Die Seele im Unterzucker

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Das nächste Handicap

Nachdem ich mich in meiner alten Heimatstadt wieder eingelebt hatte und eigentlich alles zum Besten stand, da sollte schon wieder ein weiterer Schicksalsschlag erfolgen. An meinem rechten Fuß bildete sich nach und nach ein dunkler Fleck, die Haut versteifte immer mehr. Es sah optisch so aus, als hätte ich dort eine schwere Verbrennung erlitten. Und irgendwann kam ich mit meiner rechten Ferse nicht mehr auf den Boden.

Ein alter Freund unserer Familie, ein türkischer Arzt, seit Jahren im Ruhestand, fand einen ersten Anhaltspunkt: zirkumskripte Sklerodermie. Ein Besuch bei einer Fachärztin bestätigte diesen Verdacht.

Eine sehr seltene rheumatische Erkrankung, bei welcher sich Flecken auf der Haut bilden und sich das Bindegewebe von innen zerstört. In meinem Fall hatte es den rechten Fuß erwischt und verhinderte somit das normale Wachstum der Sehne. Zu meinem Glück hatte ich „nur“ die äußere Form der Sklerodermie, welche sich auf Haut, Sehnen und Gelenke bezieht und deren Funktion einschränkt. Es gibt von dieser seltenen Krankheit auch eine innere Verlaufsform, welche Organe, Zellen und Gefäße befällt und in den meisten Fällen zum Tode führt. Glück im Unglück? Ansichtssache …

Da ich das zusätzliche „Glück“ hatte, dass mich diese Krankheit noch im Wachstumsalter erwischte (bei Kindern sind nur sehr wenige Fälle dieser Krankheit bekannt), war ich in puncto Gehfähigkeit von nun an überwiegend eingeschränkt. Meine Ferse hing in der Luft, hinten konnte ich fortan nicht mehr auftreten. Ich lief ab diesem Zeitpunkt nur noch auf Zehenspitzen. Schuheinlagen vom Orthopäden schafften erste Abhilfe. Aber es sollte nie wieder so werden wie vorher.

Nachdem wir nun wussten, um welche Erkrankung es sich handelte, vereinbarten meine Eltern einen Termin in einer Spezialklinik. Dort wurde eine spezielle UVA1-Licht-Bestrahlung in die Wege geleitet, zu welcher ich nun wöchentlich mehrmals hingehen musste. Dies sollte bewirken, dass die Krankheit zum Stillstand kommen möge, sich das Bindegewebe wieder erholen und die Sehne normal weiterwachsen sollte. Mir wurde ein Tuch um den Körper gelegt, welches ihn vor der Bestrahlung schützte. Zusätzlich trug ich eine spezielle Sonnenbrille in der Kabine, eine von denen, welche auch in richtigen Solarien zum Einsatz kommen. Jedes Mal saß ich nun etwa für 10–50 Minuten in der Kabine (Die Dauer wurde pro Tag um etwa 1 Minute gesteigert, um meine Haut an das Licht zu gewöhnen) und ließ mich in der besonderen Solariumkabine braten. Nebenbei hörte ich Musik über meinen Walkman, um mir die Wartezeit zu verkürzen.

Parallel dazu erhielt ich eine zusätzliche Behandlung in Form vieler Tabletten. Cortison, MTX, Folsäure und viele weitere Präparate (von welchen ich weiß Gott die Namen nicht mehr weiß), wurden verschrieben, um mein Wachstum zu unterstützen. Ich hasste Tabletten wie die Pest und tat mir anfangs richtig schwer, die ganzen Dinger hinunter zu kriegen. Zum Glück nur eine weitere Gewohnheitsfrage.

Einige Wochen später der nächste Schlag: Nun schien auch noch meine rechte Hand betroffen zu sein. Als ich im Geschäft meines Vaters auf der Treppe saß und spielte, entdeckte mein Vater eine kleine dunkle Verfärbung auf meinem rechten Handrücken. Er reagierte geschockt und flehte, dass es doch bitte nicht an dieser Stelle auch noch losgehen möge. Was für ein Unsinn, dachte ich mir anfangs nur. Meine Hand funktionierte einwandfrei. Elastizität und Bewegungsfreiheit waren bis dahin noch ganz normal. Jedoch änderte sich auch dies rapide in den nächsten Monaten der Wachstumsphase. Irgendwann konnte ich die Finger nicht mehr richtig herunterbiegen, eine normale Faust zu machen war inzwischen unmöglich. Und auch nach unten konnte ich das Handgelenk nicht mehr beugen. Auf der linken Seite blieb dagegen alles normal. Wie auch bei den Füßen. Rechtsseitig vorübergehend außer Betrieb, links entwickelte sich alles normal. Der Fleck breitete sich nach und nach immer weiter aus und erstreckte sich über meinen gesamten rechten Unterarm. Jene Stellen wurden von nun an auch bestrahlt.

Doch damit immer noch nicht genug. Ein weiterer großer Fleck bildete sich an meiner rechten Hüfte und breitete sich übers Gesäß aus. Mehrere kleinere Flecken erstreckten sich nach und nach über meinen ganzen Körper, überwiegend auf der rechten Seite. Oberarm, Bein, Schenkel und Brustkorb waren bald übersät mit kleinen Flecken. Die meisten nicht viel größer als ein 2 €-Stück. Dies ist unter anderem auch der Grund, warum ich seit diesem Zeitpunkt nie mehr gerne öffentlich zum Schwimmen ging. Ich schämte mich zutiefst, auch für meinen hinkenden Barfußgang, und zog das private Schwimmen im Pool meiner Großeltern vor. Aufgrund dieses Problems gehe ich auch heute noch sehr ungern ins öffentliche Frei- oder Schwimmbad. Und wenn, so lasse ich zumindest immer ein Shirt an, bis zu dem Punkt, an welchem ich ins Wasser gehe. Noch immer gehen mir die offensichtlichen Blicke der anderen doch ziemlich ans Gemüt. Auch wenn ich gerne etwas anderes behaupten würde. Neben „gesunden“ Körpern kriege ich nach wie vor Komplexe und vergleiche mich mehr als ich sollte. Ich will nicht auffallen, ich hasse es so sehr, offensichtlich angeglotzt zu werden.

Inwieweit hatte diese Krankheit wohl mit meinem Zucker zu tun? Es ist bekannt, dass eine sehr häufige Begleiterkrankung bei Diabetes das sogenannte „Fußsyndrom“ darstellt. Die Füße werden immer schlechter durchblutet, irgendwann überwiegen Taubheitsgefühle und sie verlieren nach und nach die Funktion. Sterben im schlimmsten Fall sogar ab und müssen amputiert werden. Damit konnte es allerdings nichts zu tun haben, mein Blutzuckerspiegel war in Kindertagen dank meiner Eltern stets in Ordnun. Natürlich gab es immer mal wieder leichte Über- oder Unterzuckerungen. Jeder langjährige Typ 1-Diabetiker wird mir zustimmen, dass es von der Theorie her zwar sehr logisch und einfach klingt, es sich aber in der Praxis niemals vollkommen umsetzen lässt.

Es wäre schön gewesen, hätte man die Sklerodermie damals zum vollkommenen Stillstand gebracht. Ein paar Flecken auf der Haut mögen zwar kein Fest für die Augen sein, jedoch schränkten mich die verkürzten Sehnen um einiges mehr ein. Ich konnte nicht mehr allzu weit laufen, nach jeder längeren Belastung schmerzte mein Fuß ungemein. Hinzu kam, dass sich auch die Zehen durch die verkürzten Sehnen nach unten krümmten und die Nägel durch den permanenten Druck brüchig und schmerzempfindlich wurden. Mein Vater sagte einmal, dass ihn mein rechter Fuß an eine Vogelkralle erinnern würde. Charmant ausgedrückt, aber im Grunde hatte er Recht …

Im Sportunterricht in der Schule war ich fortan von der Benotung befreit, nahm aber weiterhin daran teil. So weit es mir eben möglich war. Ich war noch niemals ein Spitzenathlet gewesen, allerdings machte es die Sklerodermie nicht wirklich besser. Dies führte unter anderem zu schweren Minderwertigkeitsgefühlen. Wurde ein dummer Spruch von Mitschülern abgegeben, kränkte mich dies innerlich zutiefst. Selbst wenn es nur ein unsinniger Spaß von Kumpels war. Ganz besonders schlimm war es jedes Jahr bei den Bundesjugendspielen. Es war für mich eine arge Erniedrigung, meine vitalen und sportlichen Mitschüler dabei zu beobachten, wie sie die verschiedenen Disziplinen durchliefen, bei welchen ich inzwischen kaum noch mithalten konnte. Als sie im Anschluss ihre Urkunden bekamen und ich dagegen nur eine mit der Aufschrift „Teilgenommen“ erhielt, fühlte ich mich wie ein aussortierter Sonderling.

Warum hatte ich jetzt noch eine weitere Sonderstellung vom Schicksal aufgebrummt bekommen, war der Diabetes denn nicht schon genug? Ich wollte doch nur so sein wie alle anderen, Sonderrollen tun weh.

Um meine gesundheitliche Situation noch weiter zu verbessern, wurde eine wöchentliche Physiotherapie für mich arrangiert, zu welcher ich nun regelmäßig ging. Frau Treptow war eine sehr nette und kompetente Frau, welche sich fürsorglich meiner annahm. Die Therapie bestand aus speziellen Massagen und gezielten Übungen für die betroffenen Bereiche. Einige davon waren zuweilen sehr anstrengend und ich verlor schnell die Motivation weiter zu machen. Immerhin schaffte ich es nach einigen Sitzungen, die Finger an meiner rechten Hand wieder zur Handinnenfläche herunter zu drücken. Anfangs konnte ich das nicht, sie waren definitiv noch zu steif. Mit Knetball und Co. wurde das gemeinsam mit Frau Treptow erreicht. Allerdings ließ sich die fortschreitende und bereits bestehende Sehnenverkürzung trotz regelmäßiger Krankengymnastik nicht wieder rückgängig machen. Möglicherweise hätte ich zuhause noch mehr Übungen machen müssen. Aber selbst dann ist es sehr unwahrscheinlich, dass ich die rechte Seite jemals wieder so hätte bewegen können wie ein „gesunder“ Mensch. Eine Operation mit Verlängerung der Sehnen wurde angedacht, sobald ich ausgewachsen wäre.

Da ich fortan die inständige Angst besaß, meine rechte Hand und mein rechter Fuß würden zunehmend mehr versteifen, übte ich zusätzlich mit links zu schreiben. Ein schönes Gekritzel kam zustande. Aber für den Notfall war ich nun zusätzlich ein bisschen vorbereitet. Von Natur aus bin ich Rechtshänder, allerdings ist meine rechte Hand in so vielen Funktionen eingeschränkt, allein kräftemäßig, so dass ich für viele Dinge im Alltag überwiegend die linke Hand benutze. Ich darf mich also guten Gewissens als „Beidhänder“ bezeichnen … hihi.

Ein Kleeblatt mit vier Blättern gilt als Glücksbringer.

Obwohl es vom natürlichen Vorkommen her eine Missbildung darstellt.

Versuchskarnickel

Nachdem sich durch die Behandlungsmöglichkeit mit der UVA1-Licht-Bestrahlung keine wirklich sichtbaren Erfolge zeigten, wurde diese vorerst eingestellt. Als nächstes sollte aus einem Fleck am Unterschenkel eine Gewebeprobe entnommen und zur genaueren Analyse ins Labor geschickt werden. Diese bevorstehende Tatsache machte mir unendliche Angst und ich flehte, mir diese Prozedur zu ersparen. Es musste jedoch sein, schließlich hofften wir ja alle auf Besserung und darauf, die tückische Krankheit endlich zum Stillstand zu bringen.

 

An jenem Tag wurde ich morgens von der Schule befreit und fuhr in Begleitung meiner Eltern ins Krankenhaus. Ich wimmerte vor Angst beinahe die ganze Hinfahrt über. Immerhin sollten zwei Stücke in der Größe eines Gummibärchens aus meinem Unterschenkel herausgeschnitten werden. Meine Eltern versuchten mich zu beruhigen. Bis auf einen kleinen Betäubungsstich würde ich rein gar nichts spüren. Die Geschichte erfolgte ambulant unter örtlicher Betäubung per Injektion. Eine Vollnarkose war nicht nötig.

Einige der anwesenden Ärztinnen und Schwestern kannte ich bereits aus vorherigen Besuchen in der Klinik und natürlich von der Bestrahlung. Auf einmal sahen diese so ulkig aus. Alle im türkisfarbenen Kittel mit Mundschutz.

Ängstlich legte ich mich auf der Liege auf den Bauch. Nun sollte es gleich passieren. Mein Vater lenkte mich mithilfe eines lustigen Taschenbuches ab, während mir von hinten eine Betäubung verabreicht wurde. Wie versprochen spürte ich sie kaum und von der eigentlichen Entnahme der Gewebeprobe merkte ich rein gar nichts. Nachdem die Wunde genäht und versorgt war, durften wir die Klinik auch schon wieder verlassen. Als Belohnung von meiner Mutter durfte ich mir im Anschluss zwei Action Figuren aussuchen. Für beide zusammen zahlte sie über 40 DM, was das geplante Budget bei weitem überstieg. Ich freute mich sehr darüber und vergaß beinahe das unangenehme Ziehen der Wunde, welches langsam einzutreten begann, da die Narkose allmählich nachließ.

Über mehrere Wochen hatte ich noch ziemliche Beschwerden beim Sitzen. Der Gang zur Toilette und auch das Sitzen auf den harten Schulstühlen war mehr als unangenehm. Die Wunde musste gut gepflegt werden, damit sie sich in jenem Bereich des geschwächten Bindegewebes nicht noch weiter entzündete. Die Ergebnisse, welche einige Wochen später vorlagen, brachten uns nicht in dem Maße weiter wie wir erhofft hatten. Im Endeffekt war jene Aktion völlig für die Katz. Naja, einen Versuch war es immerhin wert …

Meine Großeltern versuchten mich ständig zu motivieren, NOCH mehr Krankengymnastik zuhause zu betreiben. Vielleicht würde es dann tatsächlich besser werden. Sie selbst litten unter schlimmen arthritischen Beschwerden, ganz besonders in den Kniegelenken. Das mag nicht sonderlich spektakulär klingen, schließlich leiden die meisten Menschen ab einem gewissen Alter an Beschwerden dieser Art. Allerdings war es jedoch auch meine Tante, die Schwester meines Vaters, welche schon in recht jungen Jahren unter massiven Knieproblemen litt und immer wieder operiert werden musste. War ich in dieser Hinsicht familiär zusätzlich belastet? Konnte es diesbezüglich einen Zusammenhang geben?

Ein weiterer Arzt, welcher auf rheumatische Erkrankungen dieser Art spezialisiert war, wurde ausfindig gemacht. Jener befand sich in München, zu welchem ich erstmals gemeinsam mit meinen beiden Eltern fuhr. Bis heute erinnere ich mich ganz bewusst an jenen Tag. Als wir mit dem Auto in die Stadt fuhren, war ich unendlich fasziniert von dem großen bunten Trubel. Die vielen Gebäude und Geschäfte, die vielen Lichter und Plakate … eine echte Großstadt eben. Bei der Rückkehr an jenem Tag stand ein neues Lebensziel für mich fest: Bin ich groß, so ziehe ich auf alle Fälle in die Großstadt. So viele Menschen, so viele Möglichkeiten. Es ist einfach immer etwas los. Viel spannender als ein Leben in einer Kleinstadt, wo wirklich jeder jeden kennt. Bestimmt musste sich hier niemand verstecken, um bloß keinen Puffer für Tratschereien und Spekulationen zu liefern.

Der neue Arzt war mir äußerst sympathisch. Es war ein älterer, gemütlicher Bayer, welcher sich stets viel Zeit für mich nahm, meine Medikamentenkontrolle fortan betrieb und immer mit dem nötigen Rat zur Seite stand. Er hielt eine weitere Form der Bestrahlungstherapie für sinnvoll, welche alsbald viermal wöchentlich fortgeführt werden sollte.

Jene neue Therapie der UVA1-Licht-Bestrahlung unterschied sich ein bisschen von der vorherigen Therapie, in welcher ich aufrecht in der Bestrahlungskabine saß. Zuerst musste ich für 30 Minuten in ein spezielles Bad, in welchem eine Folie um mich herum gelegt wurde. Keine Ahnung, was das für eine spezielle Substanz darstellte und was deren Wirkung sein sollte. Anschließend wurde noch 30 Minuten auf einer Liege im Nebenzimmer extra bestrahlt. Wieder mit Solariumbrille ausgestattet, lag ich die ersten 15 Minuten auf dem Rücken und anschließend auf dem Bauch, so dass sämtliche Stellen meines Körpers, welche von den Flecken betroffen waren, durch die Strahlen erreicht werden konnten.

In diesem Zeitraum waren mir meine Mutter und mein kleiner Bruder Finn, welcher inzwischen etwa 2 Jahre alt war, eine enorme Stütze. Vor allem mein kleiner quirliger Bruder, welcher fröhlich überall herumsprang und alles erkundete (die Schwestern fanden ihn immer sehr unterhaltsam) verkürzte mir die Wartezeit in der Badewanne immer enorm. Er lenkte mich ab, indem er mich zum Lachen brachte und mir ab und zu vereinzelte Gummibärchen fütterte, welche wir zuvor im HappyMeal bei McDonalds bekommen hatten Ich selbst konnte mich in dieser Lage nicht bewegen, um meinen Körper erstreckte sich Folie.

Diese Prozedur wurde etwa ein halbes Jahr lang viermal wöchentlich durchgeführt. Natürlich auch ein großes Opfer für meine Mutter, welche mich nun immer mittags mit meinem Bruder im Schlepptau von der Schule abholte, um direkt zur Behandlung zu fahren. Hin- und Rückfahrt konnte man über den Daumen täglich mit 100 km rechnen. Auf halber Strecke hielten wir häufig an, um uns Mittagessen bei McDonalds zu holen, was zu diesem Zeitpunkt unterwegs deutlich handlicher war. Am Anfang war das noch ein besonderes Highlight für mich und meinen Bruder, da McDonalds bis dato eigentlich ein Ritual darstellte, welches nicht allzu häufig an der Tagesordnung war. Doch schon nach wenigen Wochen hatten wir beide unser täglich Fast Food wortwörtlich gefressen und keine Lust mehr darauf.

Ganz besonders schlimm war es für mich im heißen Hochsommer, jeden Nachmittag einmal in das warme Bad zu müssen und anschließend noch auf die „Sonnenbank“. Ich schwitzte mich fast zu Tode und bat die netten Schwestern, mir das Badewasser eine Spur kühler zu machen. Aber das durften sie natürlich nicht, da dies die Behandlung erforderte. Körpertemperatur war angesagt. Einmal schaffte ich es jedoch, meine liebste Schwester auf 35 °C herunterzuhandeln.

Auf dem Rückweg in diesem heißen Sommer war es ein liebgewordenes Ritual, bei meinen Großeltern abgesetzt zu werden und den Rest des Tages Abkühlung im Schwimmbad zu finden. Dies machte es deutlich einfacher für mich und die ganze Prozedur über freute ich mich darauf.

Da es für die Erkrankung der zirkumskripten Sklerodermie kein spezifisches Behandlungsschema gab und meines Wissens nach noch immer keines gibt, wurde ich lange Zeit über von Arzt zu Arzt geschleppt, von welchen jeder eine ganz andere Art der Behandlung in die Wege leitete. Ich wurde im Grunde nicht nur behandelt, sondern diente parallel dazu auch als eine Art Versuchskarnickel. Ich hatte schon damals das Gefühl, dass die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten eine Art russisches Roulette darstellten. Entweder sie wirkten oder eben nicht. Zumindest wurde etwas versucht. Danke Leute, immer wieder gerne! Vielleicht habe ich auf diese Art und Weise wenigstens das eine oder andere Tier gerettet, welches für Forschungszwecke im Labor dafür hätte herhalten müssen. Das wäre es zumindest wert gewesen, eine sehr schöne Utopie!

Es folgten weitere Therapieversuche in Form einer Laserbehandlung und mit chinesischen Heilkräutern. Jene musste ich tagtäglich trinken. Ich erinnere mich, dass es mir jedes Mal allein nur vom Geruch her beinahe den Magen umdrehte. So kombinierten wir es mit Johannisbeersaft, welcher den widerlichen Geschmack etwas milderte. Die Laserbehandlung war auf dem dünnhäutigen, angegriffenen Fußrücken besonders schmerzhaft. Der Arzt meinte, es würde sich in etwa so anfühlen, als würde man mit einem kleinen Gummiband dagegen schnipsen. Es brannte jedoch wie Feuer. 45 Schübe ertrug ich tapfer. Noch heute sind kleine Punkte von dieser Behandlung auf meinem rechten Fußrücken minimal sichtbar.

Speziell angefertigte Schienen für Bein und Hand, welche ich jede Nacht zu tragen hatte, wurden bei einem Orthopäden angefertigt. Das war sehr unbequem und nervig. Außerdem wurden Hand und Fuß jede Nacht mit einer speziellen Cortison-Creme eingeschmiert, anschließend mit Plastikfolie umwickelt und so wurde schließlich geschlafen. Ganz besonders im Sommer juckte das unerträglich und ich wachte häufig inmitten der Nacht auf. Kratzen ging jedoch aufgrund der Schienen, welche durch Riemen befestigt waren, nicht. Immerhin hatte ich mir das Sternenmuster dafür aussuchen dürfen. Jackpot!

Irgendwann kam die Krankheit schließlich von selbst zum Stillstand und es traten keine weiteren Flecken mehr auf.

Sogar spezielle orthopädische Schuhe wurden für mich maßgetreu angefertigt. Dazu machte man Gipsabdrücke, um sie so komfortabel und bequem wie möglich zu gestalten. Zwar konnte ich mit diesen recht gut laufen, allerdings entsprachen sie alles anderem als meinen optischen Vorstellungen und waren zudem noch äußerst auffällig. Neugierige Blicke blieben nicht aus. Ich zog sie im Großen und Ganzen vielleicht zehnmal an. Danach versauerten sie im Schrank. Ich bevorzugte einen schmerzhaften Gang in meinen schmalen rot-weißen Turnschuhen gegenüber einem bequemen in orthopädischen „Clownsstiefeln“, wie ich sie damals bezeichnete.

Bitte nicht NOCH eine Sonderrolle und doppelt schief angeguckt werden. Lieber Schmerzen …

„Darfst du das essen?“ „Schaffst du diese Strecke?“

Fragen wie diese, welche von anderen Menschen zwar lieb und fürsorglich gemeint waren, belasteten mein Gemüt am meisten.

Eine Sonderbehandlung ist so furchtbar! Wenn etwas nicht klappt oder eine Unsicherheit besteht, bin ich durchaus in der Lage, dies zu erwähnen.

In der 1., 2. und 3. Klasse war ich stets ein herausragender Schüler in Bezug auf meine Leistungen gewesen. Vom Wesen her allerdings schon immer etwas auffällig,, geistesabwesend und gelegentlich auch etwas streitsüchtig. Ebenfalls von einer gewissen Egozentrik beherrscht. Was ICH wollte, hatte Priorität. Es endete nicht in Gewaltausbrüchen oder ähnlichem, aber mit rebellischem Verhalten war durchaus zu rechnen. Ich war noch nie ein Mensch, welcher gut mit Kompromissen klarkam. Meine Devise lautete schon sehr früh entweder ganz oder gar nicht – ein Mittelweg bringt es nicht.

Meine Krankheiten stellten mich zusätzlich in eine eigene Ecke, jedoch denke ich mir heute, dass ein anderes Verhalten meinerseits einige Meinungsverschiedenheiten und Konflikte hätte vermeiden können. Hier bestätigte sich wieder einmal das altbekannte Problem, dass ich mit Konsequenz und Geduld wohl niemals einen Blumentopf in diesem Leben gewinnen werde. Ich bin ein chronischer Hektiker, welcher nicht selten direkt aus dem 1. Impuls handelt, ohne tiefgründiger darüber nachzudenken.

Nachdem ich aufgrund meiner Therapie bezüglich der Sklerodermie so häufig und regelmäßig zum Arzt und zur Bestrahlung musste, ist es wohl gewissermaßen nachvollziehbar, dass mir in jenem Zeitraum sehr viel im Kopf umher spukte, meine Konzentration noch stärker schwankte als ohnehin schon und sich dementsprechend auch meine Noten verschlechterten. Ganz besonders in Mathe begann ich rapide abzusacken, nachdem die Thematik in Form von Textaufgaben, Bruchrechnung und Geometrie schwieriger zu werden begann. Irgendwann hatte ich den Faden verloren, obwohl ich im Grundrechnen doch stets so gut war. Regelmäßig wurde das Kopfrechnen zusammen mit meiner Oma in unbeschwerten Stunden im Garten geübt. Die Antworten mussten „wie aus der Pistole geschossen“ erfolgen, um den Grundstein für eine erfolgreiche Mathematik zu gewährleisten, wie sie es damals bezeichnete. Als ich schlechter wurde und mich jene aufgrund dessen gelegentlich tadelte, reagierte ich beleidigt und konterte auf meine eigene Art. „Ihr habt doch damals eh nur auf Täfelchen 2+5 zusammengezählt. Richtig anspruchsvolle Mathematik gab es doch damals noch gar nicht!“

Diese Annahme wurde von ihr glücklicherweise doch schnellstens widerlegt. Ich fühlte mir auf den Schlips getreten, da ich früher doch immer gut war. Meine Niederlage wollte ich mir einfach nicht eingestehen.

 

Im Alltag bin ich bis heute gelegentlich ziemlich geistesabwesend. Es grenzt an ein Wunder, dass ich nicht schon mindestens zehnmal vom Bus überfahren wurde oder sämtliche Knochenbrüche erlitten habe. Dies ist bestimmt sehr vielen aufmerksamen, empathischen Personen zu verdanken, welche in jenen Momenten für mich mitdachten. Meine mangelnde Konzentrationsfähigkeit stellt mir immer wieder ein Bein. Es würde mich persönlich alles andere als wundern, wenn mich der eine oder andere als unhöflich, teilnahmslos oder sozial vollkommen unfähig (stimmt ja auch teilweise) einstufen würde. So käme es mir persönlich wahrscheinlich auch bei anderen Menschen vor.

Als Kind und Jugendlicher besaß ich die unhöfliche Angewohnheit, ständig dazwischenzureden, wenn mir ein spontaner Gedanke durch den Kopf schoss. Obwohl andere gerade mit mir oder jemand anderem redeten. Völlig aus dem Zusammenhang heraus fiel ich aus dem Nichts ins Wort. Unterbrach die anderen, obwohl sich so etwas wirklich nicht gehört. Auch im Unterricht stellte ich häufig vollkommen blödsinnige Fragen, welche überhaupt nichts mit dem Schulstoff zu tun hatten und unterbrach die Lehrer. Heute glaube ich, dass ich dadurch unbewusst versuchte, mich wiederholt mit lustigen Dingen abzulenken, um nicht an meine Sorgen erinnert zu werden, wenn mir der Unterricht zu langweilig wurde oder ich wieder einmal nicht mitkam.

Sorry, war niemals eine böse Absicht …

Ganz anders dagegen stand es mit Themen, welche mich brennend interessierten. Beispielsweise Biografien von prominenten Menschen wie Schauspielern, für welche ich mich schon frühzeitig als alter Film- und Fernsehfan zu interessieren begann. Den Grundstein hierfür legte mein Vater, welcher mit mir als Kind regelmäßig alte Komödien, Schülerfilme, Western, Krimis und später auch Horrorfilme und Thriller schaute. Vieles aus seiner Kindheit zeigte er mir, das meiste gefiel mir recht gut. Ich begann schon früh damit, eine Leidenschaft für diverse Schauspieler zu entwickeln, welche mich besonders ansprachen. Auch ältere Schauspieler, welche schon gar nicht mehr lebten und meiner Generation teilweise überhaupt kein Begriff mehr sind, erhielten meine volle Aufmerksamkeit. Nachdem auch meine Eltern im Besitz von einem hauseigenen PC mit Internetzugriff waren, nutzte ich diesen für stundenlange Recherchen. Ich wollte stets alles ganz genau wissen, wie alt mein momentanes „Vorbild“ aus Film und Fernsehen war, wo er oder sie geboren ist, wie groß und wie schwer sie waren (was mit den damaligen Suchfunktionen noch recht schwer herauszufinden war), ob verheiratet oder nicht und vieles mehr. Teilweise mutierte dieses Verhalten schon zu einer kleinen Besessenheit. Hatte ich eine schlechte Note mit nach Hause gebracht, war natürlich das übermäßige Interesse an meinem Vorbild daran schuld. Alles schien wichtiger als die Schule zu sein. Und das war gar nicht mal so falsch. Viele Kinder sind durch diverse Freizeitaktivitäten außerhalb der Schule abgelenkt. Ich nehme mich da gar nicht aus. Auf jeden Fall war die Recherche über meine diversen Idole ein großes Hobby meiner Kindheit und Jugend. Ich freute mich regelmäßig über Parallelen, welche ich finden konnte. Diese halfen mir schon früh dabei, mein Selbstbewusstsein etwas aufzuwerten.

Auch im gezielten Auswendiglernen bin ich alles andere als schlecht. Mathematische Formeln zu merken fiel mir niemals schwer. Nur an der konzentrierten Anwendung scheiterte es regelmäßig. So viele Klausuren versemmelte ich durch simple Flüchtigkeitsfehler, für welche ich mich im Nachhinein hätte sonst wo rein beißen können. Der Ansatz war richtig, aber durch Kleinigkeiten war die komplette Formel im Eimer. Vorzeichenregel nicht beachtet, Strich vor Punkt genommen, in der Hektik verrechnet … Die Utensilien für den erfolgreichen Zusammenbau waren gegeben, aber die Betriebsanleitung war mal wieder vom Winde verweht. Permanente geistige Abwesenheit kann mitunter ganz schön nervig sein.

Mein Vater übte von nun an am Wochenende Mathematik mit mir, bis ich von den vielen Fünfern wenigstens wieder auf einen Dreier-Schnitt gelangte. Das sollte am Ende der Grundschule ausreichen um mich auf die Realschule schicken zu können. Vom ursprünglichen Start in der Schule war stets davon auszugehen, dass ich es einmal, wie auch mein Vater, aufs Gymnasium schaffen könnte. Dem war leider nicht so, was mich anfänglich etwas frustrierte.