Tetralogie des Erinnerns

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»WIR HABEN NICHTS GEWUSST«

Nachschrift

Offenburg, Appenweier, Achern; Namen auf Schildern an den Landstraßen, undeutliche Echos aus meiner Kindheit.

Aus den blaugrünen, dunstig verregneten Wäldern des Schwarzwaldes fahren wir in die Rheinebene. Wir kommen aus der Schweiz und nehmen auf dem Rückweg in die Niederlande die Route über mein Herkunftsland.

Beim Überschreiten der Grenze fühle ich die Reste fünfzig Jahre alter Angst, nicht durchgelassen zu werden, und dann den prickelnden Triumph beim Handzeichen des Beamten, der uns in sein Land fahren läßt, ohne auch nur den Paß zu kontrollieren.

Mein kleiner roter Citroen mit niederländischem Nummernschild, meine Frau neben mir und meine schlafende jüngste Tochter auf dem Rücksitz erwecken das Vertrauen der Grenzposten an allen Übergängen. Ich bin kein unerwünschter Flüchtling mehr, sondern ein Tourist, der seine Devisen ausgeben will.

Ein Punkt auf der Landkarte, fast unauffindbar, ist Freistett am Rhein in der seit Jahrhunderten umstrittenen Tiefebene, die trotzdem von allen Machthabern vergessen wurde.

Darf ich die Heimreise nach den sonnigen Ferien am Genfer See durch eine Fahrt stören, die fünfzig Jahre alte Gespenster wachruft? Der Ortsname Freistett zieht mich magisch an, zieht das Kind von damals an, das auf dem Rücksitz des blauen Adlers seine Verwandten in einem hochgewirbelten Staubschleier aus seinem Leben verschwinden sah.

Auf ruhigen geraden Straßen, durch kleine Dörfer lenke ich den Wagen in der beinahe holländischen Landschaft. Ich fahre wortlos wie damals mein Vater fuhr. Ich sehe, was er sah, was ich sah. Einen Augenblick lang bin ich er.

An der Kreuzung verfehle ich die Abzweigung. Will ich wirklich sehen und hören? Nach rechts: das retuschierte Foto meiner Erinnerung, zweihundert Meter vor uns. Sand und Staub sind jetzt Asphalt. Die Schmalspurbahn ist verschwunden. Gehsteige an beiden Seiten, neu und sauber. Häuserfassaden: rosa, grün und gelb; moderne Geschäftsfronten: ein vollkommenes Potemkinsches Dorf.

Und doch noch dasselbe: die Haustür links, die Stalltür rechts, die überhängenden Dachgesimse, die flachen roten oder schwarzen Ziegel.

Ich suche das Haus. Erkenne es und kenne es nicht wieder. Ein Laden für Papier, Zigarren, Zeitungen. Die städtisch aussehende Verkäuferin weiß von nichts. Wem das Haus gehört hat, wer darin gewohnt hat, damals und später? Der Chef, jünger als meine Erinnerung alt ist, verweist mich an eine ältere Nachbarin zur rechten. Hinter ihrem Getränkeladen eine hochbetagte Schwiegermutter mit straffem grauem Haarknoten, wie ihn die Frauen des Dorfes in meiner Kindheit trugen. Ihr angegrauter Sohn führt das Wort. Auf dem breiten Gesicht ein Grinsen, mißtrauisch, dann verlegen, er ist auf der Hut, wird dann offen und ernst.

Ob er meine Tante und meine Vettern gekannt hat?

Freunde sind sie gewesen, und gute Nachbarn!

Er führt uns auf den Hof hinter dem Haus. Der braunschwarze Schäferhund hinter Gittern fletscht die Zähne und springt wild gegen die Stäbe, als spürte er die Nervosität seines Herrn. Dieser ruft nach einer alten Nachbarin, die auf dem Hof meiner Tante Hermine, hinter dem Haus mit dem Papiergeschäft, ihre Wäsche aufhängt.

Nichts ist verändert, nichts umgebaut. Die Stalltür, der Heuboden, die Grube, über der der Abtritt hing ... lächelndes Erinnern, ja, vor zehn Jahren abgerissen.

Das Gespräch in schwerem Dialekt läuft sozusagen um uns herum, über uns aber ohne uns. »Weißt du noch, die Bertha von nebenan, und die Rosel, die ein bißchen einfaltig war?«

Die alten Frauen und der Sohn entwirren die Zweige meines Stammbaums, auch solche, die ich selbst nicht gekannt habe.

Betretene Stille, als ich ihre Frage beantworte, was aus uns geworden sei. Lagernamen fallen wie Steine in eine Schlucht. Befangen sieht der Nachbar mich mit unruhigen Augen an, seine Finger zupfen an einem Knopf: »Wir haben nichts gewußt, die haben uns den ganzen Krieg lang für dumm verkauft.«

Dann auf einmal vertraulich lächelnd, halb zu uns, halb zu den Frauen um uns herum gewandt, erzählt er von seiner Kindheit, als die Väter ihren Söhnen mit einer neuen Strafe drohten: dem KZ.

Das Lager bei Kuhberg war nicht weit, Gerüchte darüber sickerten ins alltägliche Leben durch, aber von der »Endlösung der Judenfrage« hat niemand im Dorf damals gewußt. Erst nach dem Krieg hätten sie davon gehört und nicht begreifen können, was »mit die Judde« geschehen war.

Selbstsicher setzt er das moralische Großreinemachen fort. Mit schrägem Blick sieht er mich an und schimpft auf die Alliierten, die Franzosen, die Holländer, die seiner Meinung nach alles gewußt und trotzdem den Judas gespielt haben. Unentwegt redet er weiter: Sein Vater trug die schwarze Uniform der SS und mußte in Dachau Dienst tun, aber sein Gewissen konnte die Last nicht ertragen. Noch vor Kriegsausbruch kam er ganz verstört nach Hause und weigerte sich, das befohlene Henkerswerk länger auszuüben.

Was soll ich, in meinen Zweifeln, in meiner Unsicherheit sagen? Was haben sie wirklich gewußt, was aus ihrem Bewußtsein verdrängt, um leben zu können?

Fort will ich, weg von dem Ort, wo meine gebrechliche Tante mit ihren achtzig Jahre alten Augen mitansehen mußte, wie in der Kristallnacht des November 1938 ihr armseliger kleiner Laden und ihre Wohnung zertrümmert wurden. Mein Kopf dröhnt vor Wut, als wir an dem tobende Schäferhund vorbei wieder die Straße erreichen.

Aber vor Wut auf wen?

Auf den alten Gustaf, der auf seinem Ostfront-Bein angehinkt kommt, um die Erinnerungen an meine umgekommenen Verwandten aufzufrischen? Auf Hilda, die Landarbeiterin, mit der Schaufel auf der Schulter und den großen Körben voll Gemüse am verrosteten Fahrradlenker, die mit kargen Worten erzählt, sie sei damals Dienstmädchen bei der Familie gewesen?

Vor Wut über das grauenhafte Schicksal, das die Juden Europas getroffen hat?

Meine Tochter auf dem Rücksitz des Autos hat ihren Walkman auf den Ohren. Wir fahren weiter. Die alten Leute winken. Wir winken zurück, Zweifel und Verwirrung im Herzen.

Nachts werden wir zu Hause sein, schneller als damals. Und frei.

Die Fahrt durch grünes Niemandsland, den Blick auf Unendlich gestellt, den Fuß fest auf dem Gaspedal: die deutsche Autobahn.

Gedanken an die Vergangenheit haben keine Chance. Hitlers Heeresstraßen sind vorzüglich geeignet, um schnell von Süden nach Norden zu gelangen, aber Grübeleien sind gefährlich.

Die Städte sind Namen auf blauen Schildern: Wörter aus dem Atlas. Bis plötzlich der Doppelname auftaucht, der zur Einkehr mahnt: Baden-Baden, Wiege und Kindheit.

Diesmal ist es Neugier, die mich in den Ort zieht. Schon vor Jahren habe ich dem Wunsch von Frau und Kindern nachgegeben und bin über die Abzweigung in meine Kindheit gefahren. Damals sah ich die Stadt wie ein Fremder und verschloß mich allem, was Schmerz bereiten konnte. Später, beschützt und sicher auf der Analyse-Couch, stiegen die Bilder herauf, die Tränen der Trauer und Wut, und ich bekannte mich zu den Jahren meiner Knabenzeit.

Ein paar Kilometer nur: Wir fahren an den alten gelben Wohnkasernen der Vorstadt vorbei. Ich erkenne nur wenig. Der Radius meiner Kindheit reichte nicht so weit. Wo die Stadt beginnt, ist plötzlich alles wieder da. Das Damals und Jetzt fallen beinahe zusammen. Die Rosensträucher, die Blumenbeete, die raunende Murg, klar wie ein Kristall, die luxuriösen Hotels, vor denen sich ein Mercedes fast bescheiden ausnimmt, die Trinkhalle mit den einst gruseligen, jetzt abstoßend häßlichen Wandmalereien von Rittern, Drachen und blassen Jungfrauen, die Konditoreien mit bunten Sonnenschirmen und weißlackierten Stühlen: Alles ist gleich und doch anders. Heute Mädchen in Shorts, Jungen in Jeans, damals Männer mit Panamahüten und Frauen in Seide.

Das Möbelgeschäft meiner Oma, unverändert, gehört noch immer dem Mann, dessen Name zu Hause mit Zorn ausgesprochen wird. Und Bismarck starrt immer noch unerbittlich in die Ferne.

Zu Fuß, bürgerliche Eintagstouristen, gehen wir weiter. Ich betrachte Fassaden, die keinen Touristen interessieren, ich weiß genau, wo ich bin. Vor meiner Schule bleibe ich stehen. Niemals bin ich fortgewesen, nichts hat sich verändert. Zusammen mit Harro fliehe ich über die Treppe zur Stephanienstraße. Jetzt läßt die Steigung mich meine Jahre spüren. Keuchend stehe ich an der Stelle, wo wir unsere Ranzen als Waffen gebraucht haben, und suche nach Zeichen an dem Ort, wo einst die Synagoge stand.

Frau und Tochter folgen mir wie Pflegerinnen, die hinter einem Schlafwandler herlaufen, besorgt um meine Sicherheit.

Die Synagoge aus weißem Stein mit ihren schlanken Säulen und bogenförmigen Fenstern, den vielfarbigen Rosetten und der breiten Treppe mit den hohen Stufen, die ich als Kind mit Mühe erklimmen konnte, steht nicht mehr. Eine ebenerdige Garage für Lastwagen hat ihren Platz eingenommen. Kein Zeichen der Erinnerung an den Ort, wo SS-Leute in schwarzen Uniformen am Abend des neunten November 1938 alte jüdische Männer ohne Kopfbedeckung dazu zwangen, Nazilieder zu singen, das Gesicht dem Schrein mit den heiligen Thorarollen zugewandt, die unter dem Hohngelächter der Männer des Totenkopfregiments angezündet wurden und wie der brennende Dornbusch loderten.

Die Photographien, die einer von ihnen als Andenken an das komische Ereignis gemacht hat, und die Jahrzehnte in Archivschränken verborgen lagen, sind unauslöschlich in mein Hirn geätzt.

Das brennende Gebetshaus, in Ruß und Rauch gehüllt, die in Marschreihen gezwungenen Greise ohne Hüte, mit blassen, nichts begreifenden Gesichtern über dunklen Wintermänteln, entkräftet von Rekrutenübungen und Todesangst: Kristallnacht.

 

»Wir haben nichts gewußt, fast nichts«, lautet stets die Antwort, die der Frage vorgreift und sie zum Schweigen verurteilt.

Hier, in der Biegung der Stephanienstraße, quält sie mich.

Dies ist kein Land von Blinden, Stummen, Tauben. Jeder, der hören wollte, konnte hören. Jeder, der sehen wollte, konnte sehen. Die Reden, in denen heisere Demagogen unseren Untergang verkündeten, tönten seit Januar 1933 aus allen Lautsprechern. Die Maßnahmen zu unserer Isolierung, mit denen sie Tag für Tag ein Stück von unserer Freiheit abschnitten, standen in fetten Lettern in allen Zeitungen.

Unzählige Deutsche ließen sich zur Barbarei verleiten.

Unzählige Deutsche, gleichgültig oder vor Angst gelähmt, sahen uns direkt vor ihren Augen ertrinken.

Nur einzelne Mutige, wie der Kellner Fritz in Riva am Gardasee, retteten einen Ertrinkenden aus den Fluten.

Gerhard L. Durlacher

Streifen am Himmel

Inhalt

Prolog

Nachschrift

Der Beginn einer Reise

Die Illusionisten

Rückblick

Befreiungen

Nachwort

Anmerkungen

Bibliographie

Streifen am Himmel

Eli, Eli, lama asabthani Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!

Prolog

Aus der Erinnerung steigen unterbelichtete Bilder, abwechselnd mit grellen, überbelichteten Szenen, eingeätzt in meine Netzhaut. Manchmal, wenn auch lückenhaft, gelingt es, diese Filmblitze zu erkennen und zu ordnen. Die Gefühle von damals, Angst und Verzweiflung, Ohnmacht und Wut, Schmerz und Kummer liegen tief verborgen, Lava in einem scheinbar toten Vulkan.

Die Erzählungen einstiger Mithäftlinge, Bücher, ein Foto, eine Assoziation beschwören die Bilder herauf, von versengenden Emotionen begleitet.

Im Herbst 1981 erschienen zwei solcher Bücher: The Terrible Secret von Walter Laqueur und Auschwitz and the Allies von Martin Gilbert. Der jeweilige Untertitel schließt jedes Mißverständnis über den Inhalt aus: Die Unterdrückung der Nachrichten über Hitlers ›Endlösung‹ und How the Allies responded to the news of Hitler’s Final Solution. Zwei nüchterne und ernüchternde Bücher über den Mord, das Wissen über den Mord und die Reaktionen der Welt auf die Ermordung von sechs Millionen Juden zwischen 1939 und 1945.

Ich sah uns wieder, grau vor Erschöpfung, in Fünferreihen. Mit geschwollenen Knöcheln, schwindelndem Kopf, hohlem Magen. Zusammen mit den russischen Gefangenen standen wir dort auf dem Appellplatz. Die späte Nachmittagssonne der ersten Augusttage 1944 spiegelte sich auf geschorenen Schädeln. Wir zählen ab: einmal, zweimal, zehnmal. Wir werden gezählt. Emil, der polnische Blockälteste, stößt die Reihen zurecht, zählt mit, nervös, heiser. Der Blockführer zählt, schlägt mit dem Spazierstock* auf die Köpfe der ersten und letzten Reihe. Wir wagen nicht, den Platz zu tauschen. Der Durst übersteigt den Hunger. Die Suppe können wir vergessen. Irgendetwas ist passiert, denn die Sirenen haben geheult. Durch den stinkenden Rauchschleier des Krematoriums III sehen wir den blauen Himmel; wir taumeln, manche fallen in Ohnmacht. Die Kameraden zu stützen, raubt uns die letzten Kräfte. Emil dirigiert die Kranken in die hinterste Reihe und wird von einem SS-Mann angebrüllt. In der Ferne hören wir Donnergrollen wie von Gewitter. Unsere Blicke treffen sich: russische Artillerie in den Beskiden? Sie müssen in der Nähe sein; das Flugzeugkommando** hat doch erfreuliche Nachrichten gemeldet?

Das heisere Gebrüll der Kapos und SS-Leute wird von dem rhythmischen Summen in der Luft übertönt und plötzlich sehen wir alle die weißen Schafwollfaden, die von kaum erkennbaren Metallstückchen über das helle Blau des Himmels gezogen werden. Hunderte von Augenpaaren folgen den Fäden, bis die SS-Männer, mit quadratisch aufgerissenen Mäulern schreiend und Schläge austeilend, abermals abzählen lassen.

Dort oben tobt das Scheingewitter, das uns die Kraft schenkt, auf den Füßen zu bleiben, und das ein kaum merkbares Lächeln auf unsere Gesichter zeichnet. Der Appell endet in der Nacht, nachdem die Sirenen nochmals geheult haben. Von den fünf geflohenen Häftlingen sind drei lebend aufgegriffen worden: Piechowiak, Wagschal und Kenner. Blutverschmiert und geschunden werden sie zurückgebracht in unser Lager, das Männerlager Birkenau II D.

Als wir am Abend des 8. August in Fünferreihen, die Kranken stützend oder tragend, schmutzig und erschöpft durch das Tor der befreienden Arbeit getrieben werden, sehen wir zwei der Geflohenen hängen. Singend, den Tod im Herzen, von Orchestertönen begleitet, marschieren wir mit nach innen gekehrtem Blick an den beiden Galgen vorbei. Ein Tod, wahrscheinlich sanfter als der, der Piechowiak in der Strafkompanie erwartet.

Am selben Abend wieder die Wollfäden am Himmel. Hatte man uns vergessen dort draußen, dort droben? Waren die Ölraffinerien von Blechhammer und Trzebinia von größerer Bedeutung als wir und unsere Verbrennungsöfen? Im folgenden Monat brannten sie nicht mehr Tag und Nacht. Die Juden aus Ungarn hatten das Leiden auf Erden fast hinter sich. Aus Westerbork kam der letzte Transport: 1019 Menschen, von denen 470 nicht sofort den Flammen zum Opfer fielen. Unter ihnen Anne Frank, damals noch ein unbekanntes Mädchen im Ozean des Todes.

Zu der Zeit wußte ich kaum, was geschah. Ein Vorhang hatte sich vor mein Wahrnehmungsvermögen gesenkt. Ich registrierte das grauenhafte Geschehen, ohne es zu Kopf und Herz durchzulassen.

Jetzt, nach fast vierzig Jahren, fällt dann und wann ein Archivblatt aus dem Panzerschrank meines versunkenen Gedächtnisses.

Den Bombenangriff auf Monowitz, den Gilbert beschreibt, haben meine Kameraden vom Rollwagenkommando und ich laut und deutlich gehört. Am 13. September 1944 dachten wir einen Augenblick an Befreiung. Einen Augenblick lang wußten wir hinter unseren glasigen Hirnfassaden, daß es ein »Draußen« gibt und daß Auschwitz nicht auf einem anderen Planeten liegt.

Den ganzen Morgen lang hatten wir keuchend, von Flüchen und Schlägen gescheucht, Holz und Asphaltpappe ins Mexikolager transportiert. Wo wir es abgeladen haben, weiß ich nicht mehr, aber weit von der Rampe, dem Umsteigeplatz zur Ewigkeit, wird es nicht gewesen sein. Der SS-Mann verschwand, vermutlich in einem Schutzraum, und wir standen da, als warteten wir auf einen warmen Sommerregen.

Der Bombenangriff auf die I. G. Farben kann nicht lange gedauert haben. Um uns herum Sturm, Staub und Getöse. Keine Angst. So müssen Bauern fühlen, wenn auf ihr Flehen plötzlich Regen fällt. Die wenigen Bomben auf Birkenau gaukelten uns einen Moment lang vor, die Krematorien seien getroffen, aber das war blitzartig vorbei. Was von diesem Wunschtraum übrigblieb, war Enttäuschung, staubverklebte Augen und ein handgroßer Granaten- oder Bombensplitter, den Jiri D. aufgehoben hatte. ›Gejts mit Gott, abber gejt’s‹, schrie der Kapo und der überfrachtete Wagen, mit uns als Karrenhunden davor, setzte sich langsam in Bewegung.

Die Frage, ob man uns da draußen und da oben vergessen hatte, brannte vielen von uns lange auf der Zunge. Warum diese Frage erst seit wenigen Jahren wirklich ausgesprochen wird und auch heute noch nicht beantwortet ist, läßt sich nur vermuten.

Der plausibelste Grund ist sicher in den Archivgesetzen der betreffenden Länder zu suchen. Englische und amerikanische Archive geben erst seit kurzem Bruchstücke der jüngsten Geschichte preis. Die Historiker Laqueur und Gilbert haben aufgrund ihrer früheren und derzeitigen Arbeiten die besten Voraussetzungen für die Spurensuche. Laqueur als Direktor des ›Institute of Contemporary History‹, auch bekannt als ›Wiener Library‹ in London, jenes Institutes, das während des Zweiten Weltkriegs für die British Intelligence eine der wichtigsten Informationsquellen über Deutschland war, und Gilbert als offizieller Biograph von Winston Churchill, mit Zugang zu Geheimakten, von denen kein Laie zu träumen gewagt hatte, daß sie für die Nachwelt erhalten bleiben würden.

Ein anderer Grund für das lange Schweigen über die grauenhaften Ereignisse erinnert mich an die Sphinx und Ödipus: Die richtige Antwort auf das Rätsel stürzt sie von ihrem Sockel. Das Rätsel ist gelöst, aber der Preis ist bitter und das Ende ohne Illusionen.

Auch wir kennen jetzt die Antwort auf unsere Frage und auch für uns ist der Preis bitter. Die wenigen Illusionen, die wir bewahrt hatten, wurden zunichte gemacht.

Es sind dieselben Fragen, die Laqueur und Gilbert quälen, doch bereits aus dem Untertitel ihrer Bücher geht hervor, daß der jüngere, 1936 geborene Gilbert mehr ertragen kann (oder konnte) als der um fünfzehn Jahre ältere Laqueur. Der Untertitel von Laqueurs Buch: Die Unterdrückung der Nachrichten über Hitlers Endlösung offenbart gewissermaßen auch die Verdrängungsarbeit des Autors. Seine Geschichte endet im Dezember 1942 und er begründet diesen Zeitpunkt mit dem Argument, daß »die Mehrheit der Juden in Osteuropa wie auch Millionen Deutsche und viele Einwohner in den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten schon damals von der Massenvernichtung wußten«. Außerdem vermeidet er geflissentlich die Frage, was diese Menschen mit ihrem grauenhaften Wissen anfingen.

Ich kann mir nur zu gut vorstellen, daß ein Mann wie Laqueur, 1921 zur Zeit der Weimarer Republik geboren, dessen Jugend durch die Nationalsozialisten zerstört wurde und der ihnen nur knapp entkam, eine solche Rationalisierung und Verdrängung braucht. Dennoch kann man das Datum des Dezember 1942 nur schwer akzeptieren. Keiner meiner Mithäftlinge noch ich selbst wußten von dem Fegefeuer von Birkenau, bevor wir durch das Haupttor getreten waren. Erst nachdem Vrba und Wetzler im April und später Rosin und Mordowicz im Mai 1944 die Flucht lebend überstanden hatten und erst als ihre Berichte den Alliierten vorlagen, konnte niemand, weder aus den Kreisen der Regierung und des Militärs, noch irgendein lesender oder hörender Bürger mehr mit gutem Gewissen behaupten: »Wir haben nichts gewußt.«

Martin Gilbert hat seinem Buch den Untertitel gegeben: How the Allies responded to the news of Hitler’s Final Solution, und eine jener »responses«, nämlich die des englischen Diplomaten A. R. Dew, der auf dem Weg zur Konferenz von Jalta verunglückte, lautete am 7. September 1944: »Meiner Meinung nach wird hier im Amt unverhältnismäßig viel Zeit für die Beschäftigung mit diesen jammernden Juden vergeudet.«

Die Arbeiten von Laqueur und Gilbert scheinen sich auf den ersten Blick in einigen Bereichen zu überschneiden, doch durch die Fragen, die sie stellen, ergänzen ihre Untersuchungen einander.

»Mit diesem Buch«, schreibt Laqueur, »versuche ich, eine Antwort auf die folgenden Fragen zu finden: – Wann erfuhren Juden und Nichtjuden zum erstenmal von der ›Endlösung‹?

– Über welche Kanäle wurden die Berichte verbreitet? – Wie war die Reaktion derer, die davon hörten?«

Er stellt sich dabei unter anderem die Aufgabe, nachzuweisen, daß ein großer Teil der Bevölkerung in Deutschland, der Geheimhaltung und den verstümmelten Informationen zum Trotz, durchaus wissen konnte und sogar tatsächlich wußte, daß Massaker bereits in den ersten Kriegsjahren stattfanden. Dabei drängt sich die Frage nach der Bedeutung von »Wissen« und »Glauben« auf, mit anderen Worten, inwieweit die grauenhaften Nachrichten in Deutschland selbst und in der übrigen Welt Glauben fanden.

Vor allem die übrige Welt sei in der Lage gewesen, so viel zu tun, und habe dennoch so viel unterlassen, das zum Überleben der europäischen Juden hätte beitragen können.

Bei der Lektüre von Laqueurs Buch überkam mich manchmal das Gefühl, sein eigenes Bedürfnis, den grauenhaftesten Teil des Geheimnisses, die Massenvernichtung, zu verdrängen, habe ihn zu einer milderen Analyse bewogen, als ich selbst und andere für gerechtfertigt halten.

 

Nach Angaben der SS waren vor Ende 1942 2 500 000 Juden deportiert und umgekommen. Die meisten Opfer waren aus Polen, Rußland und den baltischen Ländern verschleppt und von Einsatzgruppen ermordet worden.

In den Vernichtungslagern Chelmno, Belzec, Majdanek, Sobibor und Treblinka rauchten die Verbrennungsöfen unaufhörlich. Über 200 000 Juden aus Deutschland und den besetzten Gebieten waren deportiert, und weit über 2 000 000 polnische und russische Juden waren umgebracht worden.

Trotz der Tarnsprache der Nationalsozialisten und trotz Zensur von Radio, Presse und Post, trotz abgefangener Kuriere und Telegramme wußten unzählige Menschen von den Greueltaten im Osten. Von Tausenden wurden über viele Kanäle die meist mündlichen Berichte weitergegeben. Familienmitglieder der Wehrmacht und der SS wußten aus Erzählungen und Briefen von Ehemann, Sohn und Bruder oft besser Bescheid, als sie nach dem Krieg jemals zuzugeben wagten.

Aber auch Geistliche, Widerstandskämpfer, Schmuggler und Bahnbeamte gaben Berichte aus erster oder zweiter Hand in den Westen weiter oder verbreiteten die Schreckensnachrichten in den damals noch vorhandenen Gettos in Polen. Mit Archivmaterial aus England, aus den Vereinigten Staaten, Deutschland und Israel, aber auch durch Gespräche mit zahllosen Überlebenden gelingt es Laqueur, das Netzwerk von Informationskanälen zu rekonstruieren und überzeugend darzulegen, daß der Prozeß der Endlösung schon Ende 1942 im wesentlichen hätte bekannt sein müssen.

Aber waren die Tatsachen auch wirklich bekannt, oder besser: Wurde den Tatsachen in den politischen Kreisen der Allierten auch Glauben geschenkt? Laqueur liefert den Beweis für die psychische Abwehrhaltung, die selbst Felix Frankfurter, ein prominenter amerikanischer Jurist und Richter am Obersten Gerichtshof, einnahm: Als Jan Karski, ein polnischer Offizier und Kurier von den Massenmorden in Europa berichtete, bekam er zu hören, Frankfurter sehe sich außerstande, das zu glauben.

Vor Ende 1942 war kaum jemand im Westen über den vollen Umfang der Tragödie unterrichtet. Unter den wenigen waren die geflohenen polnisch-jüdischen Parlamentarier Zygielbojm und Schwarzbart, die in London die begründete Befürchtung äußerten, die Massaker des Jahres 1942 seien erst der Anfang der Katastrophe. Sie mobilisierten die englische Presse und einen kleinen Teil der öffentlichen Meinung.

Von Verzweiflung übermannt, in dem Gefühl, die Welt lasse die Juden untergehen, ohne einen Finger zu rühren, nahm Zygielbojm sich im Mai 1943 das Leben, nachdem die SS den Aufstand im Warschauer Getto in Blut und Asche erstickt hatte. Sein bewegender Abschiedsbrief erschien in der Presse, löste aber nur zurückhaltende Reaktionen aus.

Die Katastrophenmeldungen aus dem Osten wurden überwiegend von Gerhard Riegner, einem jungen deutsch-jüdischen Juristen aus Berlin, und von seinem um dreißig Jahre älteren Kollegen Richard Lichtheim durchgegeben, beide Vertreter der Jewish Agency in Genf. Über Informanten, zu denen ebenso Industrielle und Journalisten wie Kuriere und Schmuggler zählten, liefen bei ihnen die Schreckensmeldungen ein, die sie weiterzuleiten suchten zu Staatsoberhäuptern und Ministern, oft mit Hilfe von Vermittlern wie dem Oberrabbiner Stephen Wise oder Richter Frankfurter. Ihre Aufgabe muß eine entsetzliche Last gewesen sein, denn in Whitehall und im Weißen Haus waren die Herzen und Ohren aus Granit.

Natürlich war die Botschaft unerträglich und deshalb unglaubwürdig; aber war das der einzige Grund für die Kleingläubigkeit, die Abwehr und den Skeptizismus von Roosevelt, Eden und ihren Beamten und Diplomaten?

Laqueur gibt sich in seiner Analyse milder und toleranter als Gilbert und Wasserstein, aber sein Langmut geht mir denn doch zu weit. Daß die Regierungskreise und die Medien in England und in den Vereinigten Staaten in den ersten Kriegsjahren auf die blutigen Nachrichten mit einer gewissen Zurückhaltung reagierten, ist nicht unverständlich. Das Argument von der schwierigen Verifizierbarkeit und den mangelhaft arbeitenden Nachrichtendiensten ist möglicherweise stichhaltig, obwohl abzuwarten ist, was aus den bislang verschlossenen Archiven der Alliierten zutage treten wird. Aber das damit verbundene Argument, die Alliierten hätten nicht in den Fehler der Greuelpropaganda verfallen wollen wie im Ersten Weltkrieg, als außer den Sensationsblättern auch Schriftsteller wie Arnold Toynbee und John Buchan über die Barbarei der Deutschen während des Einfalls in Belgien im August 1914 schrieben, scheint mir weit hergeholt. Wird die Naivität der Alliierten auf diese Weise nicht allzu leicht entschuldigt?

Ganz abgesehen von der Invasion im Jahre 1914 in Belgien, die vielleicht nicht ganz so barbarisch war wie die englische Sensationspresse damals behauptete, war die Periode, die Laqueur beschreibt, »quite a different cup of blood«.

In Whitehall und Washington kannte man ja die Pläne der Nationalsozialisten: Mein Kampf war seit fünfzehn Jahren auf dem Markt, die Gespräche mit Hitler seit zehn Jahren. Der Einfall in die Tschechoslowakei und Polen, die Kristallnacht und die Euthanasie-Aktion waren noch frisch in Erinnerung. Die Konzentrationslager im Reich waren bereits berüchtigt, die Totenkopfdivision von Eicke und die Einsatzgruppen hatten schon rund zwei Millionen Morde auf dem Gewissen.

Es hat wenig Sinn, diese Liste mit Dutzenden von Angaben zu verlängern. Einem sachlich denkenden, informierten Bürger hätte dies genügen müssen, um die Berichte über die Massenmorde in Polen glaubhaft erscheinen zu lassen, ohne den Nebengedanken an Greuelpropaganda. Und für Regierungen mit gutgeschulten Diplomaten und Geheimdiensten? War es Naivität oder vorgeschützte Angst, die Bürger könnten die Berichte mit Greuelpropaganda verwechseln? War es lediglich Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal von Millionen oder fällt die Erklärung weitaus zynischer – und realistischer – aus?

Laqueurs Analyse ist beängstigend genug, erweckt in mir aber den Verdacht er schrecke vor der letzten Konsequenz zurück. Er schreibt: »Auch als man in London und Washington eingesehen hatte, daß die Angaben über die Massenmorde stimmten, sorgten die Regierungen Großbritanniens und der Vereinigten Staaten dafür, daß ihnen nicht zu viel Publizität gegeben wurde.« Warum diese Besorgtheit über zu großes Aufsehen? Bei den Juden in diesen Ländern ist die Furcht, als Panikmacher angesehen zu werden, durchaus begreiflich. Doch bei den nichtjüdischen Alliierten? Es sind genau diese Fragen, die uns heute noch genauso heftig schmerzen wie damals.

Ich weiß nicht, ob Gilberts Buch bislang viele Leser gefunden hat. Für mich hat es viele quälende Fragen beantwortet. Die Sphinx ist gestürzt und alle Illusionen sind zerstört. Die Buchseiten stapelten sich wie Bleigewichte auf meinem Geist. Was muß Gilbert beim Schreiben dieser dreihundertfunfzig Seiten empfunden haben? Mit erschreckender Präzision zählt er in chronologischer Reihenfolge die Ereignisse, die Besprechungen, Aufzeichnungen und Memoranden der Allierten auf, die sich auf den Verlauf der Endlösung von Mai 1942 bis Mai 1945 beziehen.

Politischer Zynismus, Opportunismus, Trägheit, Gleichgültigkeit, Haß und Naivität stehen gegenüber der Verzweiflung und dem Untergang der Verfolgten und ihrer Verwandten, Gefährten und Freunde.

Die wenigen Gerechten in Amts- und Regierungsfunktionen wurden daran gehindert, mehr zu tun, als in strategischen und politischen Begriffen zu denken. Gilbert gibt nicht nur die katastrophalen Berichte wieder, sondern zeigt auch, wie Schritt für Schritt, mit jedem Bericht, die Namen der Vernichtungslager zum lähmenden Alptraum wurden.

Es dauerte bis 1942, bevor die Alliierten sich in mühsam errungener Übereinkunft zu einer Erklärung bereitfanden, in der sie Deutschland wegen seiner Ausrottungspolitik verurteilten und in der von Vergeltung und Strafe die Rede ist. Auschwitz wird in dieser Erklärung noch nicht genannt. Es ist bloß ein Name auf der Karte, wenn auch auf einer strategischen Karte.

Die Erklärung, mit großer Mühe zustandegekommen, hat keinen Einfluß auf die Vernichtungspolitik. Wie auch der Krieg verläuft, die endlos langen Viehwaggonzüge rollen unaufhaltsam weiter zu den Gaskammern in Polen.

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