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Copyright: © 2013 Katrin Fölck

Published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN: 978-3-8442-7585-8

Titelbild: © White Room/Shutterstock.com

1

„Mist, verdammter!“ Der Motor seiner Maschine stottert wieder. Er reißt am Gasgriff. Doch das macht es nur noch schlimmer. Hatte er etwa vergessen, zu tanken? Oder hatte Marqez wieder heimlich ein paar Runden auf seinem Bike gedreht? Er sieht auf die Tankanzeige. Da scheint jedenfalls alles in Ordnung zu sein. Trotzdem bekommt die Maschine keinen Sprit mehr. Wieder setzt der Motor kurz aus. Nach einigen Metern ist es ganz vorbei. Er lässt sich ausrollen. Das kann doch nicht wahr sein, denkt er, dass er hier, mitten in der Pampa, stehen bleibt! Und weit und breit keine Menschenseele. Er bleibt noch einen Moment auf seiner Maschine sitzen und wischt sich mit dem rechten Jackenärmel den Schweiß, der ihm mittlerweile von der Stirn ins Gesicht rinnt, weg. Dann erhebt er sich und stellt die Maschine auf den Ständer. Auch heute war er auf seinem Motorrad unterwegs, um der Enge und Eintönigkeit seines Lebens mal kurz zu entfliehen, den Kopf wieder freizubekommen, das Gefühl von Freiheit zu spüren, dass er viel zu selten hat. Dabei kann er die Stille und die Weite genießen, die sich ihm eröffnet, bis hin zum Horizont. Doch jetzt wird ihm die Ausweglosigkeit seiner Situation klar, denn hier gibt es nur Felsen, Steine, Geröll und Staub. Verdorrtes Gras, umgeben von grünen Bergformationen und ab und an Palmen und einzelne Kakteen. Und die Sonne, die unbarmherzig brennt. Hier ist er wirklich aufgeschmissen. Er weiß, er muss zurück in die Zivilisation. Und das heißt, sein Motorrad bis zur Autopiste schieben.

Von weitem kommt eine Staubwolke auf ihn zu: Er sieht, sie gehört zu einem Wagen, der mit hoher Geschwindigkeit dem Straßenverlauf folgt. Hoffnung keimt in ihm auf. Als der Wagen näher kommt, erkennt er, dass es ein offener Wagen ist. Auf der Rückbank sitzen drei außerordentlich hübsche Mädchen. Er erhascht einen kurzen Blick auf sie, als das Auto vorüber fährt. Ihre langen Haare wehen im Fahrtwind. Sie lachen und machen sich lustig über ihn. Er hört sie rufen: „He Süßer. Deine Braut will wohl nicht so wie du, was? Hat sie dich im Stich gelassen?“ Wieder Gelächter.

Enttäuscht darüber, dass er von denen keine Hilfe erwarten kann, hockt er sich erneut neben sein Motorrad. Und wird voll von der Staubwolke, die sie hinter sich herwirbeln, eingehüllt. Er kneift die Augen zusammen und hustet.

Dann, ungefähr zwanzig Meter weiter, stoppt der Wagen urplötzlich.

Er hört eins der Mädchen sagen: „He, David, fahr doch mal zurück. Wenn wir ihm schon nicht helfen können, vielleicht können wir ihn wenigstens irgendwohin mitnehmen?“ Der Fahrer setzt zurück und bleibt in Höhe des Motorrads stehen.

„Hallo?“ vernimmt er die Stimme einer der Drei vom Rücksitz: „Kannst du uns verstehen? Comprente mi?“ versucht sie sich jetzt auf spanisch. Er blickt hoch zu ihr und muss, ihrer Sprachversuche wegen, grinsen. Er nickt. „Hast du Panne?“ Er nickt wieder. Er sieht sie länger an. Sie ist schön, denkt er. Wie ein Model. Sie wird ungeduldig. Warum kann er ihr nicht ordentlich antworten? Sie wird sauer, als sie bemerkt, dass er sie mustert: „Sollen wir dich irgendwohin mitnehmen?“ Er schüttelt den Kopf. Seine Maschine würde er hier draußen bestimmt nicht alleine zurücklassen. Die würde er nie wieder sehen. „Dann eben nicht! Idiot!“ Sie fahren los, wieder eine Staubwolke hinter sich herziehend. Diesmal sieht er ihnen nicht hinterher.

Er weiß, was jetzt auf ihn zukommt. Ihm bricht der Schweiß aus, schon beim bloßen Gedanken daran, welche Kraftanstrengung bei der Hitze und dem Gewicht seiner Maschine ihm bevorsteht. Aber er muss zur Autostraße, denn nur dort kann ihm irgendjemand helfen oder ihn vielleicht sogar jemand mitnehmen. Also klappt er mit dem Fuß den Seitenständer hoch und setzt sich in Bewegung.

Es geht nur langsam voran. Das Motorrad ist schwer und es ist heiß. Bestimmt an die 33 Grad. Die Sonne brennt. Immer wieder wischt er sich den Schweiß vom Gesicht. Und seine Boots reiben. Als er das nächste Mal stehen bleibt, um kurz auszuruhen, wirft er einen Blick auf seine Armbanduhr: In einer dreiviertel Stunde sollte er besser in „Carlos`n Charlie`s“

Restaurant in Punta Diamante hinterm Tresen stehen. Wenn er Glück hat, könnte er es noch pünktlich schaffen.

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Sein Hemd ist mittlerweile klatschnass geschwitzt und klebt an seinem Rücken. Er hat sich Blasen gerieben. Daran sind die schweren Lederstiefel Schuld. Als endlich Hilfe in Form eines Eselkarrens naht und neben ihm anhält, ist er völlig fertig. Doch die Freude wird sofort durch die Erkenntnis getrübt, dass sie sein Motorrad unmöglich auf die Ladefläche des Hängers hieven können. Der Bauer mit seinem Eselgespann will ihm dennoch helfen und schlägt vor, er könne sich ja seitlich an dem Anhänger festhalten. So machen sie es dann. Wenn die Esel nicht bocken, könnte es klappen. Er hält sich mit der linken Hand hinten am Anhänger fest und versucht, auf seiner Maschine sitzend, Balance zu halten. Es bedarf höchster Konzentration beider. Der Kutscher muss sein Gespann möglichst ruhig in der Spur halten und die Esel mit gleich bleibender Geschwindigkeit laufen lassen und er seinerseits jeden kleinen Schlenker dabei ausgleichen.

Er lässt sich zu Juan in die Werkstatt bringen. Der vermutet sofort, dass irgendetwas mit dem Vergaser nicht in Ordnung ist. Er kann nur hoffen, dass die Reparatur nicht so teuer wird. Dem Bauern dankt er für dessen Hilfe und steckt ihm noch einige Pesos zu. Dieser winkt zum Abschied überschwänglich.

Um den Schweiß abzuwaschen und sich etwas zu erfrischen, was bei einer Wassertemperatur von achtundzwanzig Grad nicht wirklich möglich ist, geht er kurz in die Fluten. Er lässt sich von Juan mit dem Chevy zum Restaurant fahren. Seine Haare sind noch nass, und er hat auch keine Zeit mehr, sich Zuhause umzuziehen. Er fragt einen der Kellner, ob dieser ihm ein weißes Hemd und eine schwarze Hose leihen könne. Und obwohl er keine Begeisterung in dessen Blick lesen kann, reicht der ihm die Sachen doch noch. Schnell zieht er sich um und wirft einen prüfenden Blick in den Spiegel. Dann streift er sich übers Haar, zieht es straff nach hinten und bindet es zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammen. Das musste ausnahmsweise mal so gehen. Zum Glück ist sein Boss heute nicht hier. Der hätte ihm seines Aussehens wegen die Hölle heiß gemacht oder ihn gleich gefeuert. Aber er braucht das Geld. Und zwar dringend.

2

Aus der hinteren Ecke des Restaurants schallt lautes Gelächter. Sicherlich Touristen. Er sieht zu ihnen hinüber. Er weiß, dass sie des guten Essens wegen und des umwerfenden Angebotes an Speisen hierher kommen. Und außerdem haben sie die Wahl zwischen dem Essen, was sie kennen, oder aber auch einer riesigen Auswahl an typisch Mexikanischem, wie Tacos, Fajitas, Enchiladas, Buritos & Chimichanga. Und dann sind da noch die farbigen Cocktails, die die Ausländer dazu animieren sollen, ihr Geld in diesem Restaurant zu lassen. Das gute Aussehen der Kellner ist Absicht, soll es doch die allein stehenden Damen anlocken. Dies hatte schon öfters geklappt. Auch er hatte genug begehrliche Blicke gespürt und Telefonnummern zugesteckt bekommen, sich aber nie darauf eingelassen.

Ab und zu mixt auch er Cocktails. Dafür hat er von Fernando, dem Barkeeper, ein Buch zum Nachschlagen bekommen. Es dauert etwas, bis er alle Mixturen drauf hat, denn er muss sich alles abgucken, jede Zutat, jede Menge einprägen. Mit einem Buch kann er nichts anfangen. Doch er versteht es, seine Unzulänglichkeit gut zu verbergen, indem er vorgibt, gerade mit etwas anderem beschäftigt oder noch irgendetwas anderes erledigen zu müssen. Und so fällt es nicht auf, wenn er überfordert ist und gar nicht weiß, wie der gewünschte Drink gemixt wird.

Ihm bringt es, seit er auch als Barkeeper arbeitet, etwas mehr ein, vom Trinkgeld mal abgesehen. Meist hilft er ab Donnerstag und übers Wochenende aus. Und das Beste daran ist, dass er das Geld für seine Arbeit immer gleich nach seiner Schicht empfängt. Schlaf bekommt er allerdings manchmal wenig, auch, weil er die Woche über noch in Juan`s kleiner Autowerkstatt schraubt.

Sie sind laut. Sehr laut. Und wie er jetzt sehen kann, haben sie bereits zwei Tische zu einem langen Tisch zusammengestellt, um alle daran Platz zu finden. Es sind ungefähr zehn. Er ist jetzt auf dem Weg zu ihnen, um ihre Bestellung entgegenzunehmen. Wenn die Leute heute richtig Umsatz bringen würden, könnte er bei seinem Chef punkten und ihn wenigstens damit zufrieden stellen. Und vielleicht würde für ihn ja auch etwas an Trinkgeld übrig bleiben. Aber wohl eher nicht. Er weiß, dass die Leute, die Geld hatten, eher geizig waren.

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Es ist überhaupt voll heute Abend. Er bringt den Leuten das gewünschte Essen an die Tische und füllt dann den Kühlschrank der Bar auf. „Machst du uns paar Drinks?“ vernimmt er eine Stimme in seinem Rücken. Er dreht sich zu ihr um und beginnt zu starren. Blonde lange Haare, grau-grüne Augen, breites, offenes Lächeln. Dann räuspert sie sich. Er wird unwillkürlich rot, als er bemerkt, dass er sie die ganze Zeit über ansieht.

Doch auch sie mustert ihn. Irgendwie kommt er ihr bekannt vor. Dann weiß sie es wieder: „Bist du nicht der mit dem Motorrad?“ Er nickt. „Arbeitest du etwa hier?“ Er nickt wieder. „Kannst du auch reden oder bist du stumm?“ Seine Hände fangen an zu schwitzen. Er ist unsicher. Sie macht ihn unsicher. Er streift mehrmals kurz mit den Händen über den Stoff seiner Hose, und zwar an den Oberschenkeln, um sie wieder trocken zu bekommen.

 

Sie dreht sich um und ruft ihren Leuten am Tisch zu: „Wer will alles Bier?“ Er kann sehen, dass drei Hände in die Luft gehen. „Wer will Tequila?“ Fünf Hände. „Und zwei Margaritas!“ Er weiß Bescheid. „Bringst du uns die Getränke dann an den Tisch dahinten?“ und schon ist sie weg.

Er holt das Bier aus dem Kühlschrank, öffnet die Flaschen und stellt sie aufs Tablett. Dann stellt er die Gläser dazu und füllt sie mit Tequila. Er schneidet die Zitronen in Spalten und legt sie auf die Öffnung der Bierflaschen. Er bemerkt ihre Blicke. Obwohl sie sich Mühe gibt, sie aussehen zu lassen, als würde sie ihn zufällig streifen. Es macht ihn irgendwie nervös. Was ist denn heute mit ihm los? Er ist es gewohnt, dass er angesehen wird, meistens natürlich von Frauen. Alleinstehenden Frauen. Auch älteren. Er hatte schon manch eindeutiges Angebot bekommen, Und sicher hätte er auch einiges an Geld damit verdienen können.

Der Typ sieht wirklich zum Anbeißen aus, denkt sie. Sein Hemd steht offen und sie kann die feinen gekräuselten Haare auf seiner Brust sehen und das Spiel seiner Muskeln beobachten, während er arbeitet. Das Weiß des Hemdes sticht hervor und steht im krassen Kontrast zu seiner gebräunten Haut.

„Melanie?“ „Eh, Mel! Sag mal, wo bist du denn mit deinen Gedanken? Träumst du?“ Susan boxt ihr in die Seite. Sie folgt deren Blick. „Das ist schon ein Schnuckelchen, was? Aber lass lieber die Finger von dem. Bei den Latinos weiß man nie…“ Und auch David hatte ihre Blicke bemerkt.

Der Fotograf sieht seine Felle davonschwimmen und rückt jetzt näher an sie heran. Wie zufällig streift er ihre Hand.

„Ich geh mich mal frisch machen.“ Sie rutscht seitwärts vom Stuhl und ist froh, ihm so zu entkommen. Sie mochte diesen Typen irgendwie nicht. Manchmal weiß sie nicht mehr, wie sie ihn loswerden soll, er hängt an ihr wie eine Klette. Merkt er denn nicht, dass sie ihn immer wieder abblitzen lässt, sie nichts von ihm will?

Das ist eben die andere Seite des Modellebens, denkt sie. Eigentlich nicht ihre Welt… Andererseits, wo konnte man schneller und einfacher zu Geld kommen? Ab und zu bekam sie eines der Kleider, die sie trug, geschenkt, und von den Reisen ganz zu schweigen. Und das gute Aussehen hatte sie umsonst bekommen. Also, warum soll sie es dann nicht nutzen? Solange sie jung und schön war und die Leute für ihre Bilder Kohle hinblätterten…

Als sie wieder an den Tisch zurückkommt, bringt ihnen der Kellner mit dem kleinen Zopf eine weitere Runde. Sie sieht, wie David sein Bein ausstreckt. Obwohl der Kellner noch versucht, auszuweichen, fangen die Flaschen auf dem Tablett an, zu wackeln. Sie kippen und fallen klirrend auf den Fußboden. „Nichts passiert. Alles gut.“ Nachdem er die restliche Bestellung auf den Tisch abgestellt hat, beugt er sich schon hinunter, um die Scherben aufzusammeln. „Ich bringe sofort Neue.“ Er blickt auf. Er hat die Augen zusammengekniffen. Sie sieht, dass er weiß, dass es Absicht war und sie sieht noch etwas anderes in seinen Augen: Stolz.

David blickt Melanie fest an, schüttelt den Kopf und grinst. „Was für ein Trottel…“ Jetzt ist sie sicher. Er wollte den Kellner absichtlich dumm da stehen lassen. Aber warum? Dieser hatte ihm doch gar nichts getan.

Ein dicklicher kleiner Mann im Anzug mit schwarzen gegelten Haaren hat das Restaurant betreten. Er scheint recht aufgebracht und redet energisch auf den Kellner ein. Er fuchtelt die ganze Zeit mit seinen Armen. Dann kommt er an ihren Tisch: „Bienvenidos a Acapulco. Sie sind das erste Mal hier? … heute erst angekommen? Tut mir leid wegen meinem Personal. Ich will nicht, dass sie Unannehmlichkeiten haben. Die nächste Runde geht aufs Haus.“ Und dann ruft er seinem Kellner zu: „Riccardo, Tequila für die Leute hier am Tisch! Das zieh ich dir vom Lohn ab.“

Melanie hat genug: „Mädels, wir müssen morgen wieder früh raus. Wer kommt mit? Ich glaub nicht, dass sich Augenringe gut auf den Fotos machen oder David?“

Als sie auf dem Weg zum Ausgang an ihm vorübergeht, lächelt sie ihm zu: „Ich hätte gerne einen von deinen Cocktails probiert. Das nächste Mal?“

Er hat noch den Duft ihres Parfums in der Nase und blickt ihr sprachlos hinterher.

3

Es ist fast schon Morgen, als er endlich in seinem Bett liegt. Seine Füße schmerzen. Nicht nur von der Arbeit. Er ist totmüde, aber er kann nicht einschlafen. Er dreht sich von der einen Seite auf die andere. Sie spukt in seinem Kopf herum. Immer, wenn er sich dreht, quietscht das Bett. Dann meldet sich eine Jungenstimme: „Riccardo, ich kann nicht schlafen. Kannst du denn nicht mal ruhig liegen bleiben?“ „Tut mir leid, Marqez. Schlaf weiter.“

Bemüht, auf einer Stelle zu liegen, verschränkt er die Arme hinter seinem Kopf. Er sieht an die Decke. In Gedanken geht er immer und immer wieder die Begegnung mit ihr durch. Ja, sie war schön, traumhaft schön, aber wohin sollte das führen? Sie war ein Model, das war ihm jetzt klar, und er? Er war ein Nichts, ein Niemand. Schlag sie dir aus dem Kopf, befiehlt er sich. Du hast nicht die geringste Chance. Also hör auf, an sie zu denken! Irgendwann schläft er darüber ein.

Als er munter wird, hört er nebenan die Kleine weinen. Marqez´ Bett ist bereits verlassen. Er erhebt sich und geht in die kleine Küche. Er setzt sich ungewaschen, wie er ist, in Shorts und Unterhemd an den Tisch. Graciela stellt ihm einen Becher mit Kaffee hin. „Gibst du mir die Kleine mal? fragt er sie. Sie lächelt und geht zur Wiege. Dann nimmt sie ihre Tochter heraus und gibt sie ihm in seinen Arm. „Na, Filisha, hast du etwa Hunger? fragt er sie und schaukelt sie beruhigend in seinen Armen.

„Das Geld ist alle. Ich konnte keine Milch kaufen“, wird er von Graciela unterbrochen. Sie sieht ihn an. „Und ich kann auch keinen Maisbrei kochen.“ Nach einer Pause setzt sie nach: „Der Vermieter war gestern ebenfalls da. Wir sind im Rückstand. Er gibt uns vier Tage, zu bezahlen.“

Er brummt. „Hm.“ Mit dem Geld, was er nach Hause brachte, kamen sie gerade so über die Runden. Es reichte für Essen und Trinken und Benzin. Große Sprünge konnten sie eh nicht machen. Aber ihm ist auch klar, dass es so wie bisher nicht weiter ging, er musste sich etwas einfallen lassen. Er musste einfach mehr arbeiten. Aber wo? Wer sollte ihm Arbeit geben? Er nimmt einen Schluck Kaffee, dann sagt er: „Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich drum.“ Und legt ihr sein allerletztes Geld auf den Tisch.

Sie blickt ihn schuldbewusst an: „Rick?“ „Ja?“ „Was?“ setzt er nach. „Ich weiß, was du für uns tust. Aber ich glaube, du solltest auch mal etwas für dich tun.“ „Wie meinst du das?“ fragt er jetzt. „Du siehst so müde aus. Du solltest nicht immer nur arbeiten.“ Nach einer Weile sagt sie: „Ich könnte auch arbeiten gehen.“ „Nein, das will ich nicht!“ Sie zuckt zusammen. „Ich will, dass du dich um das Kind kümmerst.“ „Aber ich könnte zum Beispiel Perlenketten flechten oder nähen, wie Marcia, wenn ich schon zu Hause bleibe.“ Sie sieht ihn erwartungsvoll an. „Du willst das wirklich?“ fragt er. „Ja.“ „Meinetwegen. Aber woher willst du die Perlen für die Ketten bekommen?“

Sein ganzes restliches Geld, was er noch übrig hatte, war an Juan für die Ersatzteile und die Reparatur des Motorrades gegangen, und das brauchte er, denn wie sollte er sonst von Llano Largo nach Punta Diamante kommen? Dem Bauern hatte er einige Pesos für dessen Hilfe gegeben und den kläglichen Rest hatte er soeben Graciela auf den Tisch gelegt. Sein Magen knurrt. Wann hatte er das letzte Mal etwas gegessen?

Er ringt sich ein Gähnen ab: „Ich leg mich noch mal hin, wenn das okay für dich ist?“ Er muss alleine sein, nachdenken. Er weiß einfach nicht, wo er das Geld hernehmen soll, um die Außenstände für die Miete vom Haus zu bezahlen. So gaukelt er ihr vor, noch etwas schlafen zu müssen. Na ja, und irgendwie war das ja auch nicht falsch. Wenn man schlief, hatte man keinen Hunger. Fast jedenfalls.

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Er dämmert weg. Nur kurz. Der Hunger und die vielen Probleme, die in seinem Kopf herumirren und nach Antwort suchen, lassen ihn keine Ruhe finden. Konnte er seinen Chef um einen Vorschuss bitten? Keine gute Idee. Nein, das käme sicher nicht gut bei ihm an. Dann würde er ihn von den Anderen beobachten lassen oder ihm selbst ständig auf die Finger schauen, wenn er wüsste, dass er Geldprobleme hatte. Andererseits will er den gut bezahlten Job in diesem Nobelrestaurant nicht aufs Spiel setzen. Also, wie kommt er an Geld? Nach seiner heutigen Schicht hätte er zwar wiederum das Geld für einen Einkauf, aber nicht genug für die Miete.

Riccardo träumt von Essen. Ihm steigt betörender Duft in die Nase. Als er wach wird, merkt er, dass es wirklich nach Essen riecht. Nach Hühnchen. Er öffnet die Tür seines Schlafzimmers und steht in der Küche. Graciela hatte der Nachbarin von seinem Geld gleich ein Huhn abgekauft, es gerupft und sich dann daran gemacht, es zu kochen.

Das Mädchen ist wirklich eine Perle, denkt er. Er sieht sie aus den Augenwinkeln heraus an und denkt darüber nach, was sie in ihrem Leben schon alles hat durchmachen müssen, wie stark sie eigentlich doch war. Wie sie ihr Leben meisterte. Ob sie mit diesem, ihrem Leben glücklich war? Selbst fast noch ein Kind, war sie bereits Mutter eines anderthalbjährigen Mädchens. Was wusste er eigentlich von ihr, über sie? Was wünschte sie sich? Hatte sie einen Freund? Er weiß nur, dass sie in wenigen Tagen Geburtstag hat und er sich etwas einfallen lassen muss, wie er ihr eine Freude machen kann.

Er hebt den Deckel vom Topf und gibt einen Zischlaut von sich, weil er sich die Finger verbrannt hat. Er wirft schnell einen Blick hinein und nimmt noch eine Geruchprobe: Pozole, mit Huhn und großen Maiskörnern. Die Radiesstücke, Zwiebeln und den Salat, die vorm Essen direkt auf die Suppe kamen, hatte sie auch schon geschnitten. Also gab es bald Essen.

„Willst du noch einen Kaffee?“ fragt sie ihn, „das Essen dauert noch etwas.“ Er nickt und fragt dann: „Wo ist eigentlich Marqez?“ „Er spielt Fußball mit den Jungs aus seiner Clique.“ Rick runzelt die Stirn. Ihm passte das ganz und gar nicht, dass er so wenig Zeit hatte, sich um den Jungen zu kümmern. Er war jetzt dreizehn, in einem gefährlichen Alter. Wenn er da an die falschen Freunde geriet… Er sollte besser öfter ein Auge auf ihn haben. Das war er seinem Kumpel Pedro einfach schuldig. „Kennst du die Jungs, mit denen er zusammen ist?“ Graciela nickt: „Ja, Pablo ist dabei, Jorge und noch ein paar Andere, die sind aber schon älter. Und ich glaube, die gehören zu einer Gruppe aus dem Gebiet der südöstlichen Vororte von Acapulco.“ „Woher weißt du das?“ fragt er hellhörig geworden. „Och, das hab ich halt so aufgeschnappt.“

„Was ist das für eine Gruppe? Doch nicht etwa eine Gang?!“ „Ich weiß gar nicht so genau“, fängt sie an zu stammeln. Er weiß, dass sie ihren Bruder nicht in die Pfanne hauen will. Das ist ehrenwert, aber andererseits auch riskant. Er nimmt das Baby auf seinen Schoß und sagt zu Graciela gewandt: „Du sagst mir aber schon, wenn da irgendwas Illegales läuft?! Ich will nicht, dass Marqez da mit hineingezogen wird. Wir müssen beide auf ihn aufpassen.“

Nach dem Essen geht er zu Juan in die Werkstatt. Dieser macht ihm wenig Hoffnung. Auch der hat keine Arbeit für ihn. Kein einziger Auftrag für die nächste Woche. Es ist keine Aussicht auf Besserung seiner finanziellen Lage in Sicht. Gut, bis jetzt sind sie immer mit dem ausgekommen, was er nach Hause mitgebracht hatte. Große Sprünge hatten sie eh nie machen können. Aber es war eben ein ewiger Kampf, genug Geld zu haben, um ihr einfaches Leben bezahlen zu können. Und das wurde immer schwieriger.

Die einzige Möglichkeit, an Geld zu kommen, ist, sein Motorrad zu verkaufen… Doch, ist er wirklich bereit, dieses Opfer zu bringen? Seinen einzigen Besitz herzugeben?

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Als sie am nächsten Abend wieder im Restaurant sitzt, ist er überrascht. Er hat nicht wirklich damit gerechnet, sie noch einmal wiederzusehen.

„He, Grinko“, sagt sie. Wahrscheinlich kennt sie nicht einmal die Bedeutung von dem, was sie sagt, denkt er. Er grinst. „Lachst du mich aus?“ „Nein.“ „Warum grinst du dann so?“ „Weißt du, was du gerade zu mir gesagt hast?“ fragt er. Sie schüttelt den Kopf. „Dacht ich mir. Eigentlich betiteln die Einheimischen in dieser Art die weißen Ausländer, und dies ist eher missbilligend, verächtlich, gemeint.“ „Aber du bist doch auch ein Weißer.“ „Ja, irgendwie schon.“ Sie sieht ihn interessiert an. Er spürt es und kann in ihrem Gesicht lesen wie in einem offenen Buch: „Du willst wissen, was ich hier mache, in Mexiko? Wie es mich hierher verschlagen hat?“ Sie ist perplex und wird leicht rot. Fängt sich aber schnell wieder. „Ist das so offensichtlich?“ Wieder nickt er.

 

„Du hattest gestern gesagt, du würdest bei mir einen Cocktail trinken. Gilt das noch?“ fragt er jetzt. Er will Umsatz machen, denkt sie, oder muss. Für seinen Chef. Wahrscheinlich bekam er dann auch einen Bonus.

Sie blättert in der Getränkekarte. Die Auswahl ist riesig. Ein Cocktail farbenfroher und ansprechender als der andere. Sie kann sich nicht entscheiden und legt die Karte zusammengeklappt vor sich auf den Tresen. „Welchen der Drinks würdest du mir denn empfehlen?“, fragt sie völlig überfordert. „Hm. Ich kenne ja deinen Geschmack nicht, aber vielleicht einen „Blue Cancun“ oder einfach eine „Margarita“? Aber was heißt hier, einfach eine „Margarita“? Da gibt es auch jede Menge Unterschiede“, setzt er nach. „Ich kann dir eine „Frozen Margarita“ machen oder eine „Strawberry Margarita“ oder …“ „Ich versuche mal die “Strawberry Margarita“, Riccardo“. Er sieht sie verwundert an. Woher weiß sie seinen Namen? „Ich heiße übrigens Melanie“. Sie hält ihm ihre Hand hin. Er sieht sie, doch er ergreift sie nicht. Sie spürt sein Zögern. Ist das Unsicherheit? Er tut so, als müsse er erst noch einmal ihr Glas polieren und hält es ins Licht.

„Erzählst du mir etwas über dich?“ fragt sie. Er ist schon dabei, ihren Drink zu mixen. „Wie du hierher gekommen bist? Und aus welchem Grund du immer noch hier bist?“ Wieder sieht er sie überrascht an. Sie glaubt wirklich, er wäre hier in Mexiko hängen geblieben. Während er alle Zutaten für ihren Cocktail im Shaker schüttelt, fragt sie nach: „Ist es der Liebe wegen?“

Er wird rot. Dann antwortet er: „Ich lebe schon immer hier.“ Jetzt ist sie überrascht. Zu ihrer Erklärung setzt er nach: „Mein Vater war Mexikaner und meine Mutter Schwedin.“ „Schwedin?!“ Das klingt noch überraschter. Sie blickt zu ihm auf. „Deswegen deine blonden Haare“, sinniert sie. „Na ja, wohl eher sehr dunkelblond.“ Wieder bleibt ihr Blick an ihm hängen. Ihre Blicke treffen sich. „Und du lebst also schon immer hier?“ „Ja.“

Nach einer Weile fährt sie fort, ihre Fragen zu stellen: „Hattest du dadurch Nachteile, ich meine, haben dich die Anderen akzeptiert oder warst du für sie ein Außenseiter?“ Was sie alles wissen wollte. Er blickt jetzt schon eine Spur ernster drein. „Das ist ein Kapitel aus dem Buch meines Lebens, das ich nie wieder aufschlagen will, wenn du verstehst.“ Jetzt schweigen sie beide. Er, weil er böse ist, dass sie die alten Erinnerungen an die Vergangenheit wieder aufleben lässt und er wieder damit konfrontiert wird, und sie, weil sie spürt, dass sie einen wunden Punkt getroffen hat und Schuld daran ist.

Während sie wieder an ihrem Cocktail nippt, denkt sie darüber nach, was seine Aussage zu bedeuten hat. Irgendwie kann sie sich schon vorstellen, was es heißt, hier, in diesem armen Land zu leben. Andererseits hat sie nicht die geringste Ahnung, denn sie ist Californierin, gut situiert und wohlbehütet aufgewachsen. Als ihr Blick ihn wieder streift, denkt sie: wenn er reiche Eltern gehabt hätte, müsste er hier nicht kellnern…

Er wirkt jetzt in sich gekehrt, irgendwie verschlossen. Sie weiß nicht, dass seine Kindheit und Jugend gerade wieder an ihm vorüberzieht. Und er hatte wahrlich keine guten Erinnerungen daran. In der Schule wurde er ausgegrenzt, der Dorfjugend war er ein Dorn im Auge seiner hellen Hautfarbe wegen. Für sie war er ein leichtes Opfer. Allein. Ohne einen einzigen Freund. Und dann die angestauten Aggressionen seines Vaters. Die Wutausbrüche, die Schläge. Seine Jugendzeit war kein bisschen besser gewesen. Nein, er wollte keinen einzigen Gedanken an diese Zeit mehr verlieren.

Dann knurrt sein Magen. Seine letzte Mahlzeit lag mittlerweile neun Stunden zurück und er hatte sich beim Essen zurückgehalten, damit die Suppe noch einen weiteren Tag reichte. Und obwohl er versucht, es zu überspielen, ist es ihr dennoch aufgefallen. Nach einigen Minuten gibt sein Magen abermals Geräusche von sich. Sie wundert sich. Konnte es wirklich sein, dass er Hunger hat? Hatte er vergessen, etwas zu essen oder keine Zeit dafür gehabt? Sie kann sich nicht vorstellen, dass jemand kein Geld hatte, um sich etwas zu essen zu kaufen. Er arbeitet doch in einem Restaurant. In diesem Restaurant. Fiel da nichts ab für ihn? Oder durfte er hier gar nichts zu sich nehmen?

Sie spürt, wie ihr die Hitze ins Gesicht schießt. Vielleicht hatte er heute wirklich noch nichts gegessen? Sie blickt ihn von der Seite an und mustert ihn. Er lässt sich nichts anmerken. Dann fragt sie ihn: „Machst du mir noch eine Margarita?“ Er nickt und sagt: „Wusstest du eigentlich, dass eine Margarita aus Agavenbrand gemacht wird?“ Sie schüttelt den Kopf und blickt ihn neugierig an. „Gehört das hier in Mexiko zur Allgemeinbildung? Immerhin ist das ja euer Nationalgetränk.“ Er kann den Schalck aus ihren Worten heraushören. „Oder gehört das zum Grundwissen eines Barkeepers?“ Jetzt lächelt auch er mal. „Tequila wird nur aus den Herzen der blauen Agaven gewonnen. Dafür müssen sie zwischen acht, neun, manchmal bis zu zehn Jahren wachsen, bevor sie geerntet werden. Und den Namen „Tequila“ bekommt auch nur der zweimal destillierte, der in und um Tequila hergestellt wird.“ „Und woher weißt du das so genau?“„Ich habe mal auf einem dieser Felder gearbeitet und bei der Ernte geholfen. Aber nicht in Tequila, sondern in Oaxaca.“ Sie nimmt wieder einen Schluck und blickt ihn dann fest an: „Fährst du mal mit mir dahin?“

Jetzt blickt er zu ihr auf, etwas zwischen Unglauben und Erstaunen ist in seinem Gesicht. Doch sie verzieht keine Miene. Sie scheint es durchaus ernst zu meinen. „Es interessiert dich wirklich? Du willst die Felder sehen?“ „Ja.“ Aber für einen Tagesausflug ist das leider viel zu weit. Da müsste man schon zwei, drei Tage planen.“ Sie scheint zu überlegen, bevor sie fragt: „Wie weit ist das denn bis dahin?“ „Bis Oaxaca? Etwa sechshundertfünfzig Kilometer.“ „Oh. Das ist für einen Tagesausflug wirklich eindeutig zu weit.“ Aus einem Reflex heraus schüttelt er ungläubig den Kopf. „Du glaubst mir das nicht?“ „Was?“ „Du denkst, weil ich ein Model bin, komme ich nur in dein Land, um ein paar schöne Fotos an wundervollen Orten zu machen und zisch wieder ab? Ist es nicht so?“ „Ich weiß nicht.“ Es entsteht eine kleine Pause zwischen ihnen, er weiß nicht, was er ihr darauf antworten soll. „Ich habe zwischen den Shootings auch mal frei und da möchte ich schon erfahren, wie die Menschen in dem Land leben, wo ich mich gerade aufhalte.“

Sein Magen begehrt wieder auf. „Wann hast du eigentlich das letzte Mal etwas gegessen?“ Er sieht sie ihrer Frage wegen erst erstaunt, dann eher grimmig an. „Das geht dich nichts an.“ „Wann hast du Feierabend?“ fragt sie ihn. „Wenn alle gegangen sind.“ Sie überlegt kurz. Dann hätten auch alle anderen Restaurants geschlossen…

Seine Aufmerksamkeit wird jetzt von den anderen Gästen im Restaurant beansprucht. Er hat alle Hände voll zu tun, ihnen ihr Essen zu bringen. Dann sieht er, wie sie an der Tür zur Küche steht und eine ganze Weile mit dem Koch spricht. Was sie mit ihm redet, kann er nicht verstehen. Er ist kurzzeitig einer anderen Bestellung wegen abgelenkt.

Als sie an ihm vorbeigeht, sieht sie ihn an und fragt: „Wann schließt ihr?“ Er lässt seinen Blick durch das Restaurant schweifen. Es ist Freitagabend und noch viel los: „Ich schätze mal so gegen halb zwei.“ „Okay. Dann warte ich unten am Strand auf dich.“ Er sieht ihr erstaunt hinterher.

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