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2. Soziologische und zeitdiagnostische Außenbetrachtungen

Es kann in den folgenden soziologischen und zeitdiagnostischen Außenbetrachtungen nicht darum gehen, eine umfassende Analytik zu entwickeln. Wiederum soll der Versuch unternommen werden, die für unsere Fragestellung relevanten Entwicklungen und Perspektiven herauszuarbeiten und kritisch zu reflektieren. Dieses Vorgehen mag religionssoziologisch anfragbar sein, erscheint hier dennoch gerechtfertigt, um nicht aus dem Blick zu verlieren, was unsere Aufgabe hier ist.

2.1 Die Deutung der Zeichen der Zeit als Aufgabe für die Theologie

Inzwischen hat sich der Topos „Zeichen der Zeit“ so sehr in den alltagssprachlichen Gebrauch verallgemeinert, dass die Tiefenstruktur dieses Wortes kaum noch wahrgenommen wird. Mit den Zeichen der Zeit ist keineswegs bloß eine tagespolitische Zeitansage, auch nicht einfach eine bloß die Gegenwart erfassende Rede gemeint, vielmehr rühren die Zeichen der Zeit zugleich an Vergangenheit und Zukunft. Zeichen der Zeit sind auch Erinnerungen, Hoffnungen, Sehnsüchte; Signaturen einer Welt, die Veränderungen durchläuft, die in diesen aber zugleich auch Opfer produziert; die Versprechen macht, von denen die Gegenwart zehrt und sie für die Zukunft fruchtbar machen möchte.

Die Suche nach den Zeichen der Zeit, wie sie spätestens seit der bahnbrechenden Enzyklika von Johannes XXIII. Pacem in terris (1963) der Theologie aufgegeben ist, öffnet zugleich wiederum die Türen der Kirche und der Theologie. Eine reine Binnenperspektive reicht zur Erfassung der Zeichen der Zeit nicht mehr hin, ja, sie ist von Johannes geradezu ausgeschlossen. Theologie kann nunmehr auch die Auseinandersetzung mit anderen Wissenschaften nicht mehr ablehnen. Es lohnt, die entscheidende Passage aus Gaudium et spes noch einmal zu zitieren, die die Grundlagen von Pacem in terris aufgreift und zugleich weiterführt.1

„Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten. So kann sie dann in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben. Es gilt also, die Welt, in der wir leben, ihre Erwartungen, Bestrebungen und ihren oft dramatischen Charakter zu erfassen und zu verstehen. Einige Hauptzüge der Welt von heute lassen sich folgendermaßen umschreiben. Heute steht die Menschheit in einer neuen Epoche ihrer Geschichte, in der tiefgehende und rasche Veränderungen Schritt um Schritt auf die ganze Welt übergreifen. Vom Menschen, seiner Vernunft und schöpferischen Gestaltungskraft gehen sie aus; sie wirken auf ihn wieder zurück, auf seine persönlichen und kollektiven Urteile und Wünsche, auf seine Art und Weise, die Dinge und die Menschen zu sehen und mit ihnen umzugehen. So kann man schon von einer wirklichen sozialen und kulturellen Umgestaltung sprechen, die sich auch auf das religiöse Leben auswirkt. Wie es bei jeder Wachstumskrise geschieht, bringt auch diese Umgestaltung nicht geringe Schwierigkeiten mit sich. So dehnt der Mensch seine Macht so weit aus und kann sie doch nicht immer so steuern, daß sie ihm wirklich dient. Er unternimmt es, in immer tiefere seelische Bereiche einzudringen, und scheint doch oft ratlos über sich selbst. Schritt für Schritt entdeckt er die Gesetze des gesellschaftlichen Lebens und weiß doch nicht, welche Ausrichtung er ihm geben soll. Noch niemals verfügte die Menschheit über soviel Reichtum, Möglichkeiten und wirtschaftliche Macht, und doch leidet noch ein ungeheurer Teil der Bewohner unserer Erde Hunger und Not, gibt es noch unzählige Analphabeten. Niemals hatten die Menschen einen so wachen Sinn für Freiheit wie heute, und gleichzeitig entstehen neue Formen von gesellschaftlicher und psychischer Knechtung. Die Welt spürt lebhaft ihre Einheit und die wechselseitige Abhängigkeit aller von allen in einer notwendigen Solidarität und wird doch zugleich heftig von einander widerstreitenden Kräften auseinandergerissen. Denn harte politische, soziale, wirtschaftliche, rassische und ideologische Spannungen dauern an; selbst die Gefahr eines Krieges besteht weiter, der alles bis zum Letzten zerstören würde. Zwar nimmt der Meinungsaustausch zu; und doch erhalten die gleichen Worte, in denen sich gewichtige Auffassungen ausdrücken, in den verschiedenen Ideologien einen sehr unterschiedlichen Sinn. Man strebt schließlich unverdrossen nach einer vollkommeneren Ordnung im irdischen Bereich, aber das geistliche Wachstum hält damit nicht gleichen Schritt. Betroffen von einer so komplexen Situation, tun sich viele unserer Zeitgenossen schwer, die ewigen Werte recht zu erkennen und mit dem Neuen, das aufkommt, zu einer richtigen Synthese zu bringen; so sind sie, zwischen Hoffnung und Angst hin und her getrieben, durch die Frage nach dem heutigen Lauf der Dinge zutiefst beunruhigt. Dieser verlangt eine Antwort vom Menschen. Ja er zwingt ihn dazu.“ (GS, 4)

Mit den Formulierungen des Konzils ist schon eine deutliche Richtung hin zu einer gesellschafts- und zeitkritischen Wahrnehmung des Bestehenden angedeutet, die aber in der jeweiligen Durcharbeitung konkreter zu fassen ist. So ist wohl auch zu fragen, ob nicht die Zeichen der Zeit gleichsam eine Signatur tragen, die in den unterschiedlichen Kontexten auch unterschiedlich sein kann, die aber eine hermeneutische Superstruktur erkennbar werden lässt. Für jede europäische Theologie dürfte die Signatur eine „nach Auschwitz“2 sein, insofern Auschwitz jede positive Explikation von Sinn unter Generalverdacht stellt. „Die kleinste Spur sinnlosen Leidens in der erfahrenen Welt“, so schrieb Adorno, „straft die gesamte Identitätsphilosophie Lügen“.3 Es wäre aber ein Irrtum und ein unerlaubter Eurozentrismus, dies alleine mit dem Namen Auschwitz zu verbinden. Explizit formuliert Adorno in der Ästhetischen Theorie: „Schon vor Auschwitz war es angesichts der geschichtlichen Erfahrungen affirmative Lüge, irgend dem Dasein positiven Sinn zuzuschreiben.“4 Theologisch deutlich hat Gustavo Gutiérrez die Frage gestellt, wie man von Ayacucho aus von Gott sprechen könne5, also von einem Ort aus, der schon seit Jahrhunderten für das lateinamerikanische Volk mit den größten Gräueln verbunden ist. Dom Helder Camara hat schon vor Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils auf die Kontextualität der Erkundung der Zeichen der Zeit hingewiesen. In einem Brief vom 25. Dezember 1960 an Kardinal Marcelo Mimmi schreibt er:

„Verzeihen Sie, Eminenz, mit allem schuldigen Respekt vor den für die Organisation des Konzils Verantwortlichen möchte ich mit Sorge über die Kommission, deren Berater ich bin, feststellen, daß erstens die vorbereitenden Fragelisten auf Antworten zielen, die mehr administrativer Routine als dem Niveau eines Ökumenischen Konzils entsprechen, und daß die Fragebogen nicht die grundlegenden und sehr schwierigen Probleme berühren, die die Menschheit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigen werden. Ich möchte hier nur zwei Probleme nennen, nämlich die demographische Entwicklung (…) und die schreckliche Ungleichheit, die einem Drittel der Menschheit ein hohes Niveau der Entwicklung, des Überflusses und des Luxus gestattet, während zwei Drittel im Zustand der Unterentwicklung und des Hungers leben müssen. Es wäre ein schwerer Irrtum, wenn die Konzilsväter diese Probleme nur von einem politischen und ökonomischen Standpunkt aus sähen und nicht erkennen würden, daß das Schicksal der Welt von der Haltung des einen Drittels abhängig ist, das glücklich und im Wohlstand leben kann.“6

In wiederum anderen Kontexten mag die Signatur der Zeit durchaus wieder eine andere sein. Für alle aber gilt es, sie aus der Perspektive der Opfer aus zu betrachten und zu formulieren.

Den Zeichen der Zeit eignet nicht alleine eine anamnetische Grundstruktur, die auch die Gegenwart umfasst, sie implizieren zugleich einen Zukunftsaspekt, dem Gegenwart und Vergangenheit sich verpflichtet wissen, der aber auch die Möglichkeit offenhält, dass es bei dem Bestehenden nicht bleiben, dass es anders werden möge. Insofern zeigen die Zeichen der Zeit nicht nur das an, was ist, sondern sie zeigen auch – vielleicht auch nur ex negativo –, was werden soll. Dies entspricht exakt dem, was in der Formulierung von Gaudium et spes gefordert war, nämlich die Zeichen der Zeit im Lichte des Evangeliums zu deuten, da auch das Evangelium in der eigenartigen Spannung von Anamnese und Prolepse sich situiert, oder stärker biblisch formuliert, zwischen Exodus und Apokalyptik.

Mit der Erkundung der Zeichen der Zeit wagt sich das Konzil gänzlich in einen Bereich, der ihm – und auch weitgehend der Theologie – fremd und bedrohlich erschien: in den Bereich der Geschichte. Theologie, die gewohnt war und ist, sich mit ewigen Wahrheiten auseinanderzusetzen, ist auf das Leben hin zurückgeworfen, auf die Kontingenz des Lebens, auf die Diskontinuität der Geschichte, auf das Nichtidentische, das eben nicht im Begriff sich aufheben lässt. Sie ist darauf verpflichtet, die Realität möglichst umfassend zu erfassen, ihre Methodologie hin zum induktiven Denken zu verändern, sich dem Schema „sehen – urteilen – handeln“ zu verpflichten.

Wir werden in den folgenden Schritten dies versuchen, in dem Bewusstsein allerdings, dass es sich bei den hier zum Gegenstand gemachten Zeichen der Zeit nur um Ausschnitte aus diesen Zeichen handelt, keineswegs um eine umfassende Analytik.

2.2 Kolonialisierung der Lebenswelt, Individualisierung und Atomisierung

1

Weit über alle Grenzen – auch ideologischer Art – zeigt sich eine Signatur der Spät- oder Nachmoderne: Menschen werden immer weniger als Personen, denn als Individuen betrachtet. Worin aber, so ließe sich fragen, liegt dabei das Problem? Nun, „eine Person ist ein Mensch, der mitten unter anderen Menschen und durch sie seine unverwechselbare Eigenheit hören läßt (per-sonat). Ein Individuum ist ein Mensch, sofern er sich von anderen Menschen unterscheidet, gemäß der alten scholastischen Definition: indivisum in se, divisum ab omne alio, ungetrennt in sich, getrennt von jedem anderen. Deswegen setzen Person und Gesellschaft einander voraus, Individuum schließt Gesellschaft aus.“7 Gesellschaft ist dann nicht die Einheit von Personen, die in unterschiedlichen Interaktionen sich befinden, sondern die Summe der Individuen. Ein gemeinsames Handeln oder gar gemeinsame Interessen sind auf der Basis des Individualisierungsdrangs nicht vorauszusetzen. Norbert Elias hat diese Entwicklung als das „Wir-lose Ich“8 bezeichnet. Ausgehend von der Prämisse, dass IchIdentität einen konstitutiven Wir-Bezug voraussetzt, dass also IchWerdung immer Ich-Werdung am anderen und von anderen ist, weist Elias nach, dass es eine deutliche Verschiebung von der Wir-Identität hin zur monadischen Ich-Identität gibt. Von den Stammesgesellschaften bis ins europäische Mittelalter lässt sich dies darlegen. Erstmals in der Renaissance ist solch eine Verlagerung zu beobachten. Ökonomisch findet eine Ablösung der Familienbindung statt; die Sippe wird immer weniger zum Hintergrund des materiellen Überlebens. Immer stärker wird jeder zum ‚Schmied seines eigenen Glücks’. Es kommt folglich auf jeden einzelnen an, der stets in Absetzung und Konkurrenz zum anderen sein Glück findet.

 

Gerade von den Protagonisten des Liberalismus, genauer gesagt: des neoklassischen Liberalismus wird diese Entwicklung gewiss goutiert. Allerdings gibt es auch gewichtige Kritiker. Der konservative Kulturkritiker Daniel Bell sieht den Individualismus eher als Ausdruck eines egoistischen Hedonismus. Individualismus ist für ihn „Synonym für Egoismus als Ausdruck mangelnder Pflichterfüllung und Moral“9. Unverkennbar trifft sich diese Kritik mit vielen Kritiken aus theologisch-kirchlichen Kreisen. Der Individualist ist in dieser Beschreibung weniger Opfer denn Täter. Er ist der konsumorientierte Freizeitmensch oder, in der Beschreibung von Gerhard Schulze, tendenziell im Unterhaltungsmilieu angesiedelt.10 Doch kann man den individualisierten Menschen im tiefsten Sinne vorwerfen, dass sie ihre hedonistischen Anteile ausleben? Sind sie sich immer bewusst, wie sie ihr Leben gestalten? Kennen sie ihre Handlungsmotive hinreichend und entscheiden sich dann reflektiert dafür?

Eher scheint die Diagnose Erich Fromms zutreffend, der im individualisierten Menschen ein Opfer gesellschaftlicher Entwicklungen (Massenkonsum, Warenästhetik u.ä.) entdeckt. In seiner Typologie der Sozialcharaktere ordnet Fromm den bürgerlichen Sozialcharakter11 in der Früh- und Hochphase des Kapitalismus dem (analen) Typus des Besitz hortenden Menschen zu, der zugleich autoritäre Züge im Sinne eines rigiden, kontrollierenden Über-Ichs trägt. In der Überflussgesellschaft des Spätkapitalismus wandelt sich die autoritär geprägte Persönlichkeitsstruktur nur scheinbar, denn an die Stelle der Abhängigkeit von den patriarchalen Vätergestalten (Vorgesetzte, Chefs, Pfarrer u.ä.) treten mit zunehmender Bürokratisierung die sog. Sachzwänge, die ihrerseits Abhängigkeitswünsche und Ohnmachtsgefühle nähren.

In dieser Sicht werden Individualisierung und die damit verbundenen Wahrnehmungen der Menschen in engem Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Entwicklungen gesehen. Individualisierung zeigt dabei nicht nur eine Fortschritt begründende Dimension, wenn wir z.B. an die Autonomiefrage denken, sondern entfaltet sich auch als Zerstörung der Subjekte durch eine atomisierende Isolation des Individuums von anderen Individuen. Dieses Phänomen wird in der Sozialpsychologie auch als narzisstischer Sozialcharakter beschrieben und hat für die heutige pastorale Situation durchaus große Bedeutung, insofern hier wiederum Individualisierung in Absehung von einer tieferen Beziehung zum anderen formuliert wird. In einem größeren historischen Kontext wird dies von Kuzmics folgendermaßen beschrieben:

„Am Anfang des Bürgertums stand das ‚heroische Subjekt’, am (vorläufigen) Ende ist es weitgehend verschwunden und macht einem ziemlich jämmerlichen Vertreter der bürgerlichen Spezies Platz. Der Narzißt betritt die Bühne, ängstlich, aber ohne tiefere Schamgefühle, von Phantasien der Grandiosität getragen, aber innerlich leer; abhängig von anderen, unfähig, seine Bedürfnisse aufzuschieben, ist er auch nicht imstande, zu anderen tiefere Beziehungen einzugehen.“12

Selbstverständlich kann den hier dargestellten Subjekten ihr Narzissmus nicht vorgeworfen worden, da es sich dabei um eine Pathologie der modernen Gesellschaft und ihrer Individualisierungstendenz handelt. Insofern aber die kirchliche Praxis es freilich mit genau jenen Subjekten auch zu tun hat, muss sie sich mit diesen Phänomenen auseinandersetzen, will sie wissen, wie denn die Menschen geprägt sind.

2

Hinter dem etwas undurchsichtigen Begriff der Kolonialisierung der Lebenswelt verbirgt sich ein komplexes Theoriegefüge, das wesentlich von Jürgen Habermas in vielen unterschiedlichen Arbeiten entfaltet wurde. Leider kann ich hier nur gleichsam summarisch und daher auch sehr verkürzt einige Grundzüge dieser komplexen Theorie darlegen und sie anhand weniger Beobachtungen prüfen. Grundlegend ist eine zentrale Unterscheidung: die nämlich von System und Lebenswelt. Unter System versteht Habermas dabei den gesamten Bereich der Ökonomie, der Politik und der gesellschaftlichen Makrostruktur. Lebenswelt hingegen ist der Sektor der menschlichen Interaktion, seiner unmittelbaren Lebensvollzüge, der Interpretation eigener Verhältnisse und Situierung innerhalb der systemischen Überlagerung. Dabei möchte Habermas mit dieser Unterscheidung nicht die Unterwerfung unter das System, sondern im Rahmen der systemischen Überlagerung lebensweltliche Residuen schaffen. Im Gegensatz zu Adornos Diktum, es gebe „kein richtiges Leben im falschen“13, scheint Habermas davon auszugehen, dass es im bestehenden Falschen doch auch richtiges Leben gebe, wenn dies auch möglicherweise, so wäre hinzufügen, gerade dadurch auch beschädigt wird.14 Was Jürgen Habermas damit meint, ist wiederum gar nicht so schwer und soll an Alltagsbeispielen erläutert werden:

Angesicht der erfahrenen oder zumindest so wahrgenommenen Übermacht des ökonomischen oder auch administrativen Systems fühlen sich immer mehr Menschen diesem System bloß noch ausgeliefert, sie fühlen sich ohnmächtig und klein, die Komplexität des Systems scheint immer unübersichtlicher wenn nicht gar undurchschaubar. Viele Menschen reagieren darauf mit Apathie, manchmal aber auch mit diffuser Wut auf irgendetwas, jedenfalls nicht mit einem bestimmter Zorn auf etwas Konkretes.

Wenn wir unsere Briefkästen leeren, finden wir zumeist – sofern wir nicht entsprechende Bitten darauf geklebt haben – eine Fülle von Werbebroschüren und Reklamebeilagen. Die Informationsflut nimmt ständig zu. Unser Leben wird angefüllt mit Gegenständen, die wir nie brauchen werden. Es gelingt immer besser, uns zum Kauf völlig überflüssiger Produkte zu animieren – meist mit dem Hinweis auf einen großartigen Rabatt. Wegwerfartikel haben – allen kritischen Hinweisen auf drohende ökologische Katastrophen zum Trotz – weiterhin Konjunktur usf.

Dies alles sind Invasionen unseres Alltags, derer wir uns fast nur noch durch ausdrückliche Aufklärung bewusst werden. Die Normalität dieser Invasion macht eine kritische Wahrnehmung aber immer schwerer. Auch angesichts der täglichen Katastrophen gibt es einen Gewöhnungseffekt. Man kann sich trefflich wundern, „wie wenig man ihrer [der Philosophie; J.K.] Geschichte die Leiden der Menschheit anmerkt“15. Wie schnell vergaßen wir Tschernobyl? Wie lange ist die Halbwertzeit einer Angst vor Krieg, z.B. beim ersten Irak-Krieg? Wer spricht heute noch von den Opfern der Tsunami-Welle? Wer erinnert noch ernsthaft die Opfer des 11. September? Wer vor allem thematisiert den systemischen Massenmord an den Kindern, die heute an Unterernährung sterben? Auch das Vergessen und das Verdrängen scheint System zu haben. Das System-Lebenswelt-Theorem versucht, diese Erfahrungen soziologisch und sozialpsychologisch zu erklären, indem es die Auswirkungen „systemischer“ Komplexitätssteigerung auf die Lebenswelt beschreibt.

Folgt man Jürgen Habermas, haben sich die staatliche Bürokratie und der kapitalistische Markt zu einem „monetär-administrativen Komplex verdichtet, haben sich gegenüber der kommunikativ strukturierten Lebenswelt verselbständigt und sind offenbar überkomplex geworden“16. Gerade wenn das System aber übermächtig und überkomplex zu werden droht und – jedenfalls in der Diagnose von Habermas – dagegen kaum Alternativen zu entwickeln sind, wäre eine Reaktionsmöglichkeit, die von der Kolonialisierung bedrohte Lebenswelt um so mehr zu schützen.

Mit „Lebenswelt“ ist in diesem theoretischen Zusammenhang – natürlich hier verkürzt – gemeint einerseits die alltagsweltlichen Plausibilitäten, an denen wir unser Handeln orientieren, andererseits der Rückhalt durch bestimmte Kollektive oder Milieus u.ä., die Orte darstellen, an denen Menschen sich die Kategorien ihres Weltverständnisses aneignen.

Beide Bereiche sind von der Kolonialisierung durch das System bedroht: Wirtschaft und Bürokratie dehnen – teils gezielt, teils inneren Gesetzmäßigkeiten folgend – ihre Einflussbereiche immer mehr hin zur Lebenswelt aus. Dieser Prozess ist aber nicht einfach wertneutral, sondern führt in Bedrohungslagen, wenn gesellschaftliche Prozesse, wie Habermas dies nun nennt, vom „verständigungsorientierten Handeln“17 abgekoppelt werden.

So wichtig die Analysen und Diagnosen von Jürgen Habermas für das Verständnis heutiger gesellschaftlicher Verhältnisse auch sind; sie dürfen freilich auch nicht einfach unhinterfragt bleiben. Norbert Mette fasst seine Kritik in großer Nähe zu diesem Konzept folgendermaßen zusammen:

„Ein häufig gesuchter Ausweg aus diesen verschärften Krisenerfahrungen besteht in dem Versuch, sich in überschaubare Lebenswelten hinein zurückzuziehen. Daß damit vielfach – nämlich im Fall eines unkritischen Sich-zurück-Ziehens – eine Realitätsverweigerung eingehandelt wird, macht die eine problematische Seite dieses Auswegs aus. Gravierender ist die andere Seite, nämlich daß sich die Ansicht, auf solchen gesellschaftlichen Inseln könne man sich des destruktiven systemischen Gesamtzusammenhangs entziehen, als Illusion erweist. Im Gegenteil, die aufgeführten Formen der ökonomischen und administrativen Rationalität mit ihren abstrakten Steuerungsmechanismen nehmen immer stärker Einfluß auf die lebensweltlich strukturierten Gesellschaftsbereiche und deformieren sie, weil ihnen damit ihre für sie charakteristische kommunikative Struktur, die Möglichkeiten eines verständigungsorientierten Handelns eröffnet und gewährleistet, auf Dauer entzogen wird.“18

3

Folgt man Hegel in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ hinsichtlich des grundlegenden Merkmals der modernen Gesellschaft, dann kann ein Prinzip nicht übersehen werden, nämlich das Prinzip der „persönlichen Selbstzwecklichkeit des einzelnen in seinen Bedürfnissen“19. Hier wird das Bedürfnis noch an die Selbstzwecklichkeit des Menschen zurückgebunden. Eine Rückbindung, die freilich nicht lange Bestand hatte. Denn schon in den Analysen von Karl Marx zeigt sich, dass eine ökonomisch strukturierte Eigengesetzlichkeit im Gange war, die die Bedürfnishaftigkeit gleichsam instrumentalisierte und damit freilich auch den Menschen instrumentalisierte als Adressaten einer Bedürfnisproduktion. Die Moderne bildet daher idealtypisch ein „System von Bedürfnissen, in dem tendenziell jeder sich selbst bestimmen und verwirklichen können soll, in dem aber faktisch doch jeder gegen jeden sich behaupten muß“20. Ein jeder hat die Möglichkeiten, seine Bedürfnisse frei zu artikulieren und für deren Befriedigung zu sorgen. Der Ort, an dem das stattfindet, ist der Markt.

Nun sind aber schon von sich aus menschliche Bedürfnisse offensichtlich expansiv und neigen nur selten dazu, sich mit Bestehendem oder Vorhandenem zufrieden zu geben. Selbstverständlich gibt es hier Ausnahmen, aber sie bestätigen doch wohl immer wieder nur die Regel. Wenn dies aber stimmt und wenn weiterhin richtig ist, dass nicht jedes Bedürfnis gleichermaßen befriedigt werden kann, wenn daher unterschiedliche, in freier Subjektivität artikulierte Bedürfnisse anderen frei artikulierten Bedürfnissen gegenübertreten, dann ergibt sich daraus zum einen ein der Bedürfniswelt immanentes Aggressions- und Konfliktpotential, dann stellt sich aber auch eine gesellschaftliche Tendenz ein, die progressiven Bedürfnisse in möglichst großer Anzahl zu befriedigen; kurz gesprochen: ein expandierender Markt sucht danach, dies zu regulieren, was freilich auf Erschließung immer neuer Ressourcen hinausläuft.

 

Wird dabei aber eine bestimmte Schwelle überschritten, indem die Kontrolle der Bedürfnisbefriedigung an die Bedürfnisartikulation gebunden bliebe, beginnt sich der Prozess zu verselbständigen. Das bedeutet, dass ab dann ständig neu die Bedürfnisse selbst produziert werden müssen und das Bedürfnissubjekt seinerseits mehr und mehr durch die Bedürfnisproduktion zu einem Bedürfnisobjekt wird. Diese Entwicklung ist unschwer von den meisten Menschen nachzuvollziehen. Dass diese Logik der Expansion nicht beliebig fortsetzbar ist, ist ebenso evident wie offensichtlich folgenlos, obwohl doch die Folgen inzwischen nicht nur in den Ländern der sog. Dritten Welt sichtbar sind, sondern zunehmend auch hier bei uns.21 Jenseits aber der ökonomischen und ökologischen Auswirkungen zeigen sich in den westeuropäischen Ländern auch noch andere Folgen, die für eine pastoraltheologische und religionspädagogische Theorie und Praxis ebenfalls bedeutsam sind: nämlich die psychosozialen Folgen der Zerstörung eigenständiger Subjekte, Adorno spricht gar von der „Liquidation des Ichs“. Anhand eines kleinen Beispiels soll die Verkehrung der Verhältnisse in einem ganz anderen Bereich verdeutlicht werden:

„Statt, daß eine zur Vernunft gekommene Menschheit die gigantischen materiellen und intellektuellen Kräfte, die sich im Schoße der kapitalistischen Produktionsweise entwickelt haben, zur Einrichtung einer freien Gesellschaft einsetzt, wird sie mehr und mehr zum Anhängsel des kapitalfixierten technischen Fortschritts, der sich vollständig von seinen Erzeugern losgerissen hat und diese wie bloße Anhängsel mitschleift. Eine symbolische Darstellung dieses Sachverhalts hat kürzlich ein englisches Busunternehmen geliefert, dessen Busfahrer die Wartenden an den Haltestellen nur selten mitnahmen. Als sich die verschmähten Fahrgäste eines Tages beschwerten, bekamen sie vom Unternehmer die verblüffende Erklärung, anders könne der strikte Fahrplan nicht eingehalten werden.“22

2.3 Die Herausforderung unbegrenzter Pluralität

Die zweifellos gestiegenen Möglichkeiten, aus allen denkbaren Angeboten zu wählen, haben für das Subjekt auf den ersten Blick eine Freiheit eröffnende Funktion. Beim zweiten Blick sieht die Sache aber schon etwas anders aus: Die Möglichkeit, aus allem wählen zu können, führt zu einer „neuen Unübersichtlichkeit“23. Das spätmoderne Subjekt weiß, dass es alles wählen kann, und steht angesichts dieser Möglichkeit völlig überfordert da. Ohne übergeordnetes Bezugssystem – sei es religiös, sei es philosophisch, politisch oder ästhetisch – bleibt dem Einzelnen nichts anderes übrig, als eigenständig Sinn zu produzieren oder auf eigene Sinnressourcen zu rekurrieren. Angesichts radikaler Pluralität fällt nun aber eine wie auch immer geartete soziale Kommunikation immer schwieriger. Dass sie nicht unmöglich ist, ist gleichwohl evident und damit zugleich auch Möglichkeit von Hoffnung; doch dies ginge dann selbstverständlich über den Postmodernismus hinaus. Ein Blick in unsere Wirklichkeit zeigt aber deutlich, dass es mit einer sozialen Kommunikationsstruktur immer schwieriger wird. Immer mehr wird das Subjekt auf sich selbst zurückgeworfen, immer stärker werden die Vereinzelungs-, Atomisierungs- und Vereinsamungstendenzen. Das Individuum muss demgemäß „lernen, sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in Bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen“24; jeder ist also seine eigene Ich-AG.

Mit der letzten Bemerkung wird schon angedeutet, dass der früher kritisch verwendete Begriff der Atomisierung und sozialer Entfremdung inzwischen affirmativ verwendet wird, denn in der Gesellschaft möglichst vieler Ich-AGs ist jeder sein eigener Unternehmer, sein eigener Chef, sein eigener Planer und sein eigener Angestellter. Es entsteht damit eine doppelte Pluralität: eine interpersonale und eine intrapersonale. Wie die Subjekte untereinander in unverbundener Konkurrenz stehen, so muss auch das Subjekt in sich selbst sehr plural aufgestellt sein und unterschiedliche Fähigkeiten mitbringen.

Für die praktisch-theologische Perspektive stellt sich die Frage, ob sie diesen Trend prolongieren und theologisch verdoppeln darf, oder ob sie nicht bewusst an der Problematisierung und Überwindung der gesellschaftlichen Atomisierung mitarbeiten muss.

Schwierig ist das aber nicht nur deswegen, weil sich die kirchliche Praxis schon seit langer Zeit als Spielart bürgerlicher Religion erwiesen hat, sondern auch weil sich dies in der religiösen Sozialisation konsequent in Richtung einer religiösen Individualisierung und individualisierten Religiosität entfaltet hat. Dabei führt erstere tendenziell zur Auflösung der letzteren, zumindest in dem Sinne, dass unter dem Zeichen der Individualisierung es zu einer Auflösung des transindividuellen Religiösen kommen kann. Nun kann die Reaktion darauf nur schwer sein, den individualisierten und atomisierten Subjekten ein geschlossenes System vorgeprägter Religiosität vorzulegen, das freilich ohnehin kaum noch gelebt, sondern nur noch gelehrt wird. Triftiger scheint es vielmehr, mithilfe der großen Erzählung der jüdischchristlichen Tradition ein Deutungsmuster vorzulegen, das sich einerseits in Geschichte und Gesellschaft selbst entfaltete und darin schließlich auch ihr fundamentum in re besitzt, das zugleich aber auch für Gegenwart und Zukunft die Kraft produktiver Ungleichzeitigkeit besitzt, die in der radikalen Pluralität und den damit verbundenen Atomisierungstendenzen auf ein Einheitsmoment setzt, das nunmehr Menschen nicht mehr isoliert, sondern in ihrer Andersartigkeit verbindet und so auch die Möglichkeit von Sozialität und Solidarität auch weit über den Horizont des Eigenen hinaus eröffnet.

Wie wenig eine wirkliche Durchdringung der Pluralitätsproblematik vorgenommen wird, kann in einem ganz anderen Bereich verdeutlicht werden: Schaut man sich etwa Lehrpläne für den Religionsunterricht an, dann trifft man mit großer Wahrscheinlichkeit auf Themen, die mit den Weltreligionen verbunden sind, selten aber auf das, was heute unter dem Stichwort ‚interkulturelles Lernen’ verstanden wird. Wer sich dagegen in der religionspädagogischen Fachliteratur seit den 90er Jahren umschaut, erhält einen völlig anderen Eindruck: Interkulturelles Lernen scheint ein breit rezipierter Ansatz religionspädagogischer Theorie und Praxis zu sein. In Fachzeitschriften werden Themenhefte dazu aufgelegt, es werden entsprechende Sammelbände verfasst und auch Monographien vorgelegt.25 Nun könnte es sich dabei selbstverständlich um ein Modethema handeln oder aber es spiegelt sich darin eine Erfahrung wider, die auf die Notwendigkeit einer Beschäftigung damit hinweist.

Dass in allen gesellschaftlichen Bereichen und damit auch in Kirche, Gemeinde, Schule und Theologie die Pluralität zugenommen hat, ist inzwischen ein Allgemeinplatz. Es stellt sich aber die Frage nach den Beziehungen der unterschiedlichen pluralen Erscheinungen. Gibt es mithin Beziehungen zwischen den einzelnen Konfessionen, zwischen den monotheistischen Religionen und den übrigen Weltreligionen? Selbstverständlich haben wir schon eine gewisse Erfahrung mit interkonfessionellen Strukturen, was uns aber noch immer fehlt, sind interreligiöse Ansätze. Dabei stellt sich sogleich das Problem, wie denn eine Auseinandersetzung zwischen den Religionen möglich ist, ohne den jeweiligen Wahrheitsanspruch zu relativieren, ohne ihn freilich auch zu verabsolutieren.