Bilde zu sitzen. Sie ist sehr brünett, was unsern Erwartungen von einer nordischen Schönheit nicht entspricht. Ihre kohlschwarzen Haare sind am Hinterkopfe mit Rubinnadeln aufgesteckt; ihre glatte, freie Stirn hat nichts Bescheidenes; dicke, harte Flechten fallen auf ihren Busen und sie trägt das mit Edelsteinen bedeckte Brokatkleid und den mit Pelz besetzten Mantel von rothem Sammet, womit sie auch in ihrem Sarge bekleidet ist. Ich gestehe, daß mir diese kühne, lächelnde Schönheit nicht gefällt, und daß mir, seit der Ausgrabung, das Bild sogar einige Furcht einflößt, wenn es mich Abends mit seinen glänzenden Augen anschaut. Es ist mir dann, als ob sie mir sagte: „Mit welchen närrischen Dingen beschwerst Du Dein armes Gehirn, ausgearteter Sprößling meines stolzen Geschlechts? Mit welcher Gleichheitschimäre erfüllst Du Deine Träume? Die Liebe ist nicht, wie Du sie glaubst; die Menschen werden niemals sein, wie Du hoffst. Sie sind dazu geschaffen, durch ihre Könige, durch die Frauen und durch sich selbst betrogen zu werden.“

Neben ihr hängt das Bild ihres Sohnes, Moritz von Sachsen; ein schönes Pastellgemälde von Latour. Er hat einen glänzenden Harnisch, gepudertes Haar und ein schönes, gutes Gesicht, das immer zu sagen scheint: „Vorwärts, mit wirbelnden Trommeln und brennenden Lunten.“ Auch kommt es ihm gewiß nicht darauf an, französisch zu lernen, um seine Aufnahme in die Akademie zu rechtfertigen. Er gleicht seiner Mutter, aber er ist blond, seine Haut ist zart, seine blauen Augen haben mehr Sanftmuth und sein Lächeln ist freimüthiger.

 

Dennoch hat er durch seine Leidenschaften häufig seinen Ruhm befleckt; unter andern durch das Abenteuer mit Madame Favart, das mit so viel Gemüth und Adel in Favart's Briefen erzählt ist. Eine seiner letzten Neigungen war für Fräulein von Verrières [Ihr wahrer Name war Maria Rinteau und ihre Schwester hieß Genoveva. Der Name Verrières ist angenommen.], eine Opernsängerin, die mit ihrer Schwester ein kleines Gartenhaus bewohnte, das noch jetzt vorhanden ist und im neuen Centrum von Paris, inmitten der Chaussee d'Antin liegt. Fräulein Verrières hatte aus dieser Verbindung eine Tochter, die erst fünfzehn Jahre später als Tochter des Marschalls von Sachsen anerkannt und durch einen Parlamentserlaß berechtigt wurde, seinen Namen zu führen. Zur Sittenschilderung jener Zeit ist diese Geschichte ein schätzbarer Beitrag. Ich lasse hier folgen, was ich darüber in einem alten juristischen Werke gefunden habe.

„Das Fräulein Maria Aurora, natürliche Tochter des Grafen Moritz von Sachsen, General-Feldmarschall der französischen Heere, ist getauft worden unter dem Namen der Tochter von Johann Baptist de la Rivière, Bürger von Paris und von Maria Rinteau, seiner Frau. Da das Fräulein Aurora im Begriff steht, sich zu verheirathen, wurde der Herr von Montglas durch ein Urtheil des Châtelet vom 3. Mai 1766 zu ihrem Vormunde ernannt. Die Veröffentlichung des Aufgebots verursachte Schwierigkeiten, da das Fräulein Aurora nicht gestatten wollte, als Tochter des Herrn la Rivière bezeichnet zu werden und noch weniger als Tochter unbekannter Eltern. Das Fräulein Aurora reichte eine Beschwerdeschrift beim Gerichtshofe ein, um gegen den Ausspruch des Châtelet zu appelliren. Herr Thétion, welcher bei dem Gerichtshofe für das Fräulein Aurora plaidirte, brachte den vollständigen Beweis bei, sowohl durch Aussage des Herrn Gervais, der ihre Mutter entbunden hatte, als durch Aussage der Personen, welche Taufzeugen gewesen waren u.s.w., daß sie die natürliche Tochter des Grafen von Sachsen sei, und daß dieser sie immer als solche anerkannt habe. Für den ersten Vormund, der die Sache den Gerichten übertragen hatte, gab Herr Massonnet am 4. Juni 1766, auf Antrag des Staatsanwalts, Herrn Joly de Fleury ein Urtheil ab, das den Ausspruch des Châtelet vom 3. Mai für nichtig erklärte; ferner ernannte er Herrn Giraud, Gerichtsprocurator, zum Vormunde des Fräulein Aurora und erklärte sie „im Besitz des Standes einer natürlichen Tochter von Moritz, Grafen von Sachsen; erkannte und bestätigte sie im genannten Besitz und befahl zugleichen, das Taufzeugniß umzuändern, das eingetragen ist in die Kirchenbücher der Gemeinde von St. Gervais und St. Protais zu Paris, unter dem Datum des 19. Oct. 1748, welches Taufzeugniß besagt: daß Maria Aurora u.s.w. über die Taufe gehalten ist an diesem Tage, durch Anton Alexander Colbert, Marquis von Sourdis und durch Genoveva Rinteau, als Pathen und Pathin, und an die Stelle der Namen von Johann Baptist de la Rivière, Bürger von Paris und von Maria Rinteau, seiner Frau, nach den Worten: Maria Aurora, eingeschaltet werden soll: natürliche Tochter des Grafen Moritz von Sachsen, General-Feldmarschall der französischen Armee, und der Maria Rinteau; und zwar durch den Gerichtsvollzieher unseres genannten Gerichtshofes, den Ueberbringer gegenwärtigen Urtheilspruches ec. — [Auszug aus der „Collection de décisions nouvelles et de notions relatives à la jurisprudence actuelle“ von J. B. Denisart, Procurator des Châtelet von Paris, III Theil pag. 704.]

Ein anderer unleugbarer Beweis, den meine Großmutter der öffentlichen Meinung gegenüber geltend machen konnte, war ihre erwiesene Aehnlichkeit mit dem Marschall von Sachsen, und die Art des Schutzes, den ihr die Dauphine, Tochter des Königs August, Nichte des Marschalls und Mutter Karl's X. und Ludwig's XVIII. gewährte. Diese Prinzessin brachte meine Großmutter nach St. Cyr und übernahm die Sorge für ihre Erziehung und Verheirathung, indem sie ihr auf das Strengste verbot, mit ihrer Mutter zu verkehren.

Aurora von Sachsen verließ St. Cyr im Alter von fünfzehn Jahren, um mit dem Grafen Horn, einem Bastard Ludwig's XV. und Statthalter des Königs in Echlestadt, verheirathet zu werden. [Anton von Horn, Ritter des Ludwigskreuzes und königlicher Statthalter der Provinz Schlestadt.] Sie sah ihn zuerst am Vorabend ihrer Hochzeit und fürchtete sich sehr vor ihm, denn sie glaubte ein Bild des seligen Königs, dem er in erschreckender Weise glich, vor sich zu sehen. Er war zwar größer und schöner, aber er sah hart und unverschämt aus. Am Abend der Hochzeitfeier, der mein Großonkel, der Abbé von Beaumont — Sohn des Herzogs von Bouillon und des Fräulein von Verrières — beiwohnte, erschien ein treuer Kammerdiener, um den Abbé, der fast noch ein Kind war, zu bitten: Alles aufzubieten, um die junge Gräfin Horn von ihrem Gatten fern zu halten. Der Arzt des Grafen von Horn wurde zu Rath gezogen und der Graf selbst erkannte seine Pflicht.

Maria Aurora von Sachsen war also nur dem Namen nach die Gattin ihres ersten Mannes. Sie sahen sich nur bei den königlichen Festen, die ihnen im Elsaß bereitet wurden: da gab es Truppen, unter den Waffen. Kanonendonner, Schlüssel der Städte, auf goldnem Teller dargereicht. Reden der Magistratspersonen, Illuminationen, große Bälle im Stadthause und ähnliche Dinge. Es schien, als wollte die Welt durch allen Aufwand der Eitelkeit das arme kleine Mädchen trösten, einem Manne zu gehören, den sie nicht liebte, nicht kannte, und, den sie fliehen mußte, wie den Tod.

Meine Großmutter hat mir oft erzählt, welchen Eindruck ihr, nach der Stille des Klosters, die Pracht dieser Empfangsfeierlichkeiten machte. Sie saß in einem großen vergoldeten Wagen, der von vier weißen Pferden gezogen wurde. Ihr Gemahl saß zu Pferde und trug ein prächtig besetztes Kleid. Aber die arme Aurora fürchtete sich vor dem Kanonendonner, wie vor der Stimme ihres Gatten. Nur eins machte ihr Freude — man überreichte ihr, mit königlicher Bewilligung, eine Begnadigung der Gefangenen zur Unterzeichnung. Sogleich wurden einige zwanzig Staats-Gefangene entlassen und kamen ihr zu danken. Sie weinte vor Freude — und vielleicht belohnte sie die Vorsehung für dies Gefühl, als sie später nach dem 9. Thermidor das Gefängniß verließ.

Wenige Wochen, nachdem sie im Elsaß angekommen war, verschwand ihr Gatte inmitten einer Ballnacht. Die Frau Statthalterin tanzte fröhlich weiter. Gegen drei Uhr Morgens wurde sie heimlich benachrichtigt, daß ihr Gatte sie ersuchen ließe, einen Augenblick zu ihm zu kommen. Sie folgte der Aufforderung — aber an der Thür des Grafen blieb sie unschlüssig stehen, weil ihr einfiel, wie dringend ihr junger Bruder, der Abbé, ihr eingeschärft hatte, dies Gemach niemals allein zu betreten. Sie faßte Muth, als sie beim Oeffnen der Thüre Licht und Menschen erblickte. Derselbe Diener, der am Hochzeitstage gesprochen hatte, hielt in diesem Augenblicke den Grafen Horn, der auf einem Bette lag, in den Armen. Ein Arzt stand daneben. „Der Herr Graf hat der Frau Gräfin nichts mehr zu sagen,“ rief der Diener, sobald er meine Großmutter erblickte; „führt die gnädige Frau fort, so schnell als möglich.“ Sie sah nur noch eine große, weiße Hand, die über den Bettrand hinunterhing und die man schnell hinauflegte, um dem Leichnam eine schickliche Stellung zu geben. Der Graf Horn war soeben im Duell durch einen Degenstoß getödtet.

Meine Großmutter erfuhr die nähern Umstände nie und hatte gegen ihren Gatten keine Pflicht mehr zu erfüllen, als die, ihn äußerlich zu betrauern. Lebend oder todt hatte er ihr nie etwas anderes als Entsetzen eingeflößt.

Wenn ich nicht irre, lebte die Dauphine noch zu dieser Zeit und sie schickte Maria Aurora in's Kloster zurück. Gewiß ist, daß die junge Wittwe bald die Freiheit erlangte ihre Mutter zu sehen, die sie immer geliebt hatte, und daß sie diese Freiheit mit Eifer benutzte. [Die Dauphine starb 1767, meine Großmutter war also neunzehn Jahr alt, als sie mit ihr zusammen leben konnte.]

Die Fräulein von Verrières lebten noch immer mit einander im Wohlstande; sie machten sogar ein ziemlich großes Haus, waren noch schön und doch alt genug, um von uneigennützigen Huldigungen umgeben zu sein. Diejenige, welche meine Urgroßmutter war, soll die klügste und liebenswürdigste gewesen sein. Die andere war eine Schönheit; ich weiß nicht, von welcher vornehmen Persönlichkeit sie ihren Unterhalt empfing, aber ich habe gehört, daß man sie la belle et la bête zu nennen pflegte.

Die Schwestern lebten angenehm und mit einer Sorglosigkeit, die den freien Sitten jener Zeit entsprach. Sie „dienten den Musen“, wie man damals sagte; in ihrem Hause wurde Komödie gespielt, Herr von la Harpe spielte dort selbst in seinen ungedruckten Stücken. Aurora gab die Rolle der Melanie mit großem Erfolg. Literatur und Musik waren die einzige Beschäftigung dieses Kreises. Aurora war von engelhafter Schönheit; ihr Verstand war ausgezeichnet; durch die Gründlichkeit ihrer Bildung stand sie den aufgeklärtesten Geistern ihres Zeitalters gleich. Ihre Fähigkeiten wurden durch den Umgang, die Unterhaltung und die Umgebung ihrer Mutter noch entwickelt und ausgebildet. Ueberdies hatte sie eine prächtige Stimme, ich habe nie eine bessere Musikerin gekannt. Man gab auch komische Opern bei ihrer Mutter; sie machte Colette im devin du village, Azémia in den Sauvages und alle Hauptrollen in den Stücken Gretry's und Sedaine's. In ihrem Alter habe ich sie hundert Mal die Melodien alter italienischer Meister singen hören, die sie zu ihrer Hauptnahrung erkoren hatte, wie Leo, Porpora, Pergolesi, Hassa u.s.w. Ihre Hände waren gelähmt, sie begleitete sich mit zwei oder drei Fingern auf einem alten, kreischenden Klaviere; ihre Stimme zitterte, war aber immer richtig und umfangreich, und Schule und Vortrag verlieren sich nie. Sie las alle Partitionen vom Blatte und ich habe niemals besser singen oder begleiten gehört. Sie hatte jene großartige Manier, jene breite Einfachheit, jenen reinen Geschmack, jene Klarheit der Betonung, die man nicht mehr hat, die man heut zu Tage nicht einmal kennt. In meiner Kindheit ließ sie mich mit ihr ein kleines italienisches Duett, von ich weiß nicht welchem Meister, singen:

Non mi dir, bel idol mio, Non mi dir ch' io son ingrato.

Sie übernahm die Tenorpartie und zuweilen — obwohl sie etwa fünfundsechszig Jahr alt war — erhob sie ihre Stimme zu einer solchen Macht des Ausdrucks und zu solchem Liebreiz, daß ich eines Tages stecken blieb und in Thränen ausbrach. Aber ich werde auf diese ersten musikalischen Eindrücke, die theuersten Erinnerungen meines Lebens, zurückkommen. Für jetzt wende ich mich zu der Jugendgeschichte meiner lieben Großmutter zurück.

Unter den berühmten Männern, die das Haus ihrer Mutter besuchten, wurde sie besonders mit Büffon bekannt und fand in seiner Unterhaltung einen Zauber, der sich in ihrer Erinnerung unverwischt erhielt. Ihr Leben war in dieser Zeit ebenso heiter und sanft als glänzend. Allen flößte sie Liebe oder Freundschaft ein. Ich besitze eine Menge Liebesbriefe mit süßlichen Versen, welche die Schöngeister der Zeit an sie richteten; einen unter andern von La Harpe mit folgenden Versen:

Des Césars à vos pieds je mets toute la cour *). Recevez ce cadeau que l'amitié présente, Mais n'en dites rien à l'amour ... Je crains trop qu'il ne me démente.

*) [Er schickte ihr seine Uebersetzung der zwölf Cäsaren des Sueton.]

Dies ist eine Probe von der Galanterie der Zeit. Aber Aurora wandelte durch diese Welt voll Verführungen, durch diese zahllosen Huldigungen, ohne für etwas anderes, als die Uebung der Künste und die Bildung ihres Geistes Sinn zu haben. Sie hatte nie eine andere Leidenschaft, als die der Mutterliebe und erfuhr niemals, was ein Abenteuer ist. Und doch war sie eine zärtliche, großmüthige Natur und von einer außerordentlichen Gefühlstiefe. Ihre Tugend war nicht auf Frömmigkeit gegründet; sie kannte keine andere Religiosität als die des achtzehnten Jahrhunderts: den Deismus Rousseau's und Voltaire's. Aber sie war eine entschlossene, hellsehende Seele und schwärmte besonders für ein gewisses Ideal des Stolzes und der Selbstachtung. Koketterie war ihr fremd; sie war zu reich begabt, um ihrer zu bedürfen; auch waren solche Herausforderungen unverträglich mit ihren Gewohnheiten und ihren Ansichten von Frauenwürde. So schritt sie durch eine sehr leichtfertige Zeit und eine sehr verdorbene Gesellschaft, ohne ihre Schwingen im geringsten zu beflecken. Durch ein eigenthümliches Geschick dazu verurtheilt die Liebe in der Ehe nicht kennen zu lernen, löste sie die große Aufgabe, in Frieden zu leben und jedem Uebelwollen und jeder Verleumdung zu entgehen.

 

Ich glaube, daß sie etwa fünfundzwanzig Jahr alt war, als sie ihre Mutter verlor. Frl. Verrières starb eines Abendes, als sie im Begriff war sich niederzulegen. Sie war nicht im mindesten unwohl, beklagte sich nur, kalte Füße zu haben, setzte sich an's Feuer und während die Kammerfrau ihre Pantoffeln wärmte, hauchte sie den Geist aus, ohne ein Wort zu sagen, ohne nur einen Seufzer auszustoßen. Die Kammerfrau zog ihr die Pantoffeln wieder an, fragte, ob sie sich nun erwärmt fühlte und da sie keine Antwort erhielt, blickte sie ihr in's Gesicht und sah nun, daß der letzte Schlummer ihre Augen geschlossen hatte. Ich glaube, daß in jener Zeit für gewisse Naturen, die sich mit ihren sittlichen Begriffen vollständig in Harmonie fühlten, Alles leicht war, selbst der Tod.

Aurora zog sich abermals in ein Kloster zurück; das war so Sitte, wenn man als junges Mädchen oder junge Wittwe keine Verwandten besaß, die als Führer durch die Welt dienen konnten. Man richtete sich friedlich ein, sogar mit einer gewissen Eleganz; man empfing Besuche, man ging Morgens, ja sogar Abends aus mit einer passenden Ehrenwächterin. Das Ganze war eine Art Vorsicht gegen die Verleumdung, eine Sache des Anstandes und des Geschmacks.

Aber für meine Großmutter, deren Neigungen ernst und deren Gewohnheiten geregelt waren, wurde diese Zurückgezogenheit nützlich und schätzbar. Sie las ungeheuer viel und häufte Bände voll Auszüge und Citate auf, die ich noch besitze, und die mir Zeugniß geben von der ernsten Richtung ihres Geistes und dem guten Gebrauch ihrer Zeit. Ihre Mutter hatte ihr nichts hinterlassen, als einige Kleidungsstücke, einige Familienportraits, unter andern das der Aurora von Königsmark, das sonderbarer Weise durch den Marschall von Sachsen bei ihr einquartirt war, viele Madrigals und ungedruckte poetische Werke ihrer literarischen Freunde (die sehr verdienten ungedruckt zu sein), endlich das Siegel des Marschalls und seine Tabacksdose, die ich noch besitze und die von sehr hübscher Arbeit sind.

Ihre Gläubiger waren vielleicht immer bereit gewesen über ihr Haus, ihre Bücher und alle die Luxusgegenstände herzufallen, deren sie als hübsche Frau bedurfte; aber die Dame hatte, bis zu der heitern und sorglosen Stunde ihres Todes, zu sehr auf die gute Erziehung dieser Herrn gerechnet, um sich deshalb zu beunruhigen. Die Gläubiger jener Zeit waren in der That sehr gebildete Leute. Meine Großmutter hatte von ihrer Seite nicht die geringste Unannehmlichkeit zu ertragen; aber sie sah sich auf einen kleinen Jahrgehalt von der Dauphine angewiesen, und auch dieser blieb eines schönen Tages aus. Bei dieser Gelegenheit schrieb sie an Voltaire und dieser antwortete ihr in einem liebenswürdigen Briefe, dessen sie sich bei der Herzogin von Choiseul bediente.

[Hier ist der Brief meiner Großmutter und die Antwort. An Herrn von Voltaire 24. August 1768.

„An den Sänger von Fontenoy wendet sich die Tochter des Marschalls von Sachsen, um ihr tägliches Brod zu erlangen. Ich bin anerkannt; nach dem Tode meines Vaters hat die Kronprinzessin für meine Erziehung gesorgt; später hat mich diese Fürstin aus Saint-Cyr zurückgerufen, um mich mit dem Grafen Horn, Ritter des Ludwigskreuzes und Hauptmann im Regimente Royal-Baviere zu vermählen. Für meine Aussteuer hatte sie die Statthalterschaft von Schlestadt erwirkt. Kurz nach unserer Ankunft daselbst starb mein Mann plötzlich, inmitten der Feste, die uns gegeben wurden, und seitdem hat mir der Tod alle meine Beschützer geraubt: den Kronprinzen und die Kronprinzessin.

Fontenoy, Raucoux, Laufeld sind vergessen und ich bin verlassen. Aber ich habe geglaubt, daß der, welcher die Siege des Vaters verewigt hat, auch an den Leiden der Tochter Theil nehmen würde. Ihm kommt es zu, sich der Kinder des Helden anzunehmen, und meine Stütze zu sein, wie er die der Tochter des großen Corneille ist. Durch die Beredtsamkeit, mit der Sie die Sache der Unglücklichen zu führen pflegen, werden Sie in allen Herzen einen Schrei des Mitleids erwecken und Sie werden sich dadurch ebensoviel Rechte an meine Dankbarkeit erwerben, wie Sie deren schon an meine Achtung haben und an meine Bewunderung für Ihre erhabnen Talente.«

Antwort: 2. Sept. 1768 im Schlosse von Ferney,

„Madame. Bald werde ich Ihren Vater, den Helden wiedersehen und ich werde ihm voller Unwillen erzählen, in welchen Verhältnissen sich seine Tochter befindet. Ich habe die Ehre gehabt, viel mit ihm zusammen zu sein und er hatte die Gnade, sich mir gewogen zu zeigen. Es gehört zu den Leiden, die mich in meinem Alter niederbeugen, zu sehen, daß die Tochter von Frankreichs Helden in Frankreich nicht glücklich ist. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich mich der Herzogin von Choiseul vorstellen. Mein Name würde mir alle Thüren öffnen und die Herzogin von Choiseul, deren Seele gerecht, edel und wohlthätig ist. würde eine solche Gelegenheit, das Gute zu thun, nicht vorübergehen lassen. Dies ist der beste Rath, den ich Ihnen geben kann, und sobald Sie sprechen, bin ich des Erfolges gewiß, Sie haben mir ohne Zweifel zu viel Ehre erzeigt, gnädige Frau, als Sie dachten, daß ein sterbender, verfolgter, in Zurückgezogenheit lebender Greis, glücklich genug sein könnte, der Tochter des Marschall von Sachsen zu dienen. Aber Sie haben mir Gerechtigkeit erzeigt, als Sie nicht an dem lebhaften Interesse zweifelten, das ich der Tochter eines so großen Mannes schenken muß.

Ich habe die Ehre zu sein hochachtungsvoll, Ihr ganz ergebener und gehorsamer Diener

Voltaire, königl. Kammerherr.]

Sie scheint indessen nichts damit erreicht zu haben, denn im Alter von etwa dreißig Jahren entschloß sich Aurora meinen Großvater, Dupin von Francueil zu heirathen, der damals zweiundsechszig Jahr alt war.

Dupin von Francueil, derselbe, den J.J. Rousseau in seinen Memoiren und Frau von Epinay in ihrem Briefwechsel nur Francueil zu nennen pflegen, war der vollendet liebenswürdige Mann des vergangenen Jahrhunderts. Er war nicht von hohem Adel, denn er war der Sohn des General-Pächters Dupin und dieser hatte den Degen mit dem Finanzsache vertauscht. Er selbst war General-Einnehmer, zur Zeit als er meine Großmutter heirathete. Seine Familie war gut und alt, und besaß vier Folianten voll Geschlechtsregister, die durch heraldische Formeln bewiesen und mit hübschen colorirten Vignetten verziert waren. Trotz alledem zögerte meine Großmutter lange, ehe sie diese Verbindung schloß, nicht wegen Dupin's vorgerücktem Alter, sondern weil er von ihrer Umgebung nicht als ebenbürtig mit dem Fräulein von Sachsen und der Gräfin von Horn angesehen wurde. Endlich wich dies Vorurtheil den Vermögensrücksichten, denn Dupin war zu dieser Zeit sehr reich. Auf meine Großmutter mochte indessen die Verlockung des Reichthums weniger gewirkt haben, als die unausgesetzte Aufmerksamkeit, die Feinheit, der Geist und der liebenswürdige Charakter ihres alten Anbeters, sowie der Widerwille, sich im schönsten Lebensalter dem Klosterzwange zu fügen. Nach zwei oder drei Jahren der Zögerung, in denen kein Tag verging, ohne daß Dupin im Sprachzimmer erschienen wäre, um mit meiner Großmutter zu frühstücken und zu plaudern, krönte sie seine Liebe und wurde sein Weib. [Es scheint, als wären ihnen von irgend einer Seite — von welcher, weiß ich nicht — Schwierigkeiten in den Weg gelegt, denn sie ließen sich in England in der Gesandtschaftskapelle trauen und ließen nachher ihre Heirath in Paris bestätigen.]