Entpuppt

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Imprint

Entpuppt

Copyright: © 2013 Katrin Fölck

Published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN: 978-3-8442-7583-4

Titelbild: © Zametalov / Shutterstock.com

Ich heiße Miriam Friedrich. Das ist mein Name.

Doch er ist mir fremd geworden, bedeutungslos.

Diesen, meinen richtigen, Namen werden meine Lippen nur noch ein einziges Mal formen.

Ich werde mir ein allerletztes Mal anhören, wie er ausgesprochen klingt, um ihn dann für immer aus meinem Gedächtnis zu streichen.

Warum ich das tue?

Zu meinem eigenen Schutz.

Und dies ist meine Geschichte:

1

Als sie mich finden, bin ich nackt. Fast jedenfalls. Denn das, was von meinem dünnen Sommerkleid am Ende übrig geblieben ist, hängt mir zerrissen nur mehr als Streifen am Leib.

Ich bin bei vollem Bewusstsein. Nein, so kann man das eigentlich nicht sagen. Ich bin bei mir. Das trifft es eher.

Denn ich weiß nicht, was ich hier mache.

Warum ich hier bin.

Warum ich im Wasser liege.

Ich bekomme alles, was um mich herum geschieht, mit. Es ist dunkel. Finstere Nacht. Ich sehe Lichter: blaue, weiße, rote – einige flackern, andere blenden mich, wenn sie zu grell sind und meine Augen treffen. Ich liege auf dem Rücken, auf dem Boden. Im Sand.

Ein Polizist zieht seine Uniformjacke aus und versucht, mich notdürftig zu bedecken, um mich so vor den Blicken der Neugierigen, die sich langsam um mich herum ansammeln, zu schützen. Nach einiger Zeit kommt ein Rettungsassistent, der mich in eine Decke hüllt, um mich etwas zu wärmen. Ich liege halb im Wasser, Wellen brechen sich an meinen Beinen.

Mein Blick ist starr in den Himmel gerichtet, er ist schwarz, ohne Sterne, was ich aber nicht wahrnehme. Ich habe keinerlei Empfindungen. Ich friere auch nicht, obwohl der Wind in starken Böen das Wasser aufpeitscht. Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren.

Ich spüre keinerlei Schmerzen, obwohl doch eine rote Flüssigkeit klebrig mein Gesicht herab rinnt und sich rings um mich ansammelt. Das musste Blut sein. Mein Blut. Und wenn schon – es ist mir egal. Genauso wie das hektische Treiben um mich herum.

Einige Satzfetzen dringen zu mir durch: „Wer hat sie gefunden?“ „Weiß man schon, was passiert ist?“ „Unfall?“ , „Ein Selbstmordversuch?“

Sieht ziemlich schlimm aus…“ Ich höre die aufgeregten Stimmen mit gelassener Gleichgültigkeit, es interessiert mich nicht, von wem die da sprechen oder um was es geht. Unentwegt laufen Polizisten und Rettungskräfte hin- und her.

Irgendwann werde ich auf eine Trage gehoben und in einen Rettungswagen befördert. Da liege ich nun, den Blick reglos nach oben an die Decke gerichtet, während die Lichter der Straßenlampen oder der beleuchteten Fenster der Stadt an den Scheiben des Rettungswagens vorbeihuschen, immer im Wechsel von Dunkelheit und Licht, Dunkelheit und Licht. Während der Fahrt zum nächst gelegenen Krankenhaus hält ein junger Mann mir die Hand und versucht, beruhigend auf mich einzureden. Aber ich bin ruhig. Völlig ruhig. Beunruhigend ruhig.

Ich habe keine Angst. Wovor auch? Vorm Sterben? Beinahe hätte ich laut los gelacht: Alle scheinen sich offensichtlich um mich zu bemühen, doch die Situation kommt mir so surreal vor. Ich liege nur da, fast wie eine Puppe, denke ich. Plötzlich spüre ich doch etwas: einen kurzen Einstich. Ich wende mich ab und werde mir meiner Situation langsam klar. Dann falle ich ins Dunkel.

Ich fühle mich schwerelos frei, mein Körper wird von den Wellen getragen und schaukelt in ihren Wogen auf und ab, meine Haare schwimmen wie Seetang im Wasser. Mein Blick gen Himmel gerichtet, sieht keine Sterne. Er ist so schwarz und dunkel, wie meine Empfindungen für mein Leben. Ich bin Eins mit dem Wasser. Ganz leicht, es wirkt gar nicht bedrohlich. Langsam merke ich, wie ich untergehe. Ich kämpfe nicht dagegen an. Ich lasse es einfach geschehen…

2

Absolute Dunkelheit umgibt mich. Dunkelheit und Stille. Friedvolle Stille. Ich empfinde behagliche Wärme. Es fühlt sich an, wie auf Wolken. Liege ich oder schwebe ich? Bin ich tot?

Nein. Ich höre ganz deutlich, wie ich atme: Ein, aus, ein, aus.

Ich spüre, wie sich mein Brustkorb hebt und senkt.

Also bin ich am Leben.

Oder ist das Ganze nur ein Traum? Gaukelt mir mein Gehirn nur vor, dass ich noch lebe, weil ich nicht gehen will?

Ist es so, wenn man stirbt?

Jetzt fühle ich etwas. Doch fühlen ist nicht das richtige Wort dafür, was dann über mich hereinbricht:

Schmerzen. Höllische Schmerzen. Ein kaum auszuhaltender Druck in meinem Kopf, als würde er gleich auseinanderplatzen. Und Brennen - wie tausend Nadelstiche auf meiner Haut: im Gesicht, an Händen, Armen und Beinen.

Dann ist alles nur noch Schwarz.

Am Anfang ist wieder nur Dunkelheit. Sie ist ganz um mich herum. In ihr kann ich mich verstecken. In ihr fühle ich mich sicher. Geborgen. Verborgen. Sie ist Eins mit mir. Da ist keine Angst. Keine Unsicherheit. Erst wenn die Komponente Licht hinzukommt, werde ich sichtbar. Angreifbar. Verletzbar. Dann bin ich der Welt wieder ausgeliefert.

Als ich zu mir komme und die Augen öffne, ist es mir viel zu hell. Die Helligkeit trifft mich völlig unvorbereitet und sticht schmerzhaft in meinen Augen. Reflexartig und zu derer Schutz schließe ich sie wieder. Ich zögere, doch die Neugier in mir lässt sie mich wieder öffnen. Ganz leicht nur. Wo bin ich? Durch diesen kleinen Schlitz hindurch sehe ich, dass ich in einem Bett in einem hellen, Licht durchflutetem Zimmer liege. Um mich herum stehen Apparaturen mit verschiedensten Anzeigen und Ständer mit Infusionen. Ein Gerät gibt seit geraumer Zeit einen aufdringlichen Dauerton ab, der unaufhörlich in mein Gehör kriecht. Ich habe immer noch ein Klingeln im Ohr. Selbst dann noch, als eine Frau in weißem Kittel ins Zimmer geeilt kommt, sich kurz über mich beugt und die Maschine abstellt. Meine Reaktion ist nicht unbemerkt geblieben, denn irgendetwas hatte der Frau in Weiß wohl angezeigt, dass ich, die Patientin von Zimmer 203, wieder da bin.

Gleich nach ihr betritt ein älterer Herr mit schütteren, schon recht grauen Haaren, den Raum. Er stellt sich seitlich an mein Bett, leuchtet mir mit einer Art kleinen Taschenlampe in beide Augen, blickt dann auf die Anzeigen der Geräte und stellt sich mit den Worten: „Hallo, da sind Sie ja wieder. Ich bin Dr. Paulsen. Sie sind hier im Krankenhaus“, vor. Er hält inne und wartet auf eine Reaktion. Eine Reaktion meinerseits.

Es kommt aber keine.

„Wir haben leider keinerlei Papiere bei Ihnen gefunden“, setzt er nach. „Können wir vielleicht jemanden benachrichtigen?“ Er verharrt wieder einen Moment, damit ich genug Zeit habe, nicht nur die Worte zu vernehmen, sondern auch aufzunehmen und wenn möglich, ihm darauf zu antworten. Er fährt fort: „Wissen Sie, wer Sie sind, was passiert ist?“

Ich fühle mich zunehmend unbehaglich, irgendwie in die Enge getrieben. Ich habe keine Lust auf Konversation und schließe meine Augen. Ich will einfach nur meine Ruhe haben – konnte das denn niemand verstehen?

„Haben Sie Schmerzen?“ vernehme ich die Stimme des Arztes wie aus weiter Ferne. Da habe ich mich bereits wieder zurückgezogen in meine Welt, die der Stille und des Friedens, in den Schutz der Dunkelheit. Da ich nicht reagiere, dreht er sich Hilfe suchend nach der Schwester um. Diese zuckt ein paar Mal mit den Schultern und schüttelt bloß kurz mit dem Kopf: „Die Blutwerte und Vitalfunktionen sind alle in Ordnung.“ Damit verlässt sie den Raum. Dr. Paulsen bleibt noch einen Moment bei mir, der Patientin. Sein Blick streift die weißen Verbände an Kopf, Armen und Beinen, durch die ich noch zerbrechlicher wirke in meiner und die mich umgebende Blässe. Sein Pieper setzt plötzlich ein: Er wird anderweitig gebraucht. Kurze Zeit später ist er bereits wieder so intensiv in seine Arbeit vertieft, dass er mich, die eigenartige Patientin, vergessen hat.

-----

Vergessen, ja das war auch mein Ansinnen gewesen, bevor der Unfall oder was auch immer mit mir geschehen war, passierte. Aber das war mir mittlerweile ebenso entfallen. Ich erinnere mich an nichts mehr. An gar nichts.

Was hatte der Arzt gefragt? Wissen sie, wer sie sind?

Was sollte diese törichte Frage? Wollte er mich der Lächerlichkeit preisgeben?

Natürlich weiß ich, wer ich bin…

Ich versuche, über den Satz nachzudenken und über mich. Es gelingt mir nicht. Es ist mir nicht mehr möglich, überhaupt noch einen Gedanken zu fassen.

Diese unerträglichen Kopfschmerzen!

Panik kommt in mir auf – es ist, als stecke ich in einem Sack und bekomme keine Luft. Irgendetwas versucht, mein Herz abzudrücken – es hämmert jetzt schon so laut in meinem Kopf, bald würde es heraus springen.

Das musste doch irgendjemand hören?

H i l f e.

Mein Herzschlag dröhnt, mein Puls rast und steigt – die Krankenschwester von eben kommt ins Zimmer gerannt und beugt sich über mich. Wieder spüre ich einen kurzen Einstich in meinen Arm. Ich denke immer noch darüber nach:

Wer bin ich? Der Satz entgleitet mir, meine Glieder werden schlaff.

Keine Schmerzen mehr.

Nicht mehr fühlen müssen.

Dann umfängt mich wieder tiefe Finsternis.

 

3

Die Dunkelheit hat sich inzwischen ganz in mir eingenistet. Ich horche in mich hinein. Da ist nichts. Rein gar nichts. Unvorstellbare Leere. Wie ein Vakuum. Wann ist das passiert?

Ich bin nur noch eine lebende Hülle.

Mein Herz schlägt.

Ich atme.

Ich sehe.

Ich höre.

Ich denke.

Doch ich reagiere nicht, fühle nichts, außer meinen Schmerzen, und ich sage nichts.

-----

Es ist hell, als ich wieder aufwache. Ich mag die Helligkeit nicht. Denn durch sie werde ich sichtbar, fühle mich ausgeliefert. Und irgendetwas ist in mir und kriecht weiter und weiter, bis es ganz von mir Besitz nimmt.

A n g s t. Aber wovor? Ich weiß es nicht. Ich fühle nur, wie mein Herz ganz laut in meinem Hals schlägt. Bis nur noch dumpfes Hämmern in meinem Kopf ist und es mir die Luft nimmt.

Mal ist es hell, mal ist es dunkel. Immer wieder, wenn ich aufwache, bin ich darüber verwirrt. Ich habe kein Gefühl für Zeit. Ich weiß nicht, wie viel davon vergangen ist. Ich döse dämmernd vor mich hin, versinke in diesem seltsamen, immer wieder kehrenden Traum, in dem ich im Wasser schwebe, und lasse mich einfach treiben.

Manchmal habe ich auch einen anderen Traum:

Ich liege angeschnallt auf einer Trage im Rettungswagen. Das Krankentransportfahrzeug ruckelt auf dem Kopfsteinpflaster. Das Licht, welches durch die Seitenfenster ins Innere herein dringt, wechselt von dunkel in hell, dunkel in hell. Ein junger Mann sitzt neben mir und hält mir die ganze Zeit über beruhigend die Hand. Aber ich bin ruhig. Seltsam ruhig. Beunruhigend ruhig…

Ich bekomme nichts davon mit, wie Ärzte und Schwestern mein Zimmer betreten, meine Verbände wechseln, mich waschen, einen neuen Tropf in den Ständer hängen, nach mir sehen, und es wieder verlassen.

Es ist hell, dann wieder dunkel. Jeder Tag vergeht in gleicher Monotonie. Jeder ist gleich lang. Genau vierundzwanzig Stunden. Nur liegen, wachen, dösen und wegdämmern. Die gleichen Geräusche, die gleichen Gerüche, die gleichen Abläufe. Nur die Gesichter wechseln und die Träume.

Glasklares Wasser, in dem sich die Wolken spiegeln. Ein Kanu. Die Ruder verursachen beim Eintauchen platschende Geräusche. Meine Hände im eiskalten, klaren Wasser hinterlassen links und rechts wirbelnde Wellen…

Wochen vergehen so. In unendlicher Gleichmäßigkeit. Zeit spielt keine Rolle. Für mich sowieso nicht. Ich liege einfach nur da. Ich nehme weder den beißenden, stechenden Geruch der Desinfektionsmittel, noch die gedämpften Gespräche und Fachsimpeleien der Spezialisten, die sich mit meinem Fall befassen, noch das Nachschwingen der Türen draußen im Gang oder die vorbeieilenden Schritte des Personals wahr. Geräusche von Außen dringen nicht zu mir durch. Ich bin in meiner eigenen Welt versunken. Alles, was um mich herum geschieht, lasse ich nicht an mich heran.

Ich liege eingehüllt wie in einem Kokon, nur dass Schläuche mit all dem, was mich am Leben erhält, hinein und wieder heraus gehen. Ich liege in völliger Bewegungslosigkeit. Mein Körper ist meine Außenhülle und die Grenze, die niemand überschreiten kann, wenn ich es nicht will, und schützt mich vor der Außenwelt. Hier hinein habe ich mich selbst zurückgezogen. Hier kann mir nichts passieren. Ich bin unantastbar. Hier bin ich sicher.

-----

Ich mache keinerlei Fortschritte, außer dass meine äußeren Verletzungen mit der Zeit heilen. Die Ärzte und Schwestern, die mit mir zu tun haben, sprechen über mich längst nur von der „Patientin von Zimmer 203“. Dies bekomme ich jedoch nicht mit, denn ich spreche nicht, und man vermeidet es, in meiner Gegenwart über mich zu sprechen. Es wäre ja möglich, dass ich alles verstehe. Man weiß nichts über mich, und ich unternehme auch nichts, dies zu ändern.

4

„Und es gibt wirklich niemanden, von dem sie vermisst wird?“ fragt Dr. Schaller, die Dienst habende Ärztin der Station, ungläubig Kommissar Franck, der gerade von seiner nunmehr dritten erfolglosen Befragung aus dem Krankenzimmer der unbekannten Patientin auf den Klinikgang tritt.

„Der Fall ist wirklich merkwürdig“, antwortet ihr Kommissar Franck ernst, „niemand, wirklich niemand, hat sich bis jetzt nach ihr erkundigt.

Könnte auch gut sein, dass sie keine Deutsche ist“, sinniert er gedankenverloren. „Hat sie in der Zwischenzeit gesprochen? Mit jemandem vom Krankenhauspersonal vielleicht?“ fragt er die junge Ärztin, worauf diese den Kopf schüttelt: „Nein, nicht, dass ich wüsste.“ Nach ein paar weiteren Schritten auf dem Flur entlang entgegnet sie ihm: „Wir haben sie außerordentlich gründlich untersucht. Doch auch wenn ihre Kopfverletzungen ziemlich schwer waren, müsste sie jetzt, nach sechs Wochen, wieder in der Lage sein, sich auszudrücken oder wenigstens irgendeine Reaktion zeigen. Doch selbst diese blieb bisher aus.“ Sie schüttelt den Kopf: „Rein gar nichts. Alles, was wir bisher versucht haben, blieb ergebnislos.“

Der Kommissar zögert. Eigentlich wartet noch jede Menge Arbeit in seinem Büro auf ihn, andererseits würde diese auch nicht weglaufen und er lieber noch etwas Zeit mit der hübschen Ärztin verbringen. Deshalb ist er froh, dass sie mit ihrem Gespräch fortfährt: „Sie sah wirklich schlimm aus, damals…“. Kommissar Franck bleibt erstaunt stehen: Ich wusste gar nicht, dass Sie bei ihrer Einlieferung auch zugegen waren?“

„Ja, da müssen Sie mich wohl übersehen haben, Herr Kommissar“, sagt die Ärztin. Es klingt spöttisch. Er sieht sie von der Seite her an. Flirtete sie gerade mit ihm? Doch Dr. Schaller greift sofort das Thema ihrer vorherigen Unterhaltung wieder auf: „Die Patientin hatte gar nichts dabei – keine Sachen, keine Schuhe, keine Uhr, keinen Schmuck, keine Papiere. Nichts, wodurch eine Identifizierung möglich gewesen wäre.“ „Und auch kein Tatoo…“, wirft der Kommissar ein. „Ein Tatoo?“ Die Ärztin klingt sichtlich überrascht. „Ein Tatoo ist gar nicht so selten heutzutage. Na ja, auch eine Tätowierung kann Aufschluss über eine Person geben. Man kann nachforschen, wo sie gemacht worden ist und von wem.“

„Kann man ausschließen, dass es kein Unfall war, die Patientin sich umbringen wollte?“ „Nein.“ Der Kommissar schüttelt den Kopf: „Ausschließen kann man auch das nicht. Wie Sie wissen, ist die Frau am Strand gefunden worden. Man ist immer von einem Unfall ausgegangen, dass sie an den Klippen abgerutscht sei – so zerschrammt und abgeschürft ihr Körper war. Sie hat wohl noch versucht, sich, so lange wie es ihr möglich war, an einem Strauch festzuhalten. Und als sie die Kraft verließ, ist sie den Hang herunter gerutscht, und Geröll, Steine, Kiesel und Sand haben dann ihre Arbeit verrichtet.“ Nach einer Pause setzt der Kommissar nach: „Ich glaube dies, im Gegensatz zu meinen übrigen Kollegen, jedoch nicht. Doch, so lange nichts anderes bewiesen ist oder die Patientin nicht selbst darüber Auskunft geben kann, sind das nur reine Spekulationen.“

Abermals entsteht eine kurze Pause. „Vielleicht hat sie einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen und dadurch gefallen, oder sie ist von jemandem den Hang hinab gestoßen worden?“, gibt ihm Dr. Schaller zu bedenken. „Ja, auch das wäre möglich“, antwortet er ihr. „Und derjenige wird schön die Füße still halten und nicht gerade die Hunde scheu machen und nach ihr suchen lassen…“

„Ich weiß nicht“, sinniert er, „das ist auch nur eine weitere These. Ich glaube, jetzt geht wohl doch Ihre Phantasie mit Ihnen durch“, lacht er. „Und wieso denken Sie, dass sie sich umbringen wollte?“ lässt die Ärztin nicht locker.

„Nun“, hebt der Kommissar an, „die Patientin hatte keinerlei Gegenstände dabei, womit sich ihre Spur zurückverfolgen ließe. Das ist schon sehr ungewöhnlich. Somit muss man davon ausgehen, dass sie das so wollte, das so geplant hatte. Sie war ohne Sachen am Strand von einem späten Spaziergänger aufgefunden worden, der seine beiden Hunde ausführte. Ich denke, sie ist ins Wasser gegangen, um ihr Leben zu beenden. Sie hat aber nicht bedacht, dass die Strömung sie zwar aufs Meer zieht, aber der Gegensog in der Bucht so stark ist, dass sie wieder aufs Land zurück gespült wird. Ich denke auch, dass sie nicht aus der Gegend stammt, denn alle, die hier wohnen, wissen das.

Man hat keinerlei Fahrzeug gefunden, keinen in der Nähe abgestellten Pkw und auch kein Fahrrad. Irgendetwas in der Art. Nichts. Also, wie ist sie an den Strand gekommen? Wenn sie Urlauberin war, musste sie in einer Pension oder in einem Hotel angemeldet sein.

Ihre Abschürfungen am gesamten Körper stammen vom Hin- und Hergleiten mit der Wellenbewegung im flachen Wasser. Sand und Kiesel auf dem Boden müssen dabei gewirkt haben wie Schmirgel. Vorher muss sie sich jedoch irgendwo den Kopf angestoßen haben. Dann ist sie wahrscheinlich bewusstlos mit den Wellen hin- und hergetrieben, bis sie zurück an den Strand gespült wurde.“

Er sieht die Ärztin fest an. Hatte er ihr zu viel offenbart? Das war ihm noch nie passiert. Sie machte ihn sichtlich nervös. Er sollte auf der Hut sein. Aber andererseits: Wem hatte er mit seiner Offenheit über seine Meinung geschadet? Eigentlich konnte dies für die unbekannte Patientin nur von Nutzen sein, wenn Dr. Schaller auch in die andere Richtung dachte.

So hatte sie das wahrscheinlich noch gar nicht betrachtet. Ein ganz anderer Blickwinkel. Ja, aber auch das war eine plausible Erklärung für die Verletzungen der Patientin und was geschehen sein könnte. Doch was sollte sie sich weiter darüber den Kopf zerbrechen? Schließlich war es seine Arbeit. Und sie hatte ihre. Irgendwann würde die Wahrheit schon heraus kommen.

„Meine Pause ist zwar gleich vorbei. Aber ein paar Minuten habe ich noch. Vielleicht könnten wir in der Cafeteria noch einen Kaffee trinken gehen? Was denken Sie?“ Kommissar Frank ist überrascht. Doch dann nickt er erfreut: „Sehr gern. Aber dann lade ich Sie ein“.

-----

Schweiß perlt auf meinem Gesicht, der ungewohnten Kraftanstrengung wegen. Ich keuche und muss einen Moment innehalten, um wieder zu Luft zu kommen. Mir ist schwindlig. Bloß nicht hinab blicken! Ich bin nicht höhentauglich. Überhaupt nicht. Oben angekommen, werde ich von starkem Wind empfangen. Er heult und reißt an meinen langen Haaren. Ich f a l l e ins Bodenlose.

Noch mit dem Gefühl des Fallens schrecke ich hoch. Ich bin erstaunt und doch zugleich auch erleichtert, als ich mich in meinem Bett wieder finde und mir gewahr wird, dass dies ein Traum war. Doch irgendwie fühlte er sich erschreckend real an. Wie der Schwindel. Kam das von den Tabletten, die ich bekam?

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?