Tetralogie des Erinnerns

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AUSWANDERUNG

Vom Gelobten Land, das sich spitzwinkelig auf der blauen Sparbüchse abzeichnet, hat uns Rabbi Grünfeld während der Hebräischstunde in der muffigen Kammer neben der Synagoge schon viel erzählt. Dabei steht er hinter meinem Stuhl oder dem eines anderen Kindes, den linken Fuß auf der Stuhlleiste, weist mit dem dicken Zeigefinger, den er auch zum Bohren in seiner großen Nase benutzt, auf Passagen in der Kinderbibel und sticht zornig auf Buchstaben oder Schriftzeichen, die wir falsch benennen.

Palästina ist ein Land aus einem verworrenen Märchen, das nur in dem Augenblick ein wenig Wirklichkeit gewinnt, wenn die bebrillte, grauhaarige Dame kommt, um die Münzen aus der Büchse zu nehmen. Mit einem kleinen Schlüssel öffnet sie die Klappe an der Unterseite, zählt die Münzen mit enttäuschtem Gesicht und belehrt uns, wieviel Geld benötigt wird für jenes ferne Land, in dem Milch und Honig fließen.

Die Bilder in dem Buch, das sie uns hinterläßt, haben nichts mit den biblischen Geschichten zu tun, die ich kenne. Bauern und Bäuerinnen, die Steine aus dem Acker graben, pflügen oder Orangen ernten, Handwerker, die Bretter hobeln, Möbel anfertigen, Baracken bauen, ein Schmied, der Hufeisen schmiedet und vor einem Amboß Pferde beschlägt, Monteure, die Traktoren reparieren und Frauen mit weißen Kopftüchern, die Kühe melken und buttern, erinnern überhaupt nicht an den Tenach.

Wenn sie atemlos von DEM LAND erzählt, glänzen ihre Augen und sie bekommt rote Flecken auf den Wangen.

Mutters Lippen werden schmal. Sie sagt kein Wort, Vater rutscht unruhig auf dem Stuhl herum. Wenn die Tür hinter der Zionistin ins Schloß fällt, atmet er tief und erleichtert auf. Mit spöttischem Lächeln klappt er das Buch zu, schüttelt den Kopf und sagt, sowas sei nichts für ihn. Mutter zögert und gibt mir das Buch: Ob es nicht doch gut wäre, für später? Für eine Zukunft, die nicht mehr hier in Deutschland liegt?

Die Schulferien sind Befreiung und Verdammnis zugleich. Graue Tage kriechen wie Schnecken dahin. Walter und sein Schwesterchen Miriam sind verreist, vorausgeschickt nach England. Niemand, mit dem ich reden oder spielen könnte. Sogar ein entzündeter Hals unterbricht die zähe Langeweile nicht, verstärkt sie eher. Übelgelaunt liege ich im Bett und mache meiner Mutter das Leben sauer.

Mit Mühe bekomme ich das Fenster der Abteiltür auf, indem ich mich mit meinem ganzen Gewicht an den breiten Lederriemen hänge und ihn dann loslasse. Wind und fetter Kohlenqualm wehen ins Abteil. Meine Haare flattern, ich spüre die Geschwindigkeit des Zuges, der Mutter und mich nach Freiburg bringt. In dem Kinderheim der Hachschera, das wir noch nicht kennen, soll ich mich vorstellen, wo man auf das Land, das auf unserer Büchse abgebildet ist, vorbereitet wird. Mit bangen Vorgefühlen lausche ich dem Dreivierteltakt der Eisenbahnräder. Die Vögel auf den Notenlinien der Drähte, die schwarzen Wälder und fernen blauen Berge, die Süßigkeiten, die ich bekommen habe, und die Bahnhöfe, auf denen laute Stimmen warme Wurst und Kölnisch Wasser feilbieten, vertreiben zeitweilig meine innere Angst.

Das große kahle Haus mit den breiten Steintreppen, die hohen Säle mit den langen Tischen und Holzbänken, auf denen Dutzende von weinerlichen Kindern sitzen, stapelweise Butterbrote von verbeulten Emailletellern essen und warme Milch mit einer Haut darauf aus Blechbechern schlürfen: All das bestätigt nur meine angsterfüllte Phantasie.

Mutter sitzt unten im Büro bei der grauhaarigen Dame, die manchmal die Büchse bei uns leert.

Nicht laut, aber in befehlendem Ton weist ein Mädchen, das Mia ähnelt, aber dicker ist und schwarze Locken hat, mich zu einem Platz an dem Tisch, wo ich essen soll. Kein Bissen rutscht mir durch die Kehle, die zugeschnürt ist vor Angst und Verzweiflung, daß Mutter fortgeht und mich hier unter all den Fremden mit ihren hebräischen Liedern und komplizierten Horra-Tänzen zurückläßt.

Die Kinder neben mir sehen mich schadenfroh an, und als meine Tränen in die Milch mit der dicken Haut fallen, kennen sie kein Erbarmen. Ich klettere über die Bank und laufe zur Tür, wo das Mädchen mit den Locken mich aufhält und etwas freundlicher als vorhin fragt, warum ich schon vom Tisch aufgestanden bin.

Erbittert schiebe ich sie zur Seite, renne durch die Korridore mit knarrenden Dielen, über Treppen, die ich nicht kenne, vorbei an Schlafsälen, wo Betten in Reih und Glied stehen. Ich schreie meine Todesangst und Verzweiflung ohne Scham und Zurückhaltung heraus und stoße jeden, der mich anspricht oder aufhalten will, aus den Weg. Unten an der großen Treppe, am Ende des Alptraums, sehe ich Mutter stehen, die Augen vor Entsetzen geweitet. Sie stürzt mir entgegen. Ich klammere mich an ihr fest, um sie nie mehr loszulassen.

Im Zug auf der Heimreise komme ich wieder zu mir. Alles will ich ertragen, alles lieber, als allein ins Gelobte Land fahren.

In München werde ich acht Jahre alt. Mein Vater war dort schon vorher in Geschäften. Wir sind ihm nachgereist. Aus dem Fenster des Hotels Metropol sehe ich das Getümmel auf dem Platz vor dem Bahnhof. Die Straßenbahnen, mir aus meiner Geburtsstadt unbekannt, klingeln und machen ein Feuerwerk mit ihren Bügeln. Immer wenn ich Mutter frage, warum wir nie damit fahren, antwortet sie ausweichend, bis ich aus Gesprächsfetzen während des Frühstücks begreife, daß der öffentliche Verkehr für Juden riskant ist. Die Braunen werden manchmal sehr grob und unverschämt, und Mutter hat Angst, daß uns etwas zustoßen könnte.

Im Frühstücksraum ist hinten in einer Ecke ein Tisch für uns gedeckt. Der Ober, den Vater schon seit Jahren kennt, nickt nur. Er bringt den Honig und das Vierminuten-Ei, als die anderen Gäste den Saal schon verlassen haben, und sagt leise, plötzlich vertraulich: »’s Maul muß i halt’n, i darf Sie nit mehr kennen.« Vater senkt den Kopf und murmelt, er verstehe das. Mit besorgtem Gesicht macht er sich auf und geht seinen Geschäften im Zentrum der Stadt nach.

In der dunklen Wohnung einer Tante, die ich nur aus den Erzählungen von Oma kenne, treffen wir uns Stunden später. Bis dahin gehe ich mit Mutter durch windige Geschäftsstraßen und stehe staunend vor Schaufenstern mit vielen Märklin-Eisenbahnen, die mit großer Geschwindigkeit durch Tunnels und an bayrischen Spielzeugdörfern entlang fahren, gezogen von großen Dampflokomotiven mit echten Tendern. Die grünen und roten Waggons winden sich wie glitzernde Schlangen durch die Berglandschaft, und atemlos, die Stirn gegen die kühle Scheibe gepreßt, verfolge ich ihren Lauf. Diese Schätze sind für mich unerreichbar, aber ein schöner Trostpreis fällt mir zu. Stolz trage ich mein Geburtstagsgeschenk am hölzernen Griff, einen echten Märklinbaukasten mit Rädern, Platten, Verbindungsleisten, Bolzen, Muttern und glatten Stäben.

Auf dem glänzend polierten Tisch in Tantes düsterem Eßzimmer packe ich, auf dem harten Sitz eines mit Leder bezogenen Stuhls kniend, mein Festgeschenk aus. Vater kommt herein. Mit abwesendem Blick betrachtet er das Spielzeug. Sein Gesicht ist weiß. Kaum hörbar, heiser, ohne einen von uns dabei anzusehen, sagt er: »Mein ältester Kunde hat mich vor die Tür gesetzt, aus Feigheit oder noch Schlimmerem.«

Auf dem Weg zu Moische Schwarz und seiner koscheren Gaststätte, wo Vater während seiner Studentenzeit oft gegessen hat, klärt sich sein Gesicht auf. Er erzählt Anekdoten über Moische, den polnisch-jüdischen Gastwirt, der seine Gäste auf Jiddisch lobt, wenn sie die Teller leergegessen haben. Sein »Minnischt werden gepitzt« (muß nicht mehr geputzt werden) klingt von zu Hause her vertraut, wo Vater es bei Tisch oft scherzend zitiert hat.

Die Gaststätte von Schwarz ist ganz anders, als ich sie mir vorgestellt habe. In einer großen Wohnung im Obergeschoß, wo drei Zimmer ineinandergehen, stehen mit weißem Damast gedeckte Tische, darauf große Porzellanteller und schwere Messer und Gabeln. Leinenservietten, so groß wie Schürzen, liegen neben dem Besteck; einige der Gäste, denen der Schweiß auf der Stirn perlt, haben sie zu Eselsohren um den Hals gebunden.

Große silberfarbene Terrinen mit dampfender Nudelsuppe stehen auf den Tischen, und Moische, ein kleiner dicker Mann mit einem Käppchen auf den schwarzen Locken, freundlichen runden Kohlenaugen und einer Fleischerschürze vor dem Oberhemd, fischt für mich zwei große Klöße aus der Schüssel, weil heute mein Geburtstag ist. An der Tür hat er Vater wie einen wiedergefundenen Sohn umarmt und mich gelobt, daß ich schon so groß bin.

Immer wieder setzt er sich auf den vierten Stuhl an unserem Tisch, und wenn einer der Gäste ihn dringend ruft, macht er eine beschwichtigende Handbewegung und sagt: »Schoyn, schoyn.«

Erregt diskutieren die Gäste miteinander, drehen sich halb um, reden mit den Nachbarn am Nebentisch und stellen Fragen an uns. Sooft er Zeit dazu findet, redet Moische auf meine Eltern ein. Ich versuche die krummen deutsche Sätze zu entwirren und gähne vor Müdigkeit.

Als nach der schweren, süßen »Birnen-Kugel« sich Zigarrenrauch mit dem Kaffeeduft vermischt, höre ich wie von ganz fern seine Stimme, die sagt: »Ihr seid meschugge, wenn ihr bleibt in diesem Land.«

Der Name Effie David summt durch meinen Kopf. Mia reist nach Amerika, um dort zu heiraten. Die Eltern reden von Effie David wie von jemanden, den sie von dort erwarten. Ist es die Tochter meines Großonkels, Großvaters Bruder, der Arzt in New York ist? Warum sollte er sie nach Deutschland schicken?

Mit meiner Frage, wie alt sie sei, bringe ich Mutter zum Lachen. Es handelt sich nicht um ein Mädchen, sondern um ein offizielles Schreiben. Der Großonkel muß es unterschreiben, damit wir die Erlaubnis bekommen, ins sicher-ferne Nordamerika auszuwandern.

 

Die Abbildungen der riesigen Hochseeschlösser mit hunderten von Bullaugen und Fenstern in langen geraden Reihen übereinander, die gigantischen schiefen Schornsteine, vor denen winzige Menschlein sich wie Mücken auf den Oberdecks ausnehmen, die schlanken Buge mit den weiten Nasenlöchern für die Ankerketten bewundere ich jedesmal, wenn wir auf dem Weg zum Kurhaus am Schaufenster des Reisebüros vorbeigehen. HAPAG steht mit großen Buchstaben auf dem Aushängeschild, und auf der Karte des Ozeans, der Europa von Amerika trennt, sehe ich an den dünnen schwarzen Linien, wo diese Riesen fahren. Wenn Opas Bruder uns ein Affidavit schickt, werden wir vielleicht auch zu den Passagieren gehören und meine Phantasiebilder werden Wirklichkeit.

Vater öffnet die große Glastür des Reisebüros, als sei es selbstverständlich, daß wir hineingehen.

Innerlich jauchze ich, halte aber meine Worte zurück. Mutter drückt aufgeregt meine Hand.

Hinter der hohen, hölzernen Theke, auf der unter Glas noch weitere Karten mit einem Wirrwar von Linien liegen, steht ein Herr in einem eleganten karierten Anzug und mit Pomade in den blonden Haaren. Er spricht zu Vater über Schiffe und Geld, über Papiere und Genehmigungen, und Mutter hört zu, um kein Wort zu verpassen.

Von dem Plakat mit dem bärtigen Seemann, der mit beiden Armen den Erdball umspannt, von den kleinen Frachtschiffen, vor allem aber von dem Modell des Ozeandampfers, an dem alles richtig dran ist, sogar das Schwimmbad und die Rettungsboote, vermag ich die Augen kaum abzuwenden.

Nur unter stillem Protest gehe ich wieder mit nach Hause und möchte unbedingt wissen, ob und wann wir fahren werden.

Abwechselnd klopfen die Eltern an Omas Tür und rufen leise oder laut, flehend oder eindringlich »Mutter« und »Mutter, mach auf«. Dann legen sie das Ohr an das glatte weiße Paneel und gebieten mit der Hand Stille.

Panik überkommt mich und weinend schreie ich: »Oma, Oma.« Senta erschrickt und bellt laut und durchdringend. Vater brüllt: »Ruhe«.

Klickend wird das Schloß von innen geöffnet und in der Tür steht Großmutter im langen weißen Nachthemd. Das graue Haar fällt ihr offen auf die Schulter, ihre Augen sind starr, die Lippen des gebißlosen Mundes verstört zusammengekniffen. Mutter sieht sie mit tränenüberströmten Gesicht an. Vater überhäuft Oma mit Vorwürfen. Sie geht zum hohen Holzbett zurück und, barfuß auf der Kante sitzend, bricht sie in heftiges Schluchzen aus. Feige fliehe ich in den Gang zu Senta. Noch nie habe ich Oma so gesehen.

Klagen und Anschuldigungen schwirren im Zimmer hin und her, ein Gewirr weinerlicher Stimmen: »Ich will nicht nach Übersee ...« »Das ist das beste ...« »Nicht so weit weg ...« »Du bringst uns alle in Gefahr ...« »Nicht zu ihr nach Holland ...« »Du mußt dich endlich anpassen ...« »Egoist ...« »Tyrann ...«

Die Badezimmertür trennt mich von dem Kreischen und Schimpfen. Mein Spiegelbild öffnet den Mund und fragt: »Wo werden wir hingehen?«

Alles an unserem Gast ist schwarz. Der Name – er heißt Schwarzschild –, das lange Haar, die Augen und die runden Brillenränder. Der schlotternde Wintermantel, den er selbst im Zimmer anbehält, aber auch sein Anzug, die glänzenden großen Schuhe und der Schlapphut. Seine Äußeres flößt mir keine Angst ein. Trotz der schwarzen Worte, die ich nur zum Teil verstehe, ist er gutmütig, sogar freundlich. Eine traurige, zahme Krähe.

Vater könnte vielleicht seine Stelle in einer Fabrik in Chemnitz bekommen, denn er selbst geht fort, weit weg nach Übersee, er sieht schwarze Wolken aufkommen. Bei Tisch bittet er Vater, die Stelle abzulehnen und bald seinem Beispiel zu folgen.

In den Zeitungsstapeln, die neben seinem Stuhl wachsen, liest er täglich stundenlang. Nur das Röcheln der schwarzen Pfeife und das knisternde Umwenden der Blätter unterbricht die Stille im Zimmer bis zu dem Augenblick, in dem er aufspringt und meinen Eltern eine Passage in einer Zeitung zeigt oder vorliest, wie Hitler und Goebbels Gift und Galle über die Juden speien.

Nach seiner Abreise, als das Gästebett und die Zeitungen fortgeräumt sind, bleiben wir niedergeschlagen zurück und Vater nennt ihn Jeremias.

Der nächste Gast ist blond wie Siegfried aus dem Nibelungenlied. Keine Spur von Trübsal. Er sei Parteimitglied, sagt Vater, habe aber nichts gegen Juden.

Dem neuernannten Direktor der Fabrik in Mutters sächsischer Geburtsstadt hören meine Eltern zu wie einem gestrengen Lehrer. Sie nicken eifrig, als er ihnen den Vorschlag macht, Vater in Holland als seinen Stellvertreter anzustellen.

Als sein Mercedes brummend vor unserem Haus anfährt, winken sie ihm vor der Haustür hinterher wie einem abreisenden Freund.

Ich schaue ihm von oben nach und weiß, wohin wir gehen werden.

Sonntag um Sonntag sitzen wir bei alten Onkeln und Tanten am Tisch. Überall dieselben Gespräche, überall Zimtsterne und überall lange Umarmungen, Tränen und gestammelte Abschiedsworte. Großmutter will ihre Brüder und Schwestern noch einmal sehen, und die Orte, die sie aus ihrer Mädchenzeit kennt. Vater, der sonst nicht besonders für die Familie schwärmt, ist jedesmal blaß und traurig. Die alten Leute in den engen Stuben mit dem glattgebohnerten Linoleum und den fleckenlosen Spitzendecken sind auch ein Stück von ihm, nur Mutter sitzt ein wenig verloren daneben.

Der Großonkel in Rastatt hat sein letztes Vieh für einen viel zu niedrigen Preis verkauft, um seinen Sohn Walter auf die Insel Zypern schicken zu können. Stolz, mit tränenrauher Stimme, zeigt er eine Ansichtskarte, auf der die Insel abgebildet ist wie eine Hand, die mit ausgestrecktem Finger nach Osten zeigt, nach Palästina, nach dem Gelobten Land.

Sie steht schon in der Tür, als unser Auto vor dem Haus zum Stehen kommt, und versucht noch rasch die Schürze abzubinden. Wir alle bekommen einen dicken Kuß und ich werde umarmt, bis ich keine Luft mehr kriege. Oma kann kein Wort hervorbringen.

Um meine Großtante hängt der Duft von süßem Gebäck. In der »guten Stube« steht eine große Kaffeekanne, darum herum selbstgebackene Torten und das Festtagsservice.

Als meine beiden Vettern mit ihrer Schwester Selma hereinkommen und uns begrüßen, ist das Zimmer plötzlich voll.

Alle versuchen sich normal zu verhalten, stellen Fragen im bäurischen Dialekt von Freistett, aber immer wieder zerreißen Löcher der Stille das Gespräch. Dann klirren die Tassen und nur das Kauen des krümeligen Gebäcks ist zu hören.

Allmählich löst sich das Unbehagen und meine Vettern wagen, nach unsere Abreise zu fragen. Tante wendet das Gesicht ab, um die Tränen zu verbergen. In der Ferne gellt die Dampfpfeife der kleinen Bummelbahn. Die kleinen Fenster, die auf die staubige Hauptstraße des Dorfes hinausgehen, werden plötzlich verdunkelt durch die schwarze Lokomotive mit den zwei Holzwaggons, die dicht an den Häusern vorbeifährt. Die Tassen tanzen auf den Untertassen. Das Rumpeln und das durchdringende Gellen der Zugpfeife übertönen das Gespräch.

Selma erklärt mir das Dominospiel, aber nach kurzer Zeit ziehe ich die Gesellschaft meiner Vettern vor, die mir die Ziegen und Hühner auf dem Hof zeigen.

Vom Dachboden aus, wo das Heu aufgestapelt ist, höre ich weit unten Mutter ängstlich rufen. Durch den herzförmigen Ausschnitt der Aborttür hinter dem Hühnerstall ruft sie um Hilfe, denn ein großer Hahn versperrt ihr den Weg zum Haus. Schmunzelnd befreit meine Großtante sie und auf einmal ist die Traurigkeit verflogen.

Auf dem Rücksitz von Vaters dunkelblauem Adler kniend, sehe ich meine Verwandten kleiner, immer kleiner werden, bis sie in einem Schleier von aufgewirbeltem Staub unsichtbar geworden sind.

Die Fahrt zur eisernen Rheinbrücke bei Kehl ist kurz, aber die Angst dauert lang. Vor der Auffahrt stehen sie in ihren grünen Uniformen, mit Stahlhelmen oder steifen grünen Mützen.

Großmutter keucht vor Aufregung und bekommt von Mutter einen Löffel durchdringend stinkender Baldriantropfen.

Der barsche Befehl zum Aussteigen ertönt. Oma darf sitzenbleiben. Auf einem langen Holztisch mit Metallkanten nimmt einer der Beamten alle Fläschchen und Tiegel aus dem ledernen Toilettenkoffer und schraubt die Deckel ab. Er schnüffelt in Vaters Papieren und befiehlt den Eltern, zur Leibesvisitation ins Zollgebäude zu gehen.

Ich warte beim Koffer und stottere vor Angst, als ein Stahlhelm mich fragt, was ich bei mir habe.

Schweigend, mit blassen Gesichtern kehren sie zurück. Im Auto herrscht Totenstille, als wir die Schlagbäume passieren. Erst drüben, wo die französischen Zöllner stehen, höre ich wieder ihren Atem, als hätten sie ihn die ganze Zeit über angehalten. Oma öffnet die Augen und streichelt meine Hand.

Die schnurrbärtigen Grenzer in Dunkelblau mit roten Litzen gucken flüchtig in die Pässe. Einer überschüttet Mutter mit einem prasselnden Wortschwall, bis ihr aufgeht, daß er den Inhalt des Kofferraums kontrollieren will. Als er Großmutter auf dem Rücksitz sieht, winkt er belustigt ab: »Laßt nur«, und bedeutet uns, den Weg fortzusetzen.

Beim Schilderhäuschen schwenkt ein alter Mann seinen Regenschirm wie einen Scheibenwischer hin und her. Grinsend begrüßt er uns und zieht mit Schwung den schwarzen Filzhut vor seiner Schwester. Mit einem feuchten, vom Zigarrenrauch vergilbten Schnurrbart küßt Onkel Edward uns auf beide Wangen und hält Großmutter noch länger fest als uns. Mit ihm fährt sie vor uns her nach Straßburg hinein. Fachwerkhäuser und Kathedralen, geräumige Plätze und bewachsene Ufer ziehen wie im Traum an mir vorüber. Vor einem Restaurant, das Crocodile heißt, halten die Autos an. Ein Franzose mit einem großen dunklen Barett, ein Vetter, den ich nicht verstehen kann, wartet dort auf uns.

Im Gänsemarsch gehen wir durch große dunkle Säle, auf dicken Teppichen an vornehm speisenden Gästen vorbei, die leise redend oder in andächtiger Stille vor ihren Tellern und Gläsern sitzen. Ein steinernes grünes Krokodil spuckt plätschernd Wasser in einen Brunnen. Der Geschäftsführer verbeugt sich wie ein Klappmesser vor meinem weißhaarigen Onkel und führt uns zu einer abgeschirmten Ecke in einem von kleinen, weißgrünen Scheiben erhellten Saal. Das reihenweise aufliegende Silberbesteck und die Weingläser neben jedem Teller außer dem meinen verheißen eine lange, langweilige Sitzung.

Nachdem der Kellner die Gläser gefüllt hat, hebt Onkel Edward feierlich das seine und spricht mit feuchten Augen von Freiheit und Wiedersehen, von seinen Schwestern und Brüdern, von Verdun und »les Boches«, die Frankreich schon Mores lehren wird.

Vetter Rolf ist sparsam mit Worten. Erst nach der langen Mahlzeit, als Zigarrenrauch und Schlaf mir in den Augen brennen, höre ich von weitem, wie Vater ihn bittet, etwas für uns nach Holland zu bringen.

Sehr bald nach diesen Worten, am späten Nachmittag, kehren wir zurück in das Land, das uns haßt.

Senta ist tot, Senta ist tot, Senta ist tot. Im Takt meines Herzklopfens weine ich die Worte in mein Kissen. Ich bin untröstlich, obwohl mir die Eltern im neuen Land einen neuen Hund versprochen haben. Senta war krank, Senta war krank, Senta war ...

Mit ihren lieben großen Hundeaugen hat sie mich heute morgen noch angesehen, die Ohren wachsam aufgestellt, den Schwanz wie ein Pendel schwenkend.

»Sie kann nicht mit.« »Sie ist krank.« »Man läßt sie nicht ins Land hinein ...« Nichts davon will ich heute hören, nichts.

Ich begrabe meinen Kummer in ihrem schwarzen Fell.

Schweifwedelnd geht sie mit Vater, krank aber froh.

Ohne sie kommt er zurück. Sogar ohne Halsband!

Ich stehle ihr ovales Porträt aus dem Fotoalbum und verstekke es als meinen kostbarsten Schatz.

Drei baumlange Männer trampeln über den Dielenboden unserer Wohnung. Die Teppiche haben sie aufgerollt. Tische, Stühle und Polstersessel stehen nebeneinander und aufeinander an den Wänden. In schmuddelig-braunen Arbeitsschürzen, die Ärmel hochgekrempelt, packen die Männer in fliegender Eile Geschirr, Bücher und alles, was herumliegt oder herumsteht in Zeitungspapier. Mit großen, von Druckerschwärze und Staub fleckigen Händen legen sie jedes Stück sanft und doch fest in Umzugskisten aus rohem Holz. In unverständlichem Holländisch rufen sie in dem laut widerhallenden Zimmer einander etwas zu, machen Späße und lachen schallend. Neugierig betrachte ich die flinken Finger und die muskulösen, geäderten Arme, auf denen die blauen Tätowierungen von Frauen und Herzen mich abstoßen und zugleich fesseln.

Mutter will helfen, doch die Stücke, die sie heranträgt, werden ihr aus den Händen gerissen und verschwinden, in Zeitungen gewickelt, unerkennbar zwischen dem anderen Hausrat.

 

Sie ermahnt mich, nicht im Weg zu stehen und die Männer nicht von der Arbeit abzuhalten, aber einer sagt gutmütig im drolligen Deutsch meiner holländischen Tante, daß ich sie nicht störe.

Gereizt stampft Vater durch das Haus, gibt Anweisungen, die von den Umzugsleuten selten befolgt werden, da sie nicht verstehen können oder wollen, was er sagt.

Mutter und mir gegenüber wird er ausfällig, aber nie so laut, daß die Männer es hören. Ängstlich besorgt vor Kratzern und Flecken auf den Möbeln und dem Flügel, seinem besonderen Hätschelkind. Mit Schweißperlen auf den roten Gesichtern, die Gurte wie Taue um Nacken und Schultern gespannt, Anweisungen zischend, keuchend und stöhnend schleppen die Riesen das schwere Ungetüm über Korridore und Treppen zum Möbelwagen auf dem Gehsteig. Oben meine Eltern, blaß und ruhig.

Unten, neben den mit Jute überzogen Ladeklappen, steht in all den Stunden ein Deutscher mit grünem Tirolerhut und Feder, eine schwarzlederne Aktentasche vor den Füßen, eine Stange Kreide in der Hand. Auf jedes verladene Stück macht er ein Zeichen und schreibt es auf in seinem Buch.

Zu den Eltern und zu den Männern sagt er kein Wort und runzelt nur die Brauen, wenn diese ihre Späße treiben.

Argwöhnisch kontrolliert er das Verriegeln der Türen und versiegelt die Schlösser mit Blei.

Kahl und leer ist die Wohnung. Die weiße Tür, hinter der Senta das Haus bewacht hat, fällt hinter uns ins Schloß. Das Klicken hallt scharf durch das Treppenhaus. Keiner hört es, niemand kommt heraus, um uns nachzuwinken.

Mein Zuhause fort, mein Zimmer fort, mein Hund fort, mein Spielzeug fort, fort, fort, alles fort. Kein Harro mehr, keine Schule mehr, sogar mein Bär ist fort. Alles, was mir geblieben ist, liegt in einem Koffer neben mir auf dem Rücksitz, wo eigentlich Oma hätte sitzen sollen.

Sie ist mit der Bahn vorausgefahren, geradewegs nach Rotterdam. In dem Abteil, in dem sie saß, als führe sie zur Schlachtbank, jammernd, daß sie die Reise nicht überleben werde, verschwand sie aus meinen Augen.

Dörfer und Städte gleiten vorbei. Ein Kilometerstein folgt auf den anderen. Wenn Hunger, Durst oder andere Bedürfnisse meinen Vater zum Halten zwingen, beginnt die Suche nach einem Gasthaus, wo nicht »Juden unerwünscht« auf den Türen steht. Sehr oft setzen wir die Reise fort, ohne einen Zufluchtsort gefunden zu haben, und fahren weiter bis zu einem Platz, wo wir die unterwegs gekauften Lebensmittel auf einer Bank oder im Gras sitzend essen können. Es ist wie ein Picknick, aber lustig ist es nicht.

Durch Wälder und über Hügel brummt Vaters Adler. Eintönig verschlingt er das Band aus Asphalt und Kopfstein, bis die Dunkelheit einbricht.

Wir sind müde, sehr müde, als ein Wegweiser Mönchengladbach anzeigt.

Von Hotel zu Hotel zu Hotel; wie Bettler vor den Türen abgewiesen. Zuletzt eine Pension von Juden für Juden.

Der Schlaf will nicht kommen, ich habe keine Tränen mehr.

Vorhänge flattern leise im Wind. Durch das Fenster scheinen die Sterne der letzten Nacht in meinem Geburtsland.