Dein Reich komme

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Eine Möglichkeit ist das weitläufig bekannte Modell des von Hans Küng vorgelegten „Projekt Weltethos“, demgemäß in allen Religionen ein Kernbestand an ethischen Überzeugungen zu finden sei, der alle Religionen eine und der das tragfähige Fundament darstelle, die anstehenden Fragen der Welt produktiv zu lösen. Bei diesem Projekt handelt es sich streng genommen zwar um eine Konsensustheorie, allerdings um eine auf einem vergleichweise niedrigen Niveau, in der die elementaren Differenzen zwischen den Religionen zugunsten eines Minimalkonsenses unbeachtet bleiben, wohingegen es doch eigentlich darum gehen müsste, die Differenzen deutlich herauszuarbeiten und die Religionen in ihrer Andersheit anzuerkennen, also zu einer Anerkennungskultur zu kommen, statt zu einer Angleichungskultur, dies freilich mit einem universalen Anspruch. Denn nur dann hat ja ein interreligiöser Diskurs wirklich substantielle Bedeutung, wenn es hier um Wahrheit im emphatischen Sinne geht. Dass damit freilich schon von Anbeginn die Perspektiven des Postmodernismus unterlaufen werden, der ja bekanntlich keine Wahrheit, sondern nur viele kleine Wahrheiten zulässt, ist evident.

Der Universalismus der jüdisch-christlichen Tradition liegt dem gegenüber selbstverständlich ganz unmittelbar in der Gotteshoffnung selbst, denn Gott ist entweder ein Menschheitsthema oder überhaupt kein Thema mehr. In einer polytheistisch oder auch – wie man mit Odo Marquard sagen könnte – polymythischen Welt sind plurale Gottheiten denkbar, die dann mit bestimmten Aufgaben, Gegenstandsbereichen, aber auch mit bestimmten Sektoren betraut werden können; sie sind gleichsam spezielle Götter für jeweils unterschiedliche Fragen, Regionen, Menschen, Gesellschaften etc. Gott aber ist anders – zumindest wenn man die jüdisch-christlichen Traditionen an diesem Punkt ernst nimmt. Es ist nämlich eine unglaubliche Unbescheidenheit, die sich in den jüdisch-christlichen Traditionen ermitteln lässt: Er ist nur unser Gott, wenn er zugleich auch euer Gott, er ist nur mein Gott, wenn er zugleich auch dein Gott sein kann.26

Nun soll weder verschwiegen noch übersehen werden, wie sehr der universale Anspruch des Christentums auch Leid in der Welt produzierte; doch scheint hier wiederum ein falscher Universalismus am Werke gewesen zu sein und eine Gottesvorstellung, die mit der hier vorausgesetzten in keiner Weise kompatibel ist, denn hinter dem machtförmigen Erscheinungsbild von Christentum und Kirche steckt ein gewissermaßen ‚starker‘ Monotheismus, der – das ist ja gerade angesichts der von Jan Assman27 angestoßenen Diskussion immer wieder thematisiert worden – demokratiefeindlich und gewaltförmig ist.28 Dabei kann uns soll nicht geleugnet werden, dass es gravierende Dimensionen von Gott zugelassener oder selbst initiierten Gewalt in der Erzählstruktur des Ersten Testaments gibt.29 Besonders problematisch sind hierbei natürlich die im Erzählzusammenhang Gott selbst zugesprochenen Gewalttaten, von der vernichtenden Flut bis hin zu Hiob. Assmann hat besonders die legitimatorische Gewalt hervorgehoben, in der sich Gewalttäter auf Gott als deren Rechtsgrund beziehen. Immerhin kann der Einwand geltend gemacht werden, die Frage nach der Gewalt und eine gewaltförmige Praxis befände sich auch im Ersten Testament in einem Entwicklungs- und Reflexionsstadium und es müsse auch der polytheistische Hintergrund vor allem der vor-monotheistischen Schichten der Hebräischen Bibel geltend gemacht werden.30 Dennoch: Sich diesen kritischen Anfragen dann durch die Behauptung zu entziehen, wir verträten schließlich keinen reinen Monotheismus, sondern eher einen, der trinitarisch sich entfalte, scheint dabei kein hinreichender Ausweg zu sein, da damit nicht nur die eigenen Wurzeln indirekt negiert würden und wir Gefahr liefen, uns im Gegensatz zum Judentum zu definieren, sondern auch weil ein rein trinitätstheologischer Entwurf ganz andere Schwierigkeiten aufwirft, über die aber zu verhandeln hier nicht der Ort ist.31

Viel eher wäre noch einmal an den jüdischen Monotheismus – auch und gerade als Christ – anzuknüpfen, der eben kein ‚starker‘, sondern ein „schwacher“ und verletzbarer, ein pathischer Monotheismus ist.

„Das will zweierlei besagen: Zum einen ist dieser Monotheismus von einer Figur der ‚biblischen Aufklärung’ begleitet, d.h. er enthält zwar Elemente eines archaischen Monotheismus mit seinen Gewaltmythen und seinen Freund-Feind-Bildern, gleichzeitig kennt er aber ein ‚Bilderverbot’, eine radikale Mythenkritik und die negative Theologie der Propheten; zum andern ist die Gottesrede der biblischen Traditionen ein[e] Rede, die durch die ebenso unbeantwortbare wie unvergessliche Theodizeefrage – also durch die Frage nach dem Leid in Gottes guter Schöpfung – konstitutionell ‚gebrochen’ ist, eine Rede, die nicht eine Antwort, sondern eine Frage zu viel hat. Sie ist deshalb eine Gottesrede, die sich nur über die Leidensfrage, über die memoria passionis, über das Eingedenken des Leids, des Leids der anderen – bis hin zum Leid der Feinde – universalisieren kann. Universal, also für alle Menschen bedeutsam, kann die Gottesrede nur sein, wenn sie in ihrem Kern eine für fremdes Leid empfindliche Gottesrede ist.“32

Die in diesem schwachen Monotheismus sich zeigende Empfindlichkeit für fremdes Leid könnte mithin das einende Band wenigstens zwischen den monotheistischen Religionen sein, wenn und insofern sie alle auf diesen biblisch tradierten Gott rekurrieren. Ob damit freilich eine Vermittlung zu den nichtmonotheistischen Religionen möglich sein könnte, wäre im Einzelfall jeweils noch zu prüfen. Aber auch für den Fall, dass es hier keine Gemeinsamkeiten geben sollte, wäre doch mit der leidempfindlichen Gottesrede ein Maßstab angegeben, der ein produktives Gespräch mit den anderen Religion eröffnen könnte. Es wäre auch nicht weiter tragisch, wenn an dieser Stelle Differenzen deutlich würden. So schön eine konsensuale Annäherung zwischen den Religionen auch sein mag; gerade die Erfahrungen in den Auseinandersetzungen zwischen Katholizismus und den lutherischen Kirchen um die Rechtfertigungslehre zeigen, dass auch eine Dissensformulierung durchaus produktiv sein kann. Davon wäre in unserer Frage möglicherweise auch zu lernen.

Die leidsensible Gottesrede auf der Basis des biblischen Monotheismus böte zugleich einen Maßstab, der auch politisch wirksam werden könnte, so dass der alte Verdacht, ein jeder Monotheismus sei demokratiefeindlich, obsolet wäre und vielmehr deutlich würde, dass in diesem Monotheismus selbst Demokratie schon angelegt ist, nämlich in seinem letzten biblischen Imperativ, eine jede gesellschaftliche Formation habe sich an der Wahrnehmung fremden Leids als entscheidende Kategorie allen öffentlichen Handelns zu orientieren.

Für die praktische Theologie gewendet bedeutet dies, multireligiöse Erfahrungen so zu fokussieren, dass in ihnen eine Wahrnehmung fremden Leids gelehrt und eine Kultur der Anerkennung entwickelt wird.

Es stellt sich aber noch die Frage, wie denn mit dem Phänomen einer Multireligiosität ad intra umzugehen sei. Denn nicht länger ist von einem homogenen Glauben innerhalb des Christentums, noch nicht einmal innerhalb des Katholizismus, auszugehen. Gab es immer schon Differenzen im Gottesverständnis auf der Ebene der theologischen Reflexion, die schließlich zu den großen theologischen Debatten und dogmatischen Definitionen führten, so gibt es heute deutliche Differenzen im religiösen Alltagsbewusstsein, die freilich nicht mehr kontrovers diskutiert werden, sondern – wiederum der postmodernistischen Mentalität folgend – gleich gültig nebeneinander stehen bleiben. In der kirchlichen Praxis führt dies dann natürlich dazu, dass – wenn denn überhaupt noch ein Gottesbezug supponiert werden kann – dieser äußerst heterogen ist. Eine Verständigung über die Differenz setzt aber eine Diskursbereitschaft und eine Diskursfähigkeit voraus, die angesichts diffuser Religiosität nur schwer vorausgesetzt werden kann. Es ergeben sich somit zwei Problemkreise: zum einen, die Multireligiosität innerhalb eines Spektrums unterschiedlicher kultureller Herkünftigkeit zu berücksichtigen, zum anderen aber, jene christliche Multireligiosität erstmals zu thematisieren, die Differenzen herauszuarbeiten und in einen Vermittlungsprozess zu überführen.

Dabei ist auch ohne große Reflexion evident, dass der zweite Problemkreis wesentlich schwieriger zu bearbeiten ist als der erste. Es mag paradox erscheinen, aber gerade hinsichtlich der Multireligiosität ad intra sind wiederum Anfragen von jenseits des Christentums ein erster wichtiger Schritt, da in der Tat nicht mehr auf vorfindbares Wissen oder gar Erfahrungen bei einem großen Teil der betroffenen Subjekte zurückgegriffen werden kann. Wenn aber hier die Sprachlosigkeit herrscht, muss der Versuch gemacht werden, durch externe Anfragen an das Christentum so etwas wie einen apologetischen Impuls zu geben. Mag hier auch die Kirchenkritik naheliegen und die Sprachbarrieren ansatzweise zu überwinden helfen, so ist doch gleichwohl tiefer anzusetzen, um mithilfe der genuinen Religionskritik an wesentliche Anfragen an die jüdisch-christliche Tradition heranzukommen. Für viele ergibt sich dadurch die Möglichkeit, mit gleichsam bloß geborgten Argumenten eine erste Versprachlichung ihrer eigenen Fragen zu erreichen. Freilich gilt es hier eine Einschränkung zu machen: Die Zeit der großen Atheismen ist nämlich vorbei. Es waren z.B. für die Religionspädagogik geradezu noch paradiesische Zustände, als vor allem kritische Schülerinnen und Schüler auf der Basis der großen Atheismen in den Diskurs mit dem Christentum einstiegen. Davon kann heute keine Rede mehr sein.

Hinsichtlich der ersten Problemstellung, der Multireligiosität ad extra werden beispielsweise in der Religionspädagogik immer mehr Stimmen laut, der konfessionell gebundene Religionsunterricht sei zugunsten einer multireligiösen Orientierung im Sinne des religionskundlichen Unterrichtes aufzugeben und allen Religionen der gleiche Stellenwert einzuräumen.33 Ohne hier nun den strikt konfessionellen Religionsunterricht einfachhin zu verteidigen, sei jedoch wenigstens auf das Problem der Auflösung dieser Bindung – oder sagen wir hier: der Auflösung der christlichen Bindung – hingewiesen. Studien aus den Jahren 1998 und 1999 bezogen auf die britische Situation, in der diese Bindung schon längst nicht mehr vorhanden ist, zeichnen ein differenziertes Bild religionskundlichen Unterrichts. Es wird darin erstens gefragt, ob die säkulare Weltanschauung, die hinter diesem Modell sich verbirgt, die die Möglichkeit eines ideologiefreien Erkennens vorgebe, nicht selbst eine Ideologie sei, die darin bestehe, die Wahrheitsansprüche der Religionen faktisch zu relativieren; zweitens, ob hinter einer solchen Didaktik ein instrumentelles Verständnis von Bildung stecke, wonach die Schüler mit ihren eigenen Fragen gar nicht mehr vorkämen und insofern für die Vermittlung abstrakter Inhalte instrumentalisiert würden, drittens aber wird gefragt, ob eine Negierung der eigenen Traditionsvorgaben nicht einen hermeneutischen Rückschritt darstelle, so dass die Lehrenden selbst ihre Tradition vergessen müssten, damit ein adäquater religionskundlicher Unterricht möglich sei.

 

Die letzten Bemerkungen leiteten schon über zu der Frage, wie denn das Christentum selbst noch tradiert werden könne in einer Situation offensichtlicher Krise. Nun ist diese Krise keinesfalls neu. Sie hat zunächst ihre Basis und ihren Ausgangspunkt in der Aufklärung, die ja gründlich mit Tradition überhaupt aufgeräumt hat. Tradition verliert in der Aufklärung ihre Handlung bestimmende und Leben orientierende Kraft und wird Objekt historischer Erkenntnis und damit auch Arsenal für das Informations- und Nachrichtenbedürfnis der aufgeklärten Vernunft. Letztlich führt jedoch auch schon der Prozess der Historisierung von Tradition zu ihrer Entwichtigung.

Tradition – das sei hier auch nur angedeutet – lässt sich mit den Kategorien der Tauschgesellschaft nicht mehr vermitteln. Es ist die Gefahr des aufgeklärten Bürgertums, „alles, was nicht dem Kalkül der rechnenden Vernunft pariert und sich nicht den Gesetzen des Marktes, d.h. des Profits und des Erfolgs unterwirft, der privaten Beliebigkeit und Unverbindlichkeit des einzelnen zu überlassen. Wie er die Religion zur Service-Religion macht, an die er sich privat wendet, so macht der Bürger auch die Tradition zum Wert, dessen er sich privat bedient. – Kulturindustrie ist ein später Ausdruck für diesen Vorgang, der in der Aufklärung angelegt ist“34.

Wenn wir heute in einem praktisch-theologischen Kontext von Tradition und deren Krise sprechen, dann stecken die grundlegenden Veränderungen der Aufklärung noch darin, wenngleich in veränderter Form. War nämlich die Aufklärung noch um die Kritik an Tradition bemüht, so wäre heute diese Kritik – analog der Kritik der Religion – eine wichtige Basis der Auseinandersetzung. Die Krise der Tradition ist heute vielmehr begrifflich kaum noch fassbar. In ihr steckt zum einen der generelle Verlust an Bezugssystemen, in ihr steckt vor allem aber auch ein Grundzug postmoderner Mentalität, nämlich der Hang zum Vergessen, der allerdings noch einmal gleichsam schleichend sich zeigt, keinesfalls eine bewusste Entscheidung oder gar Strategie darstellt, sondern vielmehr den gesellschaftlichen und kulturellen Trends geschuldet ist. Erinnerung gibt es nämlich beinahe schon gar nicht mehr; ‚ich muss auch gar nicht mehr erinnern, ich habe doch einen Computer, der für mich nichts vergisst. Ich muss nur daran denken, rechtzeitig zu speichern.’

Zunächst aber soll der Befund der Enttraditionalisierung eingebunden werden in den postmodernistischen Individualisierungstrend.

„Die Individuen müssen“, so meint Ulrich Beck, „um nicht zu scheitern, langfristig planen und den Umständen sich anpassen können, müssen organisieren und improvisieren, Ziele entwerfen, Hindernisse erkennen, Niederlagen einstecken und neue Anfänge versuchen. Sie brauchen Initiative, Zähigkeit, Flexibilität und Frustrationstoleranz. Chancen, Gefahren, Unsicherheiten der Biographie, die früher im Familienverbund, in der dörflichen Gemeinschaft, im Rückgriff auf ständische Regeln oder soziale Klassen definiert waren, müssen nun von den einzelnen selbst wahrgenommen, interpretiert, entschieden und bearbeitet werden. Die Folgen – Chancen wie Lasten – verlagern sich auf die Individuen, wobei diese freilich angesichts der hohen Komplexität der gesellschaftlichen Zusammenhänge, vielfach kaum in der Lage sind, die notwendig werdenden Entscheidungen fundiert zu treffen, in Abwägung von Interesse, Moral und Folgen.“35

Unter postmodernen Bedingungen hat also nunmehr die Biographie zu ersetzen, was einst die kollektiven Bindungen gewährleisteten. Diese aber waren noch einmal fundiert in mehr oder weniger stabilen Traditionen, die freilich nicht per se gut, hilfreich und unproblematisch waren, erst recht, wenn Tradition gleichsam traditionalistisch verstanden wird. Was aber neu ist an unserer Situation, das ist, dass die kulturellen Traditionen, die es zwar noch immer gibt, ihre unhinterfragten normativen Gehalte verlieren. Viele andere Wert- und Sinnsysteme erhalten nun die gleiche Dignität und das Individuum steht vor der schwierigen Aufgabe, aus der Vielfalt der Möglichkeiten entweder eine sich auszusuchen oder aber selbst einen neuen Mix herzustellen in Gestalt individueller Synkretismen, die gleichwohl ohne besondere Stringenz, vielmehr durch Lust gekennzeichnet sind.

Dass von dieser Entwicklung, also der Erosion der normativ-kulturellen Überlieferung, die traditionellen Religionen und Konfessionen in besonderer Weise getroffen sind, versteht sich von selbst. In weiten Teilen gelten sie schließlich als Wahrer der Tradition schlechthin. Dabei stimmt es natürlich, dass gerade die jungen Menschen dies nicht mehr so sehen und in der Tradition eher einen schlichten Traditionalismus vermuten, den sie freilich nicht so nennen würden und könnten. Auch greift es zu kurz, dies einfachhin der Säkularisierung anzulasten, in der die Religion sich nach und nach ihrer Plausibilitäten entledigt und damit überflüssig wird. Das Individualisierungstheorem hat hier zu einer differenzierteren Betrachtungsweise geführt, indem natürlich gesehen wird, dass die institutionalisierte Religion – also in unserem Kontext das Christentum – eine gravierende Depotenzierung erfahren hat, dass aber andererseits damit nicht ein Verlust von Religion an sich zu verzeichnen ist, dass vielmehr auch hier eine individualisierte Religion entstanden ist. Schon Ende der 60er Jahre hat der amerikanische Religionssoziologe Thomas Luckmann hier eine „unsichtbare Religion“36 zu entdecken geglaubt. In einer empirischen Studie aus der Schweiz Anfang der 90er Jahre lassen sich diese Tendenzen nunmehr verifizieren. Alfred Dubach und Roland Campiche haben vier typische Ausprägungen zeitgenössischer Religiosität herausgestellt:

1. Individuell-autonome Religiosität: Der Ort von Religion „verschiebt sich aus dem Bereich der kirchlich institutionalisierten Religion in denjenigen des Individuums“. Das Individuum ist die Instanz, die seine Religiosität selbst zu wählen und zu verantworten hat. Eine „quasi-automatische Übernahme vorgeformter, kirchlich bereitstehender Lebensdeutungen und Frömmigkeitsformen“ geschieht in der Regel nicht mehr. Die erfolgte Pluralisierung auch im religiösen Bereich kommt dem Anspruch der Autonomie entgegen.

2. Bedarf nach religiöser Selbstthematisierung: „Mit der Autonomie und der Option für Pluralität ist implizit ein weiteres Element moderner Religiosität gegeben: Religion ist unter den Bedingungen der Moderne zunehmend nur mehr im Medium von Subjektivität oder gar nur als Subjektivität darstellbar.“ Das, wie bereits herausgestellt, starke Zurückgeworfensein der einzelnen auf ihr eigenes Selbst bedingt, dass die Frage nach der persönlichen Identität zunehmend zum zentralen Thema wird und dabei stark religiöse Züge annimmt.

3. Selbstbestimmt-pragmatisches Verhältnis zu den Kirchen: Die kirchliche Mitgliedschaft wird immer noch relativ selten ausdrücklich aufgekündigt (auch wenn die Zahl derer, die es tut, sich beträchtlich erhöht hat); sie wird als ein Element der persönlichen Lebensgeschichte gelten gelassen, das von Fall zu Fall auch aktiviert wird. Diese „Fälle“ werden allerdings von den Betroffenen bestimmt und nicht durch institutionelle Vorgaben gesteuert. Diese werden – wenn überhaupt – als fakultatives Angebot wahrgenommen.

4. Vielfalt religiöser Orientierungen und Attraktivität neureligiöser, esoterischer Ausformungen: Die Schweizerische Bevölkerung bezeichnet sich mehrheitlich als christlich. Faktisch geht damit eine Vielfalt religiöser Ausdrucksformen einher, nicht nur außerhalb der Kirchen, sondern auch innerhalb. Hierbei spielen die herkömmlichen konfessionellen Grenzziehungen so gut wie keine Rolle mehr. Das Spektrum reicht von religiöser Indifferenz über eine weit verbreitete und synkretistisch durchsetzte „diffuse Religiosität“ bis hin zu auf bewußter Entscheidung beruhenden Minderheitsreligiositäten sowohl fundamentalistischer als auch „aufgeklärter“ Spielart. Neureligiöse Orientierungen und Praktiken sind für manche Zeitgenossen deswegen attraktiv, weil sie – anders als in den traditionellen Kirchen – dort ihre Lebenssehnsüchte, Ängste und Nöte aufgenommen sehen.37

Was für die Schweiz galt, ist sicherlich auf bundesdeutsche Verhältnisse übertragbar. Die Erkenntnisse dürften uns – nach allem was wir bisher reflektierten – kaum besonders irritieren. Dennoch stellen sie uns vor enorme Herausforderungen; zumindest wenn wir noch einmal das Projekt der Individualisierung im Rahmen von Moderne und Postmoderne in den Blick nehmen:

Es ist nachvollziehbar, wenn man in dem Individualisierungsschub der Postmoderne eine gewisse Radikalisierung des Freiheitpathos’ der Moderne sieht. Die Bedingung für die Individualisierung war die weitgehende Dezentrierung der traditionsorientierten Milieus und die ungeheure Ausweitung der individuellen Handlungsspielräume. Insofern kann man tatsächlich einen enormen Freiheitszuwachs verzeichnen. Allerdings ist mit Habermas und Peukert zu fragen: Welcher Freiheit? Denn selbstverständlich sind verschiedene Freiheitskonzeptionen denkbar. Das Projekt der Moderne kennt zwei grundverschiedene Freiheitskonzeptionen: Zum einen gibt es jene der totalen Selbstbestimmung, der radikalen Autonomie des von allen äußeren Zwängen losgelösten Subjektes; zum anderen aber wird mit großem Recht betont, Freiheit sei nur zureichend erfasst und praktiziert, wenn die je eigene Freiheit ihren Maßstab und ihre tiefste Begründung in der freien Anerkennung des Anderen in seiner Andersheit finde und dass daher Freiheit nur als Akt der Intersubjektivität begriffen und praktiziert werden könne.

Der ersten Variante folgt eine Logik der Selbstbehauptung und Machtsteigerung, die man auch als instrumentell kennzeichnen könnte, der zweiten folgt eine Logik kommunikativer Praxis der wechselseitigen Anerkennung. Diese Unterscheidung ist insofern folgenreich, da für die pädagogische Praxis mit dem Ziel eines angemessenen Verständnisses sozialisatorisch-pädagogischer Interaktion nur das zweite Modell infrage kommt, als ein intersubjektives Handeln nämlich, „das dem anderen Freiheit als seine ursprüngliche Möglichkeit nie abspricht, sondern schon immer vorgreifend voraussetzt und darin seine unantastbare Würde sieht“38. Nun ist allerdings davon auszugehen, dass der gesellschaftlich relevante Freiheitsbegriff und das praktizierte Freiheitskonzept gerade ein solches Verständnis permanent unterläuft und dadurch fundamental erschwert.

Spätestens hier – so kann man mit Axel Honneth folgern – wirkt sich der Verlust von Traditionen verhängnisvoll aus, denn es „droht mit der Erosion der kulturell-normativen Überlieferungen, wie sie die geschichtsphilosophischen Konstruktionen etwa der sozialistischen oder religiösen Traditionen bereitstellten, […] die Gefahr einer Austrocknung des kulturell-normativen Interaktionsmediums der Lebenswelt“39, denn solch narrativ verfasste Überlieferungen waren es, „in denen sich die Mitglieder eines Gemeinwesens in ihrer Gegenwart noch kommunikativ auf eine gemeinsame Vergangenheit und eine entsprechend konstruierte Zukunft hin verständigen konnten“40.

Ich möchte dies mit dem schon angedeuteten Erinnerungsverlust noch einmal von einer anderen Seite vertiefen, denn der Verlust von Tradition hat seine Grundlage nicht nur in den Individualisierungs- und Freiheitstendenzen, sondern auch im Verlust von Erinnerung, die uns Christinnen und Christen besonders stark betrifft: immerhin ist unsere Glaubensgemeinschaft wesentlich auch Erinnerungsgemeinschaft, die sich jeden Sonntag um einen Tisch versammelt und dies „in seinem Gedächtnis“ tut. Sie erinnert dabei sowohl Freiheits- wie auch Leidensgeschichte und eröffnet gerade erinnernd eine Zukunft für alle Menschen – nicht nur für die versammelte Gemeinde. Wenn nun Erinnerung und damit Tradition immer mehr verloren zu gehen droht, bedroht das das Christentum im Ganzen – wenn auch auf eine zunächst subtile Art und Weise. Es ist eine schleichende Bedrohung, wie auch der Erinnerungsverlust ja kein spektakulärer, sondern ein schleichender Prozess ist. Schon Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts41 hat das Magazin „Time“, das jedes Jahr den Menschen des Jahres kürt, eine bahnbrechende Neuorientierung vorgenommen, indem es auf der Titelseite den Menschen des Jahres vorstellte, der aber gar kein Mensch war, sondern ein Roboter; der aber gespickt mit Elektronik das grundlegende Defizit des Menschen nicht mehr besitzt, der nämlich nichts erinnern kann, weil er gar nichts vergessen kann. Es ist eine Intelligenz ohne Geschichte, ohne Leidensfähigkeit – und ohne Moral.

 

Gegen diese kulturelle Amnesie setzt die jüdisch-christliche Tradition das Erinnern. Dabei ist natürlich wenigstens ganz grob eine Unterscheidung angezeigt. Es gibt wenigstens drei große Erinnerungskonzeptionen: die platonische Anamnesislehre, die eschatologische memoria des Christentums und die Synthese beider in der Hegelschen Philosophie.

Anamnesis ist im Grunde der Schlüsselbegriff der platonischen Philosophie: Sie wird für Platon dadurch fundamental, dass er sie als ermöglichenden Grund formeller „vernünftiger“ Erkenntnis überhaupt versteht, sie also als Konstitutionsproblem der Vernunft thematisiert. Erkenntnis ist eine Erkenntnis vorgewusster und insofern erinnerungsgeleiteter Wahrheit. Diese Position zieht sich durch die gesamte Philosophiegeschichte: über Anselm von Canterbury bis zu Descartes und der bei ihnen formulierten eingeborenen Idee Gottes, bis hin zu Heideggers Erinnerung als Eintauchen in die vorgängige Wahrheit. Mit Kant gab es die erste grundlegende Irritation dieses Konzepts, indem er darauf hinwies, dass die Vernunft nie etwas anderes erkennen könne, als das der Vernunft Zugängliche, dass mithin ein Block zwischen der Möglichkeit immanenter und transzendenter Erkenntnis liege, was indes nicht bedeutet, dass damit Transzendenz geleugnet wäre.

Als Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft verortet sich das Christentum nun in einer Welt des griechischen Logos und der Metaphysik. Anders als diese beansprucht das Christentum nicht einen abstrakten Erinnerungsbegriff, vielmehr weiß es seine Erinnerungen auf geschichtliche Ereignisse, ja letztlich auf ein geschichtliches Ereignis hin bezogen: nämlich die eschatologische Erlösung und Befreiung des Menschen durch Gott, die es als unwiderruflich angebrochen glaubt. Erinnerung nimmt hier einen neuen Status an, nämlich als eine Erinnerung nach vorn, nachdem in der Geistesgeschichte Erinnerung immer nur eine nach hinten war.

In der Hegelschen Philosophie kommt nun die Synthese insofern zustande, als nunmehr die Philosophie gezwungen ist, Wahrheit auf dem geschichtlichen Stand ihrer Vermittlung zu denken, ihre Allgemeinheit gewissermaßen aus geschichtlicher Apriorität zu begreifen. So wird sie auch zur kritischen Erinnerung, zumindest als „Empfindlichkeit gegen jede Form von Unterbietung des erreichten Stands“42 und in eins damit als Protest gegen jede begriffslose Unterwerfung unter vorgegebene Zustände. Dass natürlich hier weitergehende Differenzierungen nötig wären, versteht sich von selbst. Ich möchte aber nur eine Weiterführung der Hegelschen Position, die dann auch theologisch wichtig wurde, noch kurz ansprechen: nämlich die „gefährliche Erinnerung“ in der sog. Frankfurter Schule. Zwei Namen sind hier zunächst wichtig: Walter Benjamin und Herbert Marcuse.

In den geschichtsphilosophischen Thesen43 entfaltet Benjamin die Erinnerung der Leidensgeschichte der Welt als Vermittlung einer Verwirklichung von Vernunft und Freiheit, die sich gegen ein undialektisches Verständnis von Fortschritt wendet. Gerade im Angesichte ungeheueren Fortschritts verschafft der Blick in die Vergangenheit wichtige und kritische Erkenntnisse. Eher psychologisch ansetzend kommt Herbert Marcuse zu ähnlichen Ergebnissen, wenn er betont, die „wiederentdeckte Vergangenheit“ liefere „kritische Maßstäbe“ und werde zum „Vehikel der Befreiung“44. Gesellschaftskritisch gewendet heißt dies dann bei Marcuse:

„Die Erinnerung an die Vergangenheit kann gefährliche Einsichten aufkommen lassen, und die etablierte Gesellschaft scheint die subversiven Inhalte des Gedächtnisses zu fürchten. Das Erinnern ist eine Weise, sich von den gegebenen Tatsachen abzulösen, eine Weise der ‚Vermittlung’, die für kurze Augenblicke die allgegenwärtige Macht der gegebenen Tatsachen durchbricht. Das Gedächtnis ruft vergangene Schrecken wie vergangene Hoffnung in die Erinnerung zurück. Beide werden wieder lebendig, aber während jener in der Wirklichkeit in stets neuen Formen wiederkehrt, bleibt diese in Hoffnung. Und in den persönlichen Begebenheiten, die im individuellen Gedächtnis neu erstehen, setzen sich die Ängste und Sehnsüchte der Menschheit durch – das Allgemeine im Besonderen. Die Geschichte ist es, die die Erinnerung bewahrt, aber auch sie unterliegt der totalitären Gewalt des verhaltensmäßigen Universums.“45

Adorno, der dritte wichtige Name in diesem Zusammenhang, betont in erkenntniskritischer Absicht:

„Was im Denken geschichtlich ist, anstatt der Zeitlosigkeit der objektivierten Logik zu parieren, wird dem Aberglauben gleichgesetzt, der in der Berufung auf kirchlich institutionelle Tradition wider den prüfenden Gedanken tatsächlich war. Die Kritik an Autorität hatte allen Grund. Aber sie verkennt, daß Tradition der Erkenntnis selbst immanent ist als das vermittelnde Moment ihrer Gegenstände. Erkenntnis verformt diese, sobald sie kraft stillstellender Objektivierung damit tabula rasa macht. Sie hat an sich noch in ihrer dem Gehalt gegenüber verselbständigten Form, teil an Tradition als unbewußte Erinnerung; keine Frage könnte nur gefragt werden, in der Wissen vom Vergangenen nicht aufbewahrt wäre und weiterdrängte.“46

Adorno aber weiß schon von der Fragilität der Tradition und der damit einhergehenden Erinnerungsschwäche. Er selbst gibt die Aporie von Tradition an:

„Wie die in sich verbissene Tradition ist das absolut Traditionslose naiv: ohne Ahnung von dem, was an Vergangenem in der vermeintlich reinen, vom Staub des Zerfallenen ungetrübten Beziehung zu den Sachen steckt. Inhuman aber ist das Vergessen, weil das akkumulierte Leiden vergessen wird; denn die geschichtliche Spur an den Dingen, Worten, Farben und Tönen ist immer die vergangenen Leidens. Darum stellt Tradition heute vor einen unauflöslichen Widerspruch. Keine ist gegenwärtig und zu beschwören; ist aber eine jegliche ausgelöscht, so beginnt der Einmarsch in die Unmenschlichkeit.“47

2.4 Ortlosigkeit als theologisches Problem

Schon in der berühmten Rede des Dominikaners Melchior Cano über die loci theologici, mit der im katholischen Raum des 16. Jahrhunderts die Grundlage für die Fundamentaltheologie als universitäre Disziplin gelegt wurde, wird zwar von Orten gehandelt, die aber gleichsam ortlos bleiben, insofern sie bloß formalen Gesichtspunkten folgten und unter Absehung jeglichen Subjektbezugs formuliert waren.48 Er führt zehn spezifische Orte auf, nämlich: die Heilige Schrift, die Tradition, die katholische Kirche, die Konzilien, die römische Kirche, die Kirchenväter, die scholastischen Theologen, die menschliche Vernunft, die Philosophie und die menschliche Geschichte. Es geht also gerade nicht um den spezifischen Ort der Theologie, sondern um erkenntnistheoretische Fragen hinsichtlich der Quellen der Theologie.49