Geschichte meines Lebens

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Am 13. Frimaire, also sieben Tage nach der ersten Haussuchung bei Amonin fand daselbst eine zweite statt und zwar dieses Mal in der Wohnung meiner Großmutter, gegen welche ein Verhaftsbefehl erlassen war. Ein neues, kürzeres und weniger blumenreiches Protokoll wurde aufgenommen.

„Am 3. Frimaire des II. Jahres der einen, untheilbaren französischen Republik, wir, Mitglieder des Ueberwachungs-Comités der Section Bondy, kraft des Gesetzes und eines Beschlusses des genannten Comités, datirt vom 11. Frimaire und befehlend, daß bei Maria Aurora, verwittwete Dupin versiegelt werden und die genannte Bürgerin in Haft gebracht werden soll. Zu diesem Ende haben wir uns in ihre Wohnung, rue St. Nicolas 12 begeben; sind in die erste Etage gegangen in die Thüre zur Linken. Dort angekommen haben wir der Genannten unsern Auftrag mitgetheilt und haben an die Fenster und Thüre besagter Wohnung die Siegel gelegt, wie auch an die Thüre, welche nach der Treppe führt, zehn an der Zahl; welche Siegel wir unter Aufsicht des Karl Froc, Portier des genannten Hauses, gelassen haben, der sie nach geschehener Vorlesung besichtigt und erkannt hat.“

„Und darauf haben wir uns in die gegenüberliegende Thüre auf genanntem Flur begeben, welche bewohnt wird durch den Bürger Moritz Franz Dupin, Sohn der genannten Wittwe und durch den Bürger und Lehrer Deschartres. Nach geschehener Prüfung der Papiere genannter Bürger haben wir nichts gefunden, was den Interessen der Republik zuwider wäre, u.s.w.“

Meine Großmutter war nun also gefangen und Deschartres war mit ihrer Rettung beauftragt; denn im Begriff in's Kloster abgeführt zu werden, hatte sie einen Augenblick gefunden, ihm zu sagen: wo sich die verderblichen Papiere befänden, deren Vernichtung sie versäumt hatte. Sie besaß außerdem eine Unmasse von Briefen, welche ihren Verkehr mit Emigranten bezeugten; ein Verkehr, der gewiß sehr unschuldig war, der ihr aber als Staatsverbrechen und Verrath der Republik angerechnet werden konnte.

In dem letzten Protokolle, das ich angeführt habe — und Gott mag wissen, mit welcher Verachtung und welchem Puristen-Zorne Deschartres diese Akten betrachtete, die in so schlechter Sprache verfaßt waren — in diesem Protokoll, dessen zahlreiche Fehler ihm Gänsehaut verursachten, ist nichts von einem kleinen Entresol gesagt, der sich über der ersten Etage befand und zu der Wohnung meiner Großmutter gehörte. Man erreichte denselben durch eine geheime Treppe, die sich in einem Ankleidezimmer befand.

Aus diesem Entresol, dessen Fenster und Thüren versiegelt waren, mußten die Papiere geholt werden. Um dahin zu gelangen, mußte man also drei Siegel lösen: das erste an der Thüre des ersten Stocks, die auf die Haupttreppe führte; das zweite an der Thüre des Ankleidezimmers, durch welche man die geheime Treppe erreichte, und das,dritte oben, am Eingang zum Entresol. Die Loge des Bürger Portiers, der ein wüthender Republikaner war, lag gerade unter den Zimmern meiner Großmutter; und der Corporal Leblanc, der unbestechliche Bürger, dem die Bewachung der Siegel im zweiten Stocke anvertraut war, schlief auf einem Feldbette neben Herrn Amonin's Zimmer, das heißt gerade über dem Entresol. Er war bis an die Zähne bewaffnet und hatte Befehl auf einen Jeden zu feuern, der es wagen würde, sich in die eine oder andere Wohnung einzuschleichen. Und der Bürger Froc, der trotz seines Portierberufes einen sehr leisen Schlaf hatte, brauchte nur an der Schnur einer Klingel zu ziehen, die sich unter den Fenstern des Corporals befand, um diesen bei dem geringsten Alarm herbeizurufen.

Für einen Menschen, der sich in der Kunst Thüren zu öffnen und lautlos einherzuschleichen, nicht die hohe Fertigkeit erworben hat, welche sich die Herrn Diebe durch lange Studien verschaffen, war das Unternehmen ein tollkühnes zu nennen. Aber der wahre Opfermuth schafft Wunder! Deschartres versah sich mit allem Nöthigen und wartete, bis alle Hausgenossen zur Ruhe gegangen waren. Erst um zwei Uhr ist Alles still. Deschartres steht auf, kleidet sich geräuschlos an und füllt seine Taschen mit den Instrumenten, deren er bedarf und die er sich nicht ohne Gefahr verschafft hat. Er löst das erste Siegel, dann das zweite, endlich das dritte; er hat den Entresol erreicht und nun handelt es sich darum, ein Pult von eingelegter Arbeit, das meine Großmutter als Schatulle benutzte, zu erbrechen, und neunundzwanzig Mappen voll Papiere durchzusehen, da meine Großmutter nicht zu bezeichnen wußte, in welcher Mappe die verdächtigenden Briefe wären.

Deschartres läßt sich nicht entmuthigen; er beginnt zu prüfen, auszusuchen und zu verbrennen. Es schlägt drei Uhr und noch regt sich nichts ... aber doch! — die Dielen im Salon der ersten Etage knarren unter leichten Schritten. Vielleicht ist es Nérina, die Lieblingshündin der Gefangenen, die neben Deschartres' Bette schläft und ihm gefolgt sein kann. Er hat nämlich auf alle Gefahr hin die Thüren hinter sich offen lassen müssen, denn der Portier besitzt die Schlüssel und Deschartres hat mit Hülfe eines Dietrichs geöffnet.

Wenn man so aufmerksam horcht, daß das Herz laut schlägt und das Blut in den Ohren braust, kommt ein Augenblick, wo alles Hören vergeht. Der arme Deschartres stand unbeweglich, versteinert da — denn wenn ihn der Alp nicht drückt, so kommt es die Treppe herauf und das ist nicht Nérina, das sind menschliche Schritte. Und es kommt vorsichtig naher ... Deschartres hatte sich mit einer Pistole bewaffnet, er spannt den Hahn und nähert sich der Treppenthüre ... aber er läßt den erhobenen Arm wieder sinken, denn es ist Moritz, sein geliebter Schüler, der ihm gefolgt ist.

Der Knabe hat den Plan, der ihm verborgen bleiben sollte, errathen, erspäht; und kommt, um zu helfen. Deschartres, erschreckt, ihn diese fürchterliche Gefahr theilen zu sehen, will sprechen, ihn zurückweisen, aber Moritz legt ihm die Hand auf den Mund. Deschartres begreift, daß ein Laut, ein Wort sie beide verderben kann — und überdies beweist ihm die Haltung des Knaben, daß er nicht weichen wird.

So begeben sich denn beide im tiefsten Schweigen an die Arbeit; mit der Durchsicht der Papiere wird so schnell als möglich fortgefahren und das Schädliche wird verbrannt; aber wie... es schlägt vier Uhr ... das Schließen der Thüren und Wiederherstellen der Siegel erfordert wenigstens eine Stunde die Hälfte der Arbeit ist kaum vollendet und um fünf Uhr ist der Bürger Leblanc unfehlbar erwacht.

Da hilft kein Zaudern; durch Zeichen giebt Moritz seinem Freunde zu verstehen, daß sie die folgende Nacht zurückkehren müssen. Ueberdies beginnt die unglückliche Nérina, die er in seinem Zimmer eingesperrt hat, zu jammern und zu heulen, weil sie sich allein sieht. Man schließt also Alles, läßt im Innern die zerrissenen Siegel, und begnügt sich damit, das der Eingangsthüre an der großen Treppe wiederherzustellen. Mein Vater hält das Licht und reicht das Siegellack, und Deschartres, der sich einen Abdruck der Siegel verschafft hat, löst seine Aufgabe mit der Eile und Gewandtheit eines Mannes. der die schwierigsten chirurgischen Operationen vollbracht hat. Dann kehren sie in ihre Gemächer zurück und legen sich wieder nieder. Sie können nun zwar ruhig sein über sich selbst, aber der Erfolg ihres Unternehmens ist noch immer nicht gesichert; denn man kann im Laufe des Tages kommen, um die Siegel abzunehmen, in den Zimmern ist Alles in Verwirrung geblieben und die gefährlichsten Papiere haben noch nicht entdeckt und vernichtet werden können.

Glücklicherweise ging der entsetzliche, erwartungsvolle Tag ohne Katastrophe vorüber. Mein Vater trug Nérina zu einem Freunde, Deschartres kaufte ein Paar Eggenschuhe für seinen Zögling, ölte die Thüren ihrer Wohnung, ordnete seine Instrumente und versuchte nicht des Knaben heldenmüthigen Entschluß wankend zu machen. „Ich wußte,“ sagte Deschartres, als er mir diese Geschichte fünfundzwanzig Jahre später erzählte, „ich wußte wohl, daß mir Madame Dupin im Fall des Mißlingens nie vergeben haben würde, ihren Sohn in solche Gefahr gestürzt zu haben; aber hatte ich das Recht einen guten Sohn zu hindern, wenn er sein Leben für die Mutter aufs Spiel setzen wollte? Das wäre jedem gesunden Erziehungsgrundsatze zuwider gewesen — und Erzieher war ich doch vor allen Dingen.“

In der folgenden Nacht hatten sie mehr Zeit zu ihren Arbeiten, die Wächter gingen früher zu Bett, so daß sie eine Stunde eher beginnen konnten. Die Papiere wurden gefunden und verbrannt, die Asche wurde in eine Schachtel gethan und mitgenommen, um im Laufe des Tages gänzlich fortgeschafft zu werden. Nachdem alle Mappen durchgesehen und gesichtet waren, wurden noch einige Schmucksachen und Petschafte mit Wappen zerbrochen, sie rissen sogar von den Umschlägen der Prachtbände die Wappen ab. Endlich, nachdem ihre Aufgabe vollendet war, wurden die Siegel wieder angelegt: die Abdrücke vortrefflich hergestellt; die Papierstreifen schienen unverletzt, die Thüren wurden ohne Geräusch geschlossen; nachdem die beiden Gefährten ihre edle That mit dem Geheimniß und den angstvollen Schauern vollführt hatten, welche die Ausübung des Verbrechens begleiten, konnten sie sich noch zur rechten Stunde in ihre Gemächer zurückziehen. Und hier fielen sie sich in die Arme und weinten zusammen ohne zu sprechen, denn sie hofften meine Großmutter gerettet zu haben. Aber noch lange mußten sie in qualvoller Sorge leben; ihre Haft verlängerte sich bis nach der Katastrophe des 9. Thermidor und bis zu jener Zeit wurden die revolutionären Gerichte täglich argwöhnischer und schrecklicher.

Am 16. Nivose, das heißt etwa einen Monat später wurde meine Großmutter aus dem Gefängniß in ihre Wohnung geführt; Bürger Philidor, der Commissär, der sie bewachte, war ein sehr humaner Mann, der sich mehr und mehr zu ihren Gunsten gestimmt fühlte. Das Protokoll, das unter seinen Augen aufgenommen und von ihm unterzeichnet ist, bestätigt, daß die Siegel unverletzt gefunden wurden; und da der Bürger-Portier keinesfalls Nachsicht geübt haben würde, muß angenommen werden, daß keine Spur das Eindringen verrieth.

 

Im Vorübergehen will ich bemerken, was ich nicht vergessen möchte, daß der brave Deschartres mir diese Geschichte nie erzählte, als wenn ich mit Fragen auf ihn eindrang; und auch dann erzählte er sie schlecht und die Einzelheiten habe ich nur durch meine Großmutter erfahren. Dennoch habe ich nie einen Erzähler gekannt, der weitschweifiger, peinlicher, pedantischer, eitler auf sein Thun in den größten Kleinigkeiten und mehr geneigt gewesen wäre, sich selbst reden zu hören, als dieser gute Mann. Er ermangelte nie, Abends eine Reihenfolge von Anekdoten und merkwürdigen Ereignissen aus seinem Leben zu erzählen, die ich nachgerade so gut kannte, daß ich ihn zurecht wies, wenn er sich nur um ein Wort irrte. Er gehörte zu denen, die nicht wissen, was sie groß macht, und wenn es darauf ankam, das Heldenmüthige seines Charakters zu beweisen, war dieser Mann, der in kleinlichen Dingen die lächerlichsten Ansprüche machte, naiv wie ein Kind und demüthig wie ein echter Christ.

Meine Großmutter hatte das Gefängniß nur verlassen, um dem Abnehmen der Siegel und der Prüfung ihrer Papiere beizuwohnen. Obwohl diese Haussuchung neun Stunden lang dauerte, fand sich natürlich nichts, was den Interessen der Republik zuwider gewesen wäre, und da sie diese Zeit mit ihrem Sohne Zusammensein konnte, war es für meine Großmutter ein glücklicher Tag. Die Zärtlichkeit der beiden rührte die Commissarien sehr, besonders den Bürger Philidor, der, wenn ich nicht irre, ein ehemaliger Perrückenmacher, ein eifriger Patriot und jedenfalls ein sehr rechtlicher Mann war. Er faßte eine besondere Vorliebe für meinen Vater, und that alles Mögliche, um das Urtheil meiner Großmutter zu beschleunigen, weil er hoffte, daß sie freigesprochen werden sollte; seine Bemühungen wurden jedoch erst zur Zeit der Reaction mit Erfolg gekrönt.

Am Abend des 16. Nivose führte Philidor seine Gefangene ins Kloster des Anglaises zurück und sie blieb daselbst bis zum 4. Fructidor (22. August 1794). Eine Zeit lang durfte mein Vater seine Mutter täglich einige Augenblicke im Sprechzimmer sehen. Er pflegte diesen glückseligen Moment im Kreuzgange in einer eisigen Kälte zu erwarten — und Gott sei geklagt, wie kalt es in diesem Kreuzgange ist, den auch ich drei Jahre lang in allen Richtungen durchschritten habe, denn ich bin in demselben Kloster erzogen. Mein Vater mußte oft stundenlang warten, weil besonders in der ersten Zeit die Sprechstunden täglich geändert wurden, entweder nach Belieben der Wächter oder auf Befehl der revolutionären Regierung, die einen zu häufigen und zu leichten Verkehr der Gefangenen mit ihren Angehörigen fürchten mochte. Zu andern Zeiten würde sich der zarte, schwächliche Knabe eine Brustentzündung zugezogen haben, aber heftige Gemüthsbewegungen schaffen uns eine andere Gesundheit, eine andere Organisation — er bekam nicht einmal den Schnupfen, und verlernte rasch sich immer zu beachten, und seiner Mutter, wie er sonst gethan hatte, das geringste kleine Leiden, die geringste Widerwärtigkeit zu klagen. Er wurde plötzlich zu dem, was er hinfort bleiben sollte und das verzogene Kind verschwand, um sich nie wieder zu zeigen. Wenn er seine arme Mutter bleich und erschreckt an das Gitter treten sah, weil er so lange auf sie gewartet hatte; wenn er bemerkte, daß sie im Begriff war in Thränen auszubrechen, so oft sie seine kalten Hände berührte; und wenn sie ihn bat, lieber nicht mehr zu kommen, als sich diesen Leiden auszusetzen, schämte er sich der Weichlichkeit, in die er sich hatte einwiegen lassen; er machte sich zum Vorwurf, die Entwicklung dieser übermäßigen Sorgfalt gefördert zu haben — und da er nun aus Erfahrung wußte, was es heißt für seine Lieben zu zittern und zu bangen, leugnete er das lange Warten, versicherte die Kälte nicht zu empfinden und brachte es endlich durch die Kraft seines Willens so weit, daß ihn der Frost in Wahrheit nicht mehr quälte.

Seine Studien waren natürlich unterbrochen; von Musik-, Tanz- und Fecht-Stunde war nicht mehr die Rede. Der gute Deschartres sogar, der so sehr zu unterrichten liebte, hatte jetzt ebensowenig Sinn für die Stunden, als der Schüler. Aber die Erziehung der Verhältnisse ersetzte die frühere vollkommen und diese ganze Zeit war für den Knaben nicht verloren, denn sie entwickelte das Gemüth und das Bewußtsein des Mannes.

Viertes Kapitel.
Sophie Victoria Antoinette Delaborde, — Mutter Cisquart und ihre Nichte im Stadthause. — Ueber das Jünglingsalter. — Außer der officiellen giebt es noch eine innere Geschichte der Nationen. — Sammlung von Briefen in der Schreckenszeit.

Ich verlasse für wenige Augenblicke die Geschichte meiner väterlichen Geschlechtslinie, um eine neue Persönlichkeit einzuführen, die ein seltsamer Zufall zu derselben Zeit in dasselbe Gefängniß brachte.

Ich habe von Anton Delaborde gesprochen, dem Ballspielhausaufseher und Meister Vogelhändler, d. h. von meinem Großvater mütterlicher Seits, der Vögel verkaufte, nachdem er ein Billard gehalten hatte. Wenn ich weiter nichts von ihm sage, so ist es, weil ich weiter nichts von ihm weiß. Meine Mutter sprach fast nie von ihren Eltern, denn sie hatte dieselben wenig gekannt und schon verloren, als sie noch ein Kind war. Wer ihr Großvater gewesen ist, wußte sie ebensowenig, als ich es weiß und auch ihre Großmutter kannte sie nicht. In diesem Punkte können die Geschlechtsregister der Plebejer nicht gegen die der Reichen und Mächtigen Stand halten. Hätten sie auch die besten oder die verworfensten Geschöpfe hervorgebracht — sie würden Straflosigkeit für die einen, Undank für die andern haben. Der Arme stirbt vollständig — die Verachtung des Reichen verschließt sein Grab und geht darüber hin ohne selbst zu wissen, daß es Menschenstaub ist, den ihr Fuß niedertritt.

Meine Mutter und meine Tante haben mir von einer Großmutter mütterlicher Seite erzählt, die sie erzog und gut und fromm war. Ich glaube nicht, daß die Revolution diese Familie zu Grunde richtete — sie hatte nichts zu verlieren und litt nur, wie das ganze Volk, durch die Theuerung der Lebensmittel; aber die Großmutter war, Gott weiß warum, Royalistin und erzog ihre beiden Enkelinnen im Abscheu vor der Revolution, von der sie nicht das Geringste verstanden. — Eines schönen Morgens holte man die älteste, welche fünfzehn bis sechszehn Jahr alt war und Sophie Victorie, ja selbst Antoinette (wie die Königin von Frankreich) hieß, um sie ganz weiß zu kleiden, zu pudern, mit Rosen zu schmücken und nach dem Stadthause zu führen. Sie wußte nicht, was das Alles bedeuten solle, aber die angesehensten Plebejer des Viertels, die eben von der Bastille und von Versailles zurückgekehrt waren, sagten ihr: „Kleine Bürgerin, Du bist das hübscheste Mädchen dieses Bezirkes, man wird Dich putzen; der Bürger Collot d'Herbois, welcher Schauspieler am Theater français ist, wird Dich einen Glückwunsch in Versen mit den nöthigen Gestikulationen lehren und hier ist ein Blumenkranz. Wir werden Dich nach dem Stadthause führen, dort sollst Du die Blumen überreichen und den Bürgern Bailly und Lafayette Deinen Glückwunsch hersagen und Du wirst Dich um das Vaterland verdient gemacht haben.“

Victorie spielte ihre Rolle mit großer Lebhaftigkeit; sie war von einer Menge hübscher, junger Mädchen umgeben, die jedoch nicht so viel Anmuth besaßen, wie sie, und den Helden des Tages nichts zu sagen oder zu überreichen hatten und nur zur Augenweide dienen sollten.

Mutter Cloquart, die Großmutter Victoriens — folgte ihrer Enkelin mit Lucie der jüngern Schwester und beide waren sehr glücklich und sehr stolz, als sie, sich durch die ungeheuere Menschenmenge drängend, endlich den Eingang des Stadthauses erreichten und sahen, mit welcher Grazie die Perle des Bezirkes ihren Glückwunsch vortrug und den Blumenkranz überreichte. Herr von Lafayette war gerührt — er nahm den Kranz und legte ihn mit den Worten: „Diese Blumen, liebenswürdiges Kind, passen besser zu Deinem Gesicht als zu dem meinigen,“ sanft und väterlich auf das Haupt Victoria's. — Man applaudirte und setzte sich zu einem Gastmahl, das zu Ehren Lafayette's und Bailly's veranstaltet war — endlich begann man um die Tische zu tanzen und zog auch die jungen Mädchen mit in den Kreis; die Menge wurde so dicht und lärmend, daß die gute Mutter Cloquart und die kleine Lucie die triumphirende Victorie aus den Augen verloren und nicht hoffen konnten, sie wieder zu finden — sie fürchteten erdrückt zu werden und gingen hinaus auf den Platz, um sie dort zu erwarten; aber auch von da verjagte sie die Menge. Das Geschrei des Enthusiasmus flößte ihnen Furcht ein; Mutter Cloquart, die nicht besonders muthig war, glaubte, Paris stürze über ihr zusammen und lief, weinend und schreiend, daß Victoria in diesem riesigen Rundtanze erdrückt und umgebracht werden würde, mit Lucie davon.

Erst gegen Abend kehrte Victoria in ihre ärmliche, kleine Wohnung zurück — sie wurde von einer Anzahl Patrioten beider Geschlechter begleitet, die sie so gut beschützt und mit so viel Ehrerbietung behandelt hatten, daß nicht einmal ihr weißes Kleid zerdrückt war.

An welches politische Ereigniß sich dieses, im Stadthause gegebene Fest knüpft, weiß ich nicht — weder meine Mutter noch meine Tante haben es mir sagen können; gewiß wußten sie es ebensowenig, als sie eine Rolle dabei spielten. Wie ich vermuthe, war es, als Lafayette der Commune anzeigte, daß der König sich entschlossen habe, in seine gute Stadt Paris zurückzukehren.

Wahrscheinlich fanden zu jener Zeit die kleinen Bürgerinnen Delaborde die Revolution sehr ergötzlich — aber später sahen sie einen schönen Kopf mit prächtigem blonden Haar auf einer Pike vorübertragen; es war der Kopf der unglücklichen Prinzessin Lamballe, und dieser Anblick machte einen so entsetzlichen Eindruck auf sie, daß ihr Urtheil über die Revolution immer durch diese grauenvolle Erscheinung bestimmt wurde.

Sie waren zu jener Zeit so arm, daß Lucie sich mit Handarbeiten beschäftigte, und Victorie die Stelle einer Statistin an einem kleinen Theater versah. Meine Tante hat das Letztere seitdem abgeleugnet, und da sie die Offenheit selbst war, so that sie es sicher in voller Ueberzeugung. Es ist möglich, daß sie es nicht wußte, denn in dem Sturme, der die Schwestern forttrieb, wie zwei arme, kleine Blätter, die sich hierhin und dorthin wenden, ohne zu wissen, wo sie sind — in diesem Gewirr von Unglück, Schrecken und unverstandenen Gemüthsbewegungen, die so stark waren, daß sie meiner Mutter zuweilen das Gedächtniß gänzlich raubten, ist es wohl möglich, daß sich die Schwestern für einige Zeit aus den Augen verloren. Es ist endlich möglich, daß Victorie, aus Furcht vor den Vorwürfen der frommen Großmutter und dem Schrecken der vorsichtigen und fleißigen Schwester, nicht zu gestehen wagte, zu welchen Hülfsmitteln das Elend und die Unvorsichtigkeit ihres Alters sie hatte greifen lassen. Aber die Thatsache ist gewiß, denn Victorie, meine Mutter, hat sie mir mitgetheilt, und zwar unter Umständen, die ich nie vergessen kann. Ich werde das seiner Zeit erzählen, aber ich muß den Leser bitten, kein Urtheil zu fällen, bis ich mit meiner Geschichte zu Ende bin.

Ich weiß nicht, an welchem Orte es meiner Mutter während der Schreckenszeit einfiel, ein gegen die Republik gerichtetes Lied zu singen. Am andern Tage hielt man Haussuchung bei ihr und fand das Lied, welches sie von einem gewissen Abbé Borel bekommen hatte, als Manuskript. Es war wirklich aufrührerischen Inhalts, aber meine Mutter hatte nur eine Strophe, die unschuldigste, davon gesungen. Sie wurde sogleich arretirt und — Gott mag wissen warum — auch ihre Schwester Lucie. Man brachte sie zuerst nach dem Gefängnisse der Bourbe, später in ein anderes und endlich nach dem Kloster des Anglaises, wo sich wahrscheinlich zu derselben Zeit meine Großmutter befand.

Man gab den zwei armen Kindern des Volkes dort eben so gut einen Platz, wie den vornehmsten Damen des Hofes und der Stadt. Auch Fräulein Comtat befand sich dort und war mit der Vorsteherin des Klosters, Madame Canning, innig befreundet. Die berühmte Schauspielerin hatte Anwandlungen einer tiefen und schwärmerischen Frömmigkeit und begegnete Madame Canning niemals im Kreuzgange, ohne sich vor ihr auf die Knie zu werfen und um ihren Segen zu bitten. Die gute Nonne, die viel Geist und Lebensklugheit besaß, sprach ihr Trost zu, stärkte sie gegen die Schrecken des Todes, führte sie in ihre Zelle und ermahnte sie, ohne sie einzuschüchtern, denn sie fand in ihr eine reine, schöne Seele, an der ihr nichts ein Aergerniß gab. Als ich im Kloster war, hörte ich, wie sie selbst es meiner Großmutter erzählte, wenn sie im Sprechzimmer die Erinnerungen an jene seltsamen Zeiten an sich vorüber gehen ließen.

 

Es ist nicht zu verwundern, daß Maria Aurora von Sachsen und Victorie Delaborde sich zwischen einer großen Menge von Gefangenen nicht bemerkten, die sich durch den Abgang [Abgang bedeutete damals, zur Guillotine geführt werden.] des Einen und die Arrestation Anderer oft erneuerte. Sie erinnerten sich in der That nicht, einander in dieser Zeit gesehen zu haben. Aber man gestatte mir hier einen flüchtigen Romanentwurf: Ich nehme an, daß Moritz, erstarrt vor Kälte im Kreuzgange spazieren ging, wo er, in Erwartung der Stunde, die ihn zu seiner Mutter bringen sollte, die Füße durch Stampfen zu erwärmen suchte; ich nehme ferner an, daß auch Victorie durch den Kreuzgang eilte und das schöne Kind erblickte. Hätte man nun zu ihr, die damals schon neunzehn Jahr alt war, gesagt: daß dies der Sohn des Marschall von Sachsen wäre, so würde sie geantwortet haben: „Es ist ein hübscher Knabe, aber den Marschall von Sachsen kenne ich nicht.“ Und setze ich endlich voraus, daß man auch zu Moritz gesagt hätte: „sieh, dies arme, hübsche Mädchen, das nie von Deinem Großvater gehört hat, und dessen Vater Vögel in Käfigen verkauft, ist Deine künftige Frau“ — so weiß ich nicht, was er darauf erwidert hätte — aber da wäre der Roman schon angelegt.

Uebrigens darf man nicht daran glauben. Es ist möglich, daß sie sich in diesem Kloster nie begegneten — und es ist wiederum nicht unmöglich, daß sie sich gesehen und im Vorübergehen gegrüßt haben, wäre es auch nur ein einziges Mal. Das junge Mädchen würde den jungen Schüler nicht besonders beachtet haben. Und wenn der junge Mann das Mädchen bemerkte, obwohl er durch eigne Sorgen ganz in Anspruch genommen war, hatte er sie doch einen Augenblick nachher schon wieder vergessen. Gewiß ist, daß weder der Eine noch der Andere sich einer solchen Begegnung erinnerte, als sie sich mehrere Jahre später, während eines andern Sturmes, in Italien kennen lernten.

Die Geschichte meiner Mutter geht mir nun vollständig verloren, wie sie ihr selbst aus der Erinnerung entschwunden war. Sie wußte nur, daß sie das Gefängniß ebenso verlassen, als betreten hatte, d. h. ohne zu wissen wie und warum. Da die Großmutter Cloquart über ein Jahr nichts von ihren Enkelinnen gehört hatte, hielt sie dieselben für todt. Sie war sehr schwach geworden, als die Mädchen endlich wieder zu ihr kamen, denn statt sich in ihre Arme zu werfen, fürchtete sie sich, und hielt sie für zwei Gespenster.

Ich werde ihre Geschichte wieder aufnehmen, so oft es mir gelingt, ihre Spur zu finden. Jetzt kehre ich zu der meines Vaters zurück, die ich, Dank seinen Briefen, nur selten aus den Augen verliere.

Die kurzen Zusammenkünfte, welche der Mutter und dem Sohne Trost gewährten, wurden plötzlich unterbrochen. Die revolutionäre Regierung ergriff strenge Maßregeln gegen die nahen Verwandten der Gefangenen, indem sie dieselben aus dem Weichbilde von Paris verbannte, und ihnen bis auf Weiteres untersagte, dasselbe zu betreten. Mein Vater ging darauf mit Deschartres nach Passy, wo er mehrere Monate zubrachte.

Diese zweite Trennung war schmerzlicher als die erste, weil sie eine vollständige war und die wenigen Hoffnungen zerstörte, die man sich bis dahin erhalten hatte. Meiner Großmutter war das Herz zerrissen, aber es gelang ihr, die Angst zu verbergen, die sie bei dem Gedanken empfand, daß sie ihren Sohn vielleicht zum letzten Mal umarmte.

Mein Vater hatte zwar nicht so düstre Ahnungen, aber er war ganz niedergedrückt. So lange er seine Mutter nicht verlassen hatte, war ihm der Schmerz etwas Fremdes, Unbekanntes. Er war schön, wie eine Blume, keusch und sanft wie ein Mädchen, und mit sechszehn Jahren war seine Gesundheit noch zart und seine Seele rein. In diesem Alter ist ein Knabe, der durch eine zärtliche Mutter erzogen wurde, ein ganz eigenthümliches Wesen; er gehört so zu sagen zu keinem Geschlechte, seine Gedanken sind rein, wie die eines Engels; die kindische Koketterie, die unruhige Neugier und die mißtrauische Eigenliebe, die so oft die erste Entwickelung des Weibes trüben, sind ihm fremd, und er liebt seine Mutter, wie eine Tochter sie nicht liebt und nie lieben kann. Indem er sich in das Glück versenkt, ihre ungetheilte Liebe zu besitzen und auf das Zärtlichste gehätschelt zu werden, wird die Mutter für ihn zum Gegenstande einer Art Anbetung. Es ist Liebe, ohne die Stürme und Fehler, zu welchen ihn später die Liebe zu einem andern Weibe führen wird. Es ist die ideale Liebe, der im Leben des Mannes nur ein Augenblick gehört; kurz zuvor giebt er sich auch keine Rechenschaft von seinem Gefühl und lebt in der Befangenheit eines sanften Instinktes, und gleich nachher wird diese Liebe durch andere Leidenschaften gestört und zerstreut oder durch den siegenden Reiz der Geliebten bekämpft. Dann wird sich seinen verblendeten Augen eine Welt neuer Gefühle erschließen; aber wenn er fähig ist, dies neue Götzenbild warm und edel zu lieben, so hat er die heilige Lehre der wahren Liebe von seiner Mutter empfangen.

Aber es scheint mir, als hätten Dichter und Romanschreiber die Fundgrube von Beobachtungen und die Quelle von Poesie nicht erkannt, welche dieser einzige kurze Augenblick im Leben des Mannes bietet. Es ist freilich wahr, daß es in unserer heutigen traurigen Welt keinen Jüngling giebt, es müßte denn ein ausnahmsweise erzogenes Wesen sein. Aber gewöhnlich erblicken wir nur einen unreinlichen, linkischen Schüler, den ein gemeines Laster befleckt, das die erste Reinheit in ihm zerstörte. Oder ist der Knabe dieser Pest der Schulen wie durch ein Wunder entgangen, so hat er doch unmöglich die Keuschheit der Einbildungskraft und die heilige Unschuld seines Alters bewahrt. Ueberdies nährt er einen versteckten Haß gegen die Kameraden, die ihn verführen wollen, wie gegen die Aufseher, die ihn unterdrücken. Er ist häßlich, selbst wenn ihn die Natur schön gebildet hat; er trägt eine widerwärtige Kleidung, hat ein blödes Wesen und schaut Niemand offen in's Gesicht. Im Geheimen verschlingt er die schlechtesten Bücher, aber er fürchtet den Anblick der Frauen und die Liebkosungen seiner Mutter verursachen ihm ein Gefühl der Scham, als ob er sich ihrer Zärtlichkeit unwürdig fühlte. Die schönsten Sprachen der Welt, die herrlichsten Dichtungen des Menschengeschlechts sind für ihn nur Gegenstände der Ermüdung, des Widerstrebens und des Ekels. Da ihm die beste Geistesnahrung auf rohe, sinnlose Art gereicht wird, verdirbt sein Geschmack und wendet sich dem Schlechten zu — und er wird jahrelanger Anstrengung bedürfen, um die Folgen dieser abscheulichen Erziehung zu vertilgen, um die eigne Sprache zu lernen, indem er die lateinische studirt, die er schlecht versteht, und die griechische, von der er gar nichts weiß; um seinen Geschmack zu bilden: um eine klare Ansicht der Geschichte zu gewinnen; um das häßliche Siegel zu verwischen, das eine traurige Kindheit und die Verdummung der Knechtschaft auf seine Stirn gedrückt haben; um endlich wieder frei umherzuschauen und den Kopf wieder hoch zu tragen. Und dann erst wird er seine Mutter lieben — aber schon bemächtigen sich die Leidenschaften seiner Seele und er hat nie die engelhafte Zärtlichkeit gekannt, die ich zu schildern versuchte, und die für die Seele des Mannes wie ein Ruhepunkt ist, wie eine entzückende Oase zwischen der Kindheit und dem männlichen Alter.