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3. Theologische Grundperspektiven bestehender pastoraler Praxis

Viele Stichworte des folgenden Kapitels wurden schon angesprochen. Sie sollen hier lediglich noch einmal hinsichtlich der sakramentalen Praxis fokussiert werden. Wiederum geschieht dies nicht auf der Basis empirischer Erhebungen, sondern kursorischer Wahrnehmung einerseits und der Vermittlung hin zu praktisch-theologischen Erkenntnissen andererseits. Auf diese Weise dürfte hinreichend gesichert sein, dass es sich bei den Beobachtungen nicht um singuläre Phänomene handelt, sondern jeweils pastoral relevante Trends darin erfasst sind. Im Hintergrund der folgenden Sichtungen stehen Beobachtungen und Reflexionen, die in der Pastoraltheologie auch unter den Stichworten der „Kooperativen Pastoral“1 im Unterschied zur „Sozialpastoral“2 beschrieben wurden, die zugleich auch sehr unterschiedliche Verständnisse des kirchlichen Handelns einerseits und der damit verbundenen Zielrichtung andererseits kennzeichnen, nämlich als institutionsbezogener Ansatz zum Einen und als Reich-Gottes-bezogener Ansatz zum Anderen.3

3.1 Aktivierungs-, Beteiligungs- und Mitgliederorientierung

Wenn wir in einem vorhergegangenen Kapitel über die Verkirchlichung als eine der unreflektierten Leitperspektiven pastoralen Handelns nachgedacht haben, so können wir nun die dahinter sich verbergenden Motive noch einmal deutlicher in den Blick nehmen. Denn die Verkirchlichungsthese hilft, die Mitgliederorientierung der Kirche zu verstehen. Dabei gibt es selbstverständlich gute und nachvollziehbare Gründe für eine solche Mitgliederorientierung, denn „die Gewinnung neuer Mitglieder aus der jeweils nachwachsenden Generation und die Vermittlung ausreichender Motive der Aneignung christlicher Inhalte sowie der Teilnahme an den sozialen Formen des Christentums“4 sind grundlegend für die Lebensfähigkeit eines sozialen Gebildes. Berücksicht man allerdings, dass Kirche wesentlich einen eschatologischen Charakter hat, dass sie also jederzeit streng genommen mit dem Kommen des Reiches Gottes zu rechnen hat, dass infolgedessen jede strenge Institutionalisierung immer problematisch5 ist, dann ist der Ausdruck Mitgliedschaft von sich aus belastet, weil er gerade diese eschatologische Dimension aufgibt und auf Dauerhaftigkeit setzt.

Innerhalb der Sakramentenpastoral zeigt sich diese Motivlage sehr deutlich, wenigstens in den Initiationssakramenten, aber letztlich auch im Sakrament der Ehe. Noch einmal: dies ist nicht in jedem Falle zu problematisieren, wohl aber, wenn dadurch wesentliche inhaltliche Strukturen des Sakraments überlagert werden. Zielt aber nicht gerade die Taufe auf Sicherung der Mitgliedschaft, mithin auch der damit verbundenen monetären Effekte? Wie sind die Erwartungen vieler Pfarrer aber auch sonstiger Verantwortlicher in den Pfarrgemeinden nach der Erstkommunion und der Firmung zu bewerten, nun sollten die Kinder und Jugendlichen sich auch stärker in den Pfarrgemeinden engagieren. Wird Kinder- und Jugendarbeit unter dieser Perspektive nicht geradezu ins Gegenteil verkehrt? Verstanden nicht sowohl der Synodenbeschluss zur kirchlichen Jugendarbeit6 wie aber auch die entsprechenden Jugendpastoralpläne in den Diözesen unter Jugendarbeit „ein wesentlicher Dienst der Kirche an der Jugend und zugleich ein Dienst an der Gesellschaft“7, während sich heute der Eindruck einstellt, Jugendarbeit bestehe in der Arbeit der Jugendlichen für die Ortsgemeinde? Inwiefern gibt es inhaltlich orientierte und pädagogisch angemessene Angebote für Kinder und Jugendliche, in denen sie nicht schon als eigenständige (religions-)mündige Subjekte angesprochen, sondern mit denen eine Kontinutität zu den jeweiligen Sakramenten gestiftet werden würde?

Dabei muss freilich bedacht werden, dass die kirchlichen Angebote für Kinder und Jugendliche oder auch für Erwachsene etwa im Falle des Ehesakraments nicht rein rezeptiv sein dürfen, wodurch Kinder, Jugendliche und Erwachsene in eine Haltung der Passivität gerieten. Es kann, darf und muss also auch Möglichkeiten der Mitarbeit geben. Schließlich hat die Würzburger Synode gerade darauf Wert gelegt, dass sich Gemeinden von einer bloß versorgten zu einer selbstsorgenden aktiven Gemeinde entwickeln. Mitarbeit und kirchliche Aktivität sind also durchaus wichtig, insofern darin sich auch widerspiegelt, dass die Träger der kirchlichen Praxis eben nicht in erster Linie die hauptamtlichen Mitarbeiter, sondern die Christinnen und Christen selbst sind. Inzwischen aber ist diese Aktivierungsperspektive fragwürdig geworden, wenn immer wieder und beinahe ausschließlich darauf geachtet wird, wie viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich in welcher Art und Weise engagiert haben.

Hermann Steinkamp hat, diese Fragen aufgreifend, Alternativen zur Rekrutierungs- und Aktivierungstendenz in der kirchlichen Praxis formuliert, mit denen er der Betroffenheit und der Selbstorganisation den Vorzug gibt. „a) Statt beliebige Individuen und Menschen-Mengen zu Aktivitäten, Gruppen, Veranstaltungen zu versammeln/bewegen: Betroffene als solche wahrnehmen und ggf. zu Solidarisierungen, Zusammenschlüssen etc zu bewegen, zu befähigen: Alleinerziehende, Arbeitslose, Drogenabhängige, Einsame etc. Ferner: Solidaritäts- und Selbsthilfegruppen (Homosexuelle, Anonyme Alkoholiker) Raum und Unterstützung geben, wo diese notwendig sind. b) Menschen ihre komplementäre (als Noch-Arbeitsbesitzer, ‚Feierabend-Trinker’) und sekundäre Betroffenheit (als Angehörige von Alkoholikern, Nachbarn von Aussiedlern und Asylanten) bewußt zu machen und ggf. mit entsprechenden Widerständen arbeiten. […] c) Die spezifische Kompetenz der Betroffenheit’ […] in solchen Situationen und Zusammenhängen wahrnehmen, wo routinierte Diakonie dazu tendiert, ‚für sie’ zu handeln“8

Ganz anders als diese nach außen gerichtete Pastoral verhält es sich in weiten Teilen der Sakramentenpastoral, die eher nach innen, auf Aktivierung, Beteiligung und Mitgliedschaft gerichtet ist, allerdings unterhalb dessen, was Partizipation im tieferen Sinne meint. Ein partizipativer Ansatz würde in der Sakramentenpastoral viel Wert darauf legen, die Menschen, die auf ein Sakrament sich vorbereiten, zu begleiten, ihnen als Gesprächspartnerinnen und –partner zur Seite zu stehen, ihren Fragen – auch die an die jeweilige Situation in der Ortsgemeinde – nicht auszuweichen, sich ihnen zu stellen und dadurch auch die Möglichkeit zu unterstützen, die jeweilige Gemeinde zu verändern, und von ihnen inhaltlich sich inspirieren zu lassen. Statt dessen findet sich in der pastoralen Praxis eher das „Postboten-Modell“: „Die Sakramentenpastoral wird analog zum Postboten, der das fest geschnürte Paket zu den EmpfängerInnen bringt, nach dem Schema konzipiert, dass kirchliche FunktionsträgerInnen als KatechetInnen bzw. speziell der Priester als ‚Spender’ (!) das Sakrament in einer inhaltlich vordefinierten Form von außen an die Menschen heranbringen und die Menschen den Gehalt des Sakraments nur über die ‚Schaltstelle’ der kirchlichen FunktionsträgerInnen bekommen könnten.“9

3.2 Territorialprinzip

Über Ortlosigkeit als theologisches Problem wurde unter 2.4 schon einiges gesagt. Dabei vor allem auch über die praxeologische Ortlosigkeit. Gleichwohl hat die kirchliche Tradition schon früh erkannt, wie sehr die topologische Bezogenheit für kirchliches Handeln bedeutsam ist. Die konkrete Gestaltung war die Herausbildung des Parochialprinzips. Das grundlegende Territorium kirchlichen Handelns ist der Tradition zufolge das Bistum, von dem her Parochien als legitime Konkretionen der Kirche vor Ort zu gelten haben. Von daher ist der territoriale Bezug der kirchlichen Praxis essentiell. Die „Kirche Christi ist wahrhaft in allen rechtmäßigen Ortsgemeinschaften der Gläubigen anwesend, die in der Verbundenheit mit ihren Hirten im Neuen Testament auch selbst Kirchen heißen. Sie sind nämlich je an ihrem Ort […] das von Gott gerufene neue Volk“ (LG 26). Gemeinde meint aber ein Doppeltes: Es ist zum einen ein bestimmtes Territorium, zum anderen aber auch eine bestimmte Sozialform, in der Kirche vor Ort erst erfahrbar wird. Es kann Ortskirche ohne eine entsprechende soziale Vergegenwärtigung gar nicht geben. Das reale KircheSein hängt also entscheidend von den realen Menschen ab. Mit dieser eher beiläufigen Bemerkung aber ist Grundlegendes anvisiert. Die realen Menschen haben nämlich eine konstitutive Funktion für die Kirche am Ort, wenn und insofern sie in Übereinstimmung mit der kirchlichen Tradition sich befinden, wobei das II. Vatikanum hier nicht zu einer engen Auslegung anleitet, sondern zu einer weiten ermutigt: „Zu dieser katholischen Einheit des Gottesvolkes […] sind alle Menschen berufen. Auf verschiedene Weise gehören ihr zu oder sind ihr zugeordnet die katholischen Gläubigen, die anderen an Christus Glaubenden und schließlich alle Menschen überhaupt, die durch die Gnade Gottes zum Heile berufen sind.“ (LG 13)

Klassischerweise bildet sich diese Pfarrgemeinde als territoriale Größe auf überschaubarem Raum, mit einer letztlich ebenso überschaubaren Menge von Menschen. Nun haben aber die gesellschaftlichen Differenzierungen einerseits und insbesondere die personellen Veränderungen in der Pastoral neue Überlegungen zum Status der territorialen Pfarrgemeinde auftauchen lassen. Die Folgen sind auf der einen Seite eine Anpassung der Seelsorgeräume an die pastoralen Möglichkeiten, d.h. konkret die Vergrößerung der Seelsorgeeinheiten10, auf der anderen Seite aber die Schaffung neuer pastoraler Erlebnismöglichkeiten, über die weiter unten noch zu handeln sein wird.

Für unsere Frage ist an dieser Stelle zu überlegen, welche Chancen das territoriale Prinzip besitzt, so dass es nicht ohne Not preiszugeben ist, und welche Risiken mit ihm verbunden sind, so dass die einfache Kontinuität bisheriger Praxis nicht mehr bedenkenlos möglich ist. Hierbei ist zunächst zu bedenken, dass die territoriale Verfasstheit der Kirche in einer Ortsgemeinde gegenüber einer kategorialen Gemeinde den großen Vorteil besitzt, zumindest intentional alle in dem jeweiligen Territorium lebenden Menschen als Subjekte zu verstehen und insofern keine spezifische Auswahl vorzunehmen. Das ist die latente Gefahr einer Personalgemeinde, einen ausgewählten Personenkreis anzusprechen und damit viele andere nicht zu berücksichtigen, zumeist freilich unter dem Anspruch, besonders innovativ, kritisch und progressiv zu sein. Die Bedenken von Haslinger sind an dieser Stelle ernst zu nehmen: „Ist das Modell der flächendeckenden, obrigkeitlichen Erfassung der Bevölkerung in einer Pfarreistruktur vorkonziliar, dann ist das Programm der ‚kleinen Herde’ bewußt Entschiedener, etwa gar noch in der diskriminierenden Variante des ‚Gesund-Schrumpfens’, antikonziliar.“11 Dabei ist aber nicht eigentlich die Anzahl der „kleinen Herde“ das Problem, sondern ihr Bewusstsein, ein Bewusstsein, das in vielen Personalgemeinden entwickelt wurde und das als sektenhaft charakterisiert werden kann, wenn unter sektenhaft eine Mentalität verstanden wird, die von großen Teilen der Auseinandersetzung sich abkoppelt und im Reich der Rechten sich wähnt. Es gibt neben der restaurativen Sektenmentalität auch eine progressiv sich wähnende. Ganz sicher sind die Beobachtungen von Johann Baptist Metz auch in diesem Sinne noch aktuell, wenn auch in weiterführender Transformation: „Generelle Symptome für die Zunahme solcher Sektenmentalität scheinen die folgenden zu sein: Traditionsbewahrung ohne Traditionsstiftung, d.h. als purer Traditionalismus; wachsende Unfähigkeit bzw. Unwilligkeit, neue Erfahrungen zu machen und sie in kritischer Assimilation für das Selbstverständnis der Kirche und ihrer Verfassungen anzuwenden. […] Dazu die zelotisch angeschärfte Sprache und ein erneutes militantes Gebaren bei innerkirchlichen Auseinandersetzungen, die Verwechslung von Kirchlichkeit mit einem freud- und humorlosen Zelotentum. […] Nicht die Minorität, sondern die Mentalität definiert die Sekte im theologischen Sinn.“12

 

Nun ist freilich nicht jede Personalgemeinde sektenhaft und nicht jede territoriale Gemeinde kirchlich bedenklich und problematisch. Wie schillernd dies ist hat Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium herausgestellt, denn dort hält er fest: „Die Pfarrei ist keine hinfällige Struktur; gerade weil sie eine große Formbarkeit besitzt, kann sie ganz verschiedene Formen annehmen, die de innere Beweglichkeit und die missionarische Kreativität des Pfarrers und der Gemeinde erfordern. Obwohl sie sicherlich nicht die einzige evangelisierende Einrichtung ist, wird sie, wenn sie fähig ist, sich ständig zu erneuern und anzupassen, weiterhin ‚die Kirche [sein], die inmitten der Häuser ihrer Söhne und Töchter lebt‘. Das setzt voraus, dass sie wirklich in Kontakt mit den Familien und dem Leben des Volkes steht und nicht eine weitschweifige, von den Leuten getrennte Struktur oder eine Gruppe von Auserwählten wird, die sich selbst betrachten.“ (EG, 28) Wir hatten schon gesehen, dass mit der Territorialgemeinde sich einige Fragen und Schwierigkeiten verbinden, die einer Personalgemeinde so sich nicht stellen bzw. die in ihnen besser gelöst sind. Eine scharfe Trennung oder gar ideologische Gegenüberstellung beider pastoraler Bezugssysteme ist daher wenig hilfreich und zu überwinden. Beide sind zu synthetisieren, was sich allerdings im Begriff der Gemeinde, so wie er sich katholisch inzwischen etabliert hat, auch abbildet. Henry Fischer u.a. beschreiben Gemeinde so: „Sie stellt eine Gruppe von Menschen dar, die an Jesus Christus glauben und versuchen, ihr individuelles und gemeindliches Leben an der Botschaft des Neuen Testamentes auszurichten; die Gemeindemitglieder sind in der Gemeinde in ein Geflecht von sozialen Beziehungen hineingebunden und übernehmen bestimmte Funktionen in der Gemeinde; den Mittelpunkt des Gemeindelebens bildet die Gemeindeversammlung, besonders der eucharistische Gottesdienst; die Gemeinde stellt keine Ghetto dar; sie versteht sich als integrierter Teil der Gesamtkirche und weiß sich verpflichtet zum Dienst an der Gesellschaft.“13 Schon sehr früh hatte auch Karl Rahner der Pfarrei eine Dimension zugesprochen, die anfanghaft die Richtung eines solchen Gemeindeverständnisses andeutet und Pfarrei nicht mehr als Verwaltungseinheit aller Katholiken in einem festen Territorium versteht, wenn er beinahe beiläufig davon spricht, die Pfarre sei „die primäre Verwirklichung der Kirche als Ereignis“14. Bleibt aber nach wie vor die Frage, welche Perspektiven in der Sakramentenpastoral dort erkennbar sind. Unterschieden wird in ihr nicht streng, ob es sich eher um eine territoriale oder kategoriale Ausrichtung der Gemeinde handelt, sondern inwiefern hier eine eher öffnende oder abschließende Tendenz erkennbar ist, ob also ein bestimmtes Territorium zum Refugium oder zum Ort produktiver Gegenwartsgestaltung wird.15

Hier gilt es zu konzedieren, dass zunächst die Initiationssakramente deutlich mit einer bestehenden Ortsgemeinde verbunden sind, insofern sie in die Gemeinde und das Gemeinwesen hineinführen. Gleichwohl ist auf den ersten Blick in der sakramentenpastoralen Wirklichkeit nur schwer erkennbar, ob und wenn ja inwiefern mit der Hinführung zu den Sakramenten und deren Feier eine Hinwendung zur Welt gegeben ist. Mehr stellt sich der Verdacht ein, es handele sich um Rekrutierungs- und Mitgliedschaftsinteressen, um Aktivierung im jeweiligen Territorium, unabhängig von der Frage, ob damit der Sendungsauftrag der Kirche schon hinreichend erfasst ist. Wir werden das an anderer Stelle noch weiter verfolgen. Noch anders freilich stellt sich dies für die anderen Sakramente dar, denn diese sind nunmehr weitgehend örtlich entkoppelt, sind schon eher das, was im nun folgenden Abschnitt als Passagenpastoral zu besprechen sein wird.

3.3 Milieuprinzip

Spätestens seit der Untersuchung des Kultursoziologen Gerhard Schulze16 sind soziale Milieus wieder verstärkt in den Blickpunkt der Soziologie geraten. Inzwischen hat dies weitreichende Folgewirkungen innerhalb der Milieuforschung, aber auch in der Praktischen Theologie nach sich gezogen. Die empirische Sozialforschung hat sich seitdem intensiv mit den Auflösungstendenzen alter Milieus und der Entwicklung neuer auseinandergesetzt.

Neben dem Sicherheitsdenken hat sich seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis heute eine weitere Entwicklung fest etabliert, die mit dem Stichwort „Erlebnisgesellschaft“ gekennzeichnet wurde.17 Entgegen einer vorschnellen Einordnung behauptet Schulze nicht, unsere Gesellschaft sei nur noch auf Happenings und Erlebniswelten ausgerichtet. Er differenziert vielmehr unsere Gesellschaft in ein Ensemble unterschiedlicher Subgesellschaften – also High-Tech-Gesellschaft, Leistungsgesellschaft, Ellbogengesellschaft, Konsumgesellschaft, etc. – aber kultursoziologisch sei eine Signatur besonders deutlich, nämlich jene Erlebnisorientierung.

Dahinter steht die Beobachtung einer grundlegenden Verschiebung der Wirklichkeitsdeutung und besonders aber auch der Handlungsorientierung der Menschen im Vergleich zu vorigen Zeiten. Früher waren Menschen nämlich stärker außenorientiert und machten ihr Handeln primär an ökonomischen Standards fest: Überleben, Mehrung und Sicherung des Besitzstandes und Vorsorge, auf dass es die Kinder einmal besser haben mögen etc. Die Knappheit der Güter prägte die Verhaltensweisen der Menschen. In einer Situation relativ stabiler Lebensverhältnisse, die man Mitteleuropa und erst recht Deutschland allen Krisenszenarien zum Trotz noch attestieren kann, ändern sich nun die Verhaltensweisen, indem die Außenorientierung durch eine stärkere Subjektzentrierung mit Innenorientierung abgelöst wird. Die Subjekte stehen immer weniger vor der Frage, wie sie konkrete Mangelsituationen aufheben können.18 Vielmehr sehen sie sich angesichts einer immensen Vermehrung von Möglichkeiten zum Erreichen zahlloser Ziele und Zwecke vor schier unendliche Entscheidungs- und Wahlprobleme gestellt. Dabei wird die Überlebensfrage abgelöst von dem Erlebensbedürfnis. Die Perversion dieser Entwicklung liegt nicht etwa darin, dass die Menschen, die es sich leisten können, aus ihrem Wohlstand mittels Konsums ein Erlebnis machen. Die eigentliche Perversion liegt vielmehr darin, dass Menschen, die aufgrund neuer Armut, Langzeitarbeitslosigkeit o.ä., die also nach bürgerlichen Maßstäben weder etwas sind, noch etwas haben, suggeriert wird, durch Teilnahme am Erlebnismarkt wären sie Teil der Gesellschaft und könnten dort ihre personale und soziale Identität stärken. Das aber geht nur durch einen Mechanismus, dessen Spätfolgen viele Menschen in die Katastrophe führt: Wenn man sich es nicht mehr leisten kann, wird man eben über die Verhältnisse leben, ohne ein schlechtes Gewissen dabei zu haben. Wie will man schließlich sonst auf seine Kosten kommen? Die privaten und vor allem öffentlichen Haushalte zeigen ja deutlich, wie es geht, und leben dies perfekt vor: Sie machen Schulden. Was sonst? Wer nichts ist, will wenigstens etwas haben. Wer nichts hat, will wenigstens etwas sein. Wer aber weder etwas ist noch etwas hat, will wenigstens etwas erleben.19

Hinter der Konjunktur des Begriffs „Erlebnis“ als soziologische Kategorie steckt jene Tendenz, die wir schon im Zusammenhang des Individualisierungstrends kennengelernt haben. Ihren Zusammenhalt finden (post)moderne Gesellschaften nicht mehr in Form kohärenter, wenn auch z. T. kontradiktorischer Weltbilder und Sozialisationsmuster, die ihren Angehörigen eine Identität inhaltlich vorgeben. Die Gestaltung der Biographie ist zur Angelegenheit privater Präferenzen geworden. Von den Subjekten ist weniger eine stringente Lebensplanung, denn Flexibilität und Mobilität gefordert20, gleichsam als Schlüsselqualifikationen für die Behauptung des Subjekts auf dem Arbeitsmarkt. Der Mensch wird immer mehr „auf seinen Geschmack verwiesen. Vor dem Fernseher, beim Einkaufsbummel, bei der Auswahl des Urlaubsziels, im Zeitschriftenladen usw. muss man sich danach richten, worauf man Lust hat, wonach sonst? Der Handelnde erfährt sich nicht als moralisches Wesen, als Kämpfer für ein weit entferntes Ziel, als Unterdrückter mit der Vision einer besseren Welt, als Überlebenskünstler, als Träger von Pflichten. Wissen, was man will, bedeutet wissen, was einem gefällt. ‚Erlebe dein Leben’ ist der kategorische Imperativ unserer Zeit.“21

Gesellschaftliche Anerkennung, übergreifende Wertesysteme gibt es immer weniger, und so sind Menschen darauf verwiesen, die Sinnhaftigkeit ihres Lebens weitgehend selbst zu definieren und eigenverantwortlich zu leben. Wer aber stets alles selbst definieren muss, wer immer selbst wissen muss, was gut und richtig ist, muss dies letztlich auch nach außen vertreten; nicht aber in einem Diskurs, der ja ein gesellschaftlich relevanter, möglicherweise auch kontrovers geführter wäre, sondern im Stile einer dem Diskurs kaum noch zugänglichen Selbstdarstellung, ja einer Selbstinszenierung mit Ästhetisierung des eigenen Daseins.

Gleichwohl gibt es auch gesellschaftliche Hinführungen zur Erlebnisgesellschaft, die freilich letztlich immer vom jeweiligen Individuum ergriffen und insofern auch erlebt werden müssen. Ich möchte das – einigermaßen unsystematisch – an einigen Beobachtungen festmachen:

• Wenn man Erlebnis als Begriff hört und nicht soziologisch verbildet ist, dann können unterschiedliche Assoziationen mit diesem Begriff freigesetzt werden. Man könnte – so man denn unter Berufs- und Familienstress leidet – an Urlaub und Freizeit denken, wo es natürlich nicht einfach darum geht, zu entspannen, sondern Neues zu erleben; man könnte dies selbstverständlich auch noch steigern und im Stile der Camel- oder Marlboro Werbung an Abenteuer denken.

• Wer in den heissen Tagen des Sommers ein Schwimmbad besucht, möchte wohl auch schwimmen; aber doch nicht nur. Jedenfalls sollte das Schwimmbad in eine breitere Angebotskette eingebunden sein. Nicht umsonst haben seit den 70er Jahren bis heute wohl fast alle Schwimmbäder die Wandlung hin zum Erlebnisbad vollzogen.

• Sportvereine können heute mit einem konventionellen Angebot kaum noch punkten.

• Dass aber auch ein Kaufhaus selbst sich verändert hat, wird kaum noch zur Kenntnis genommen, weil es uns schon als völlig selbstverständlich erscheint, dass sich Sortiment und Inneneinrichtung hin zum Event-Shopping wandelte.

• Ein Restaurant, das etwas auf sich hält, verspricht Erlebnisgastronomie.

 

• Boutiquen werden erlebnisaktiv und

• Bahnhöfe werden zu Erlebniswelten mit Gleisanschluss. Wer in den letzten zwei Jahren einmal in Leipzig war, wird dies unmittelbar bestätigen können: die Bahn wird in diesem Bahnhof zum bloßen Beiwerk.

Selbstverständlich handelt es sich bei diesen Beobachtungen um relativ oberflächliche Phänomene der Kulturindustrie. Sie reichen nicht tief genug. Aber es gibt auch schon bei einfacher Betrachtung Weiterentwicklungen, die dann doch nicht mehr ganz so willkürlich sind. Längst nämlich hat die Kategorie Erlebnis auch Einzug gehalten in Pädagogik – Stichwort: Erlebnispädagogik – und Marketing. Ersteres ist kaum noch erläuterungsbedürftig. Hinsichtlich Letzterem hält Schulze fest: „Wurde zunächst der Gebrauchswert der Produkte in den Mittelpunkt der Präsentation gestellt – Haltbarkeit, Zweckmäßigkeit, technische Perfektion -, so betonen die Appelle an den Verbraucher inzwischen immer stärker den Erlebniswert der Angebote“22.

Galt im Zeitalter der zweiten kritischen Aufklärung, also jener Nachkriegsaufklärung der Studentenbewegung und der sie tragenden Denktraditionen noch, es sei wichtiger zu sein, denn zu haben23, dann könnte man jetzt sagen: Erleben und Sein; ich erlebe, also bin ich.

Gäbe es nur wenig auswählbare Möglichkeiten, wäre Erlebnis von vornherein begrenzt. Es ist aber gerade die Errungenschaft der Erlebnisgesellschaft, dass sie die Wahlmöglichkeiten entgrenzt hat, dass also immer mehr Optionen möglich sind, dass gar widersprüchliche Optionen fast beliebig gewählt werden können. Galt bei Luther auf dem Reichstag in Worms noch das ihm wenigstens zugesprochene Wort: hier stehe ich, und ich kann nicht anders, so gilt heute: hier stehe ich – ich kann auch ganz anders. Alles ist wählbar. Hans-Joachim Höhn beschreibt dies so:

„Die einschlägige Semantik umfaßt die ‚Berufswahl’ und ‚Partnerwahl’. Gewählt werden können Wohnort und Zigarettenmarke. Gewählt wird am PC aus einem Menü per Mausklick ein Computerspiel, ein Programm zum Ausfüllen der Einkommenssteuererklärung oder ein elektronischer Fahrplan für Intercity-Züge. Die Wahlsituationen reichen von der Möglichkeit, per Leser- bzw. Zuschauerpost oder durch das rechnergesteuerte TED-System, in dem Telefonanrufe ausgewertet werden, bei der Wahl von Sportlern und Unternehmern, Büchern und Autos ‚des Jahres’ abzustimmen, die Ranglisten von Hitparaden zu beeinflussen oder auf diese Weise zum Jurymitglied des ‚Grand Prix d’Eurovision de la Chanson‘ zu werden. Per Tastendruck zappt man durch mehrere Dutzend Fernsehprogramme und liefert auf diese Weise einen späten Beleg für die aristotelische These vom ‚unbewegten Beweger’ als ontologischer Letzt- oder Restgröße…“24

Selbstverständlich aber ist diese Vielfalt keineswegs eine Entlastung. Denn wer wählen kann, der muss sich auch entscheiden. Wenn das Angebot aber zu groß ist, fallen Entscheidungen umso schwerer. Wenn darüber hinaus die Wahlmöglichkeiten im tieferen Sinne nur scheinbar Alternativen repräsentieren, wenn also unter dem Schein eines breiten Angebotes doch nur stets das Gleiche angeboten wird, ist gar die Wahlmöglichkeit nicht mehr gegeben. Verdeutlichen kann man dies am Fernsehprogramm, das letztlich Nietzsches These von der Wiederkehr des Gleichen bestätigt. Dies wird natürlich noch dadurch verstärkt, dass in vielen Haushalten in den verschiedenen Zimmern der Familienmitglieder ebenfalls Fernseher stehen und, auf denen jeweils das Gleiche läuft.

Eine der Folgen, die für uns wichtig sind, ist die Wirkung auf die konkreten Subjekte hinsichtlich ihrer eigenen Wahl- und Entscheidungsfähigkeit und der damit einhergehenden psychischen Veränderungen. Lag nämlich in früheren Situationen der wesentliche Druck auf äußeren Gegebenheiten, so wächst nunmehr der innere Orientierungsdruck. „Durch die Zunahme der Optionen wird das Subjekt zwar immer mehr auf sich selbst als wählende Instanz zurückverwiesen. Mit dem Entscheidungsbedarf wächst freilich auch der Orientierungsbedarf, so daß an die Stelle des äußeren Orientierungsdrucks der innere tritt“25. Ich darf wählen – kann ich es denn auch; und wie erkläre ich meine Wahl vor mir selbst? Noch einmal Schulze:

„Je weiter der Spielraum wird, je mehr Möglichkeiten man hat, desto mehr tritt an die Stelle der alten Frage ‚Was kann ich tun?’ die neue Frage ‚Was will ich?’. Nun wendet sich der Blick von außen nach innen, von der Situation auf das Subjekt. Um das Glück zu beschreiben, bedienen wir uns einer neuen Terminologie. In den alten Glücksmodellen dominierte die Außenperspektive: der Reichtum, die sichere Position, der Titel, die gute Partie, die prächtig gediehenen Kinder, das Göttliche in der Kunst. All dies kommt auch noch in den neuen Glücksmodellen vor, aber nicht als Hauptsache, sondern nur als Mittel zum Zweck. […] Im Zentrum steht die Art und Weise, wie man das Leben erlebt, wie man sich fühlt. Faszination, Spannung, Entspannung, Ekstase, Gemütlichkeit, auf keinen Fall Langeweile – so und ähnlich stellen wir uns das schöne Leben vor.“26

Viele andere Beobachtungen wären im Anschluss an Schulze noch erwähnenswert. Es lohnt aber auch, sich ein paar Ergebnisse neuerer Milieuforschung anzuschauen. Dabei ist für die Überlegungen der Kirche eine Studie besonders wichtig geworden, die sog. Sinus-Milieustudie27, in der auf der Basis der zehn von sinus-sociovision entwickelten Milieus überprüft wurde, in welchen die Kirche wie stark vertreten ist, bzw. wie diese konturiert sind. Die Ergebnisse dieser Studie sind zwar – auch aufgrund der Erkenntnisse von der These der Erlebnisgesellschaft – nicht sehr überraschend, haben aber innerhalb der katholischen Kirche für hinreichend Aufmerksamkeit28 gesorgt, denn die Kirche ist nach den Ergebnissen der Studie nur noch in drei Milieus überhaupt signifikant wahrnehmbar vertreten, in sieben findet sie kaum Resonanz29. Das bedeutet natürlich, dass die Kirche viele Menschen gar nicht mehr erreicht. Allerdings ließe sich das Ergebnis auch umgekehrt formulieren: In allen zehn Milieus ist die Kirche präsent. Allerdings in sehr unterschiedlicher Dichte und Identifikation. Der Trend zur Milieuhomogenität wird noch verstärkt durch die tendenziell ähnliche Milieugebundenheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der pastoralen Praxis, was wiederum dazu führt, stets nur gleiche oder ähnliche Milieus anzusprechen. Gerade an dieser Problematik wird deutlich, wie sehr die Kirche in der Bundesrepublik eine Binnenperspektive eingenommen hat und sich wesentlich mit Gleichen auseinandersetzt, wie sie sich vorab schon aus Gleichen oder wenigsten Ähnlichen bildet. Hier ist Öffnung von Nöten. Hier wäre auch die Frage zu stellen, ob nicht die Art der Ausbildung hauptamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Laien wie Priester, reformiert werden müsste, um Menschen, die gleichsam quer zu den klassischen Milieus stehen, eine Position in der Kirche zu ermöglichen. Auch wäre zu fragen, welche Deutungssysteme und Wahrnehmungsstrukturen, welche Inhalte und Hoffnungen vor allem bei jenen Milieus vorzufinden sind, die nicht im Zentrum kirchlichen Handelns stehen.

So wichtig die Ergebnisse der Studie für eine Neuausrichtung der Pastoral auch sein mögen, indem die Kirche aufgefordert wird, sich aus der reinen Binnenperspektive zu verabschieden und sensibel zu werden für andere, bislang kaum wahrgenommene Lebenswirklichkeiten und –perspektiven, sich in ihren Handlungsmöglichkeiten mehr an den Bedürfnissen der Menschen zu orientieren, uvm. Es bleibt doch die Frage, ob nicht in der Grundausrichtung der Studie und der dahinter liegenden Motivationslage sich nicht eine zu starke Marktorientierung verbirgt, die aus Christenmenschen Kunden, aus pastoralem Handeln Angebote und aus einer Situationsvergewisserung einen „Marktlagebericht“30 macht. Gewiss, Kirche befindet sich auch auf dem Markt der Sinnangebote, sie kann sich ihm gar nicht entziehen, darf ihm aber gleichwohl auch nicht bedingungslos Tribut zollen, dazu ist ihre Botschaft zu widerspenstig; ja gegenüber der allzu willfährigen Einbindung in Tauschrationalitäten sogar extrem kritisch. „Denn in dieser Botschaft geht es um Umkehr und Erlösung, um Tod und Auferstehung der Leidenden […] und nicht um das schöne, reiche Leben des spätestens gegen die Armen und Kranken erbarmungslosen Marktes.“31 Diesem Dilemma entgeht die kirchliche Praxis nur, wenn sie die Dialektik von Botschaft und Marktverwiesenheit dahingehend bearbeitet, dass sie nie dem reinen Marktdenken sich unterwirft, dass sie aber andererseits ihre Frohbotschaft für Arme, Kranke, Leidende (vgl. Lk 4,18) in Handlungsangebote, Visionen, Praxisformen überträgt, die sich auch auf dem Markt behaupten können.

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