Die Seele im Unterzucker

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Mein bester Freund

Als ich in der 3. Klasse war, lernte ich meinen besten Freund kennen. Durch einen lustigen Zufall eigentlich. Ich ging mit Klassenkamerad John, mit welchem mich eine recht gute Kameradschaft verband, nach der Schule nach Hause. Ich lieh ihm eines meiner vielen Nintendo-Spiele aus, damit er mir einen neuen Kampf-Charakter freischalten konnte. John war ein noch weitaus leidenschaftlicherer und besserer Spieler als ich.

Als wir nach der Übergabe des Spiels noch kurz hinters Haus in den Garten gingen, sah ich aus dem Augenwinkel heraus jemanden auf dem Baum herum klettern. Es war Axel. Ein dünner Junge aus Johns Nachbarschaft, mit welchem John gelegentlich spielte. Wir begrüßten uns und wechselten einige Worte. Er war eine Klasse unter uns und genau ein Jahr jünger als ich. Ich kann den genauen Zusammenhang nach über 18 Jahren selbstverständlich nicht mehr wortgetreu wiedergeben, jedoch bin ich mir sicher, dass wir uns überwiegend über Spiele austauschten. Ich hatte ihn unter den vielen anderen Kindern auf dem Schulhof bestimmt schon öfter in der Pause gesehen, jedoch bis dato nie bewusst wahrgenommen.

In den nächsten Wochen sahen wir uns häufiger im örtlichen Freibad. Da wir uns nun flüchtig kannten, kamen wir immer weiter ins Gespräch und spielten zusammen im Wasser. Eines Tages klingelte es an unserer Haustür, es war Axel. Ganz überraschend und ohne Anmeldung kam er zu Besuch, was mich überaus freute. Stolz zeigte ich ihm meine Nintendo und meine dazugehörigen Spiele, von welchen ich ihm schon häufiger erzählt hatte. Ohne viele Worte zu verlieren setzten wir uns an die Konsole und begannen „Super Smash Bros 64“ zu zocken. Er kämpfte mit Samus, ich mit Pikachu.

Es machte unheimlich viel Spaß, sodass die Zeit wie im Fluge verstrich. Als er an jenem Abend wieder nach Hause ging, war der Grundbaustein für eine langjährige Freundschaft gelegt. Noch heute reden wir immer wieder über diesen einen besonderen Tag, welcher quasi zur Geburtsstunde einer unzertrennlichen Freundschaft wurde. Axel bezeichnet jenen Tag noch immer als einen der schönsten seines Lebens. Was ich nur bestätigen kann.

Auch Axel war wie ich vom Charakter ein wenig „anders“ als die anderen Kinder. Einerseits sehr hyperaktiv, dann jedoch wieder nicht sonderlich gesprächig und ein kleiner, naiver Tagträumer. Und trotz allem immer witzig und gut gelaunt. Seine Gesellschaft munterte mich jedes Mal auf. Im Gegensatz zu mir fiel es Axel jedoch noch niemals schwer, Bindungen und rasche Freundschaften zu seinen Mitmenschen aufzubauen. Ich agierte in dieser Hinsicht viel vorsichtiger und skeptischer.

Fortan trafen wir uns immer wieder bei mir zuhause und probierten noch viele weitere Spiele durch. Allerdings blieb das Smash immer unser gemeinsamer Favorit. Auch mein kleiner Bruder Finn war regelmäßig mit von der Partie. Für ihn war es als kleiner Hosenmatz stets ein großes Highlight, wenn er uns aufmerksam zusehen durfte. Natürlich nur, wenn er uns vorher ausgiebig mit Schokoriegeln und Joghurts aus dem Kühlschrank bedient hatte. Sorry, Bruder, war nie böse gemeint, ich schätze deine derartige Verausgabung bis heute! *zwinker* *zwinker*

Anfänglich war meine Mutter alles andere als begeistert von Axel. Sie meinte, er würde doch ohnehin nur zum Nintendo spielen kommen und bezeichnete ihn als dümmlichen Herumtreiber. Dieser erste, eindeutig falsche Eindruck widerlegte sich jedoch im Laufe der Zeit immer mehr und sie erkannte, dass unsere Freundschaft von wahrhaftiger Natur war. Heute verstehen sich die beiden blendend und schwelgen gerne gemeinsam in Erinnerungen.

Noch strenger urteilten dagegen mein Vater und meine Großeltern, welche ja ohnehin von Natur aus mehr darauf bedacht waren, was denn die Nachbarn denken könnten. Axel wäre weit unter meinem geistigen Niveau und ich solle mich gefälligst mit Kindern umgeben, welche „meinem Niveau“ entsprachen. Das ärgerte und kränkte mich in Axels Namen, ich mochte ihn ganz genau so wie er war. Wer hat bitte das Recht zu beurteilen, mit welchem angeblichen „Niveau“ man sich zu umgeben hat? Axel hatte etwas, was vielen oberflächlichen Bauernkindern in meinem Umfeld fehlte. Verständnis und Loyalität. Und das sind jene Dinge, welche kein Professorentitel dieser Welt jemals ersetzen kann. Er urteilte niemals über meine Handicaps und ich nicht über seine. Wir nahmen uns ganz genau so wie wir waren. Natürlich stritten wir uns auch gelegentlich und tun es bis heute. Aber das ist es ja im Endeffekt auch, was eine wahre Freundschaft ausmacht. Immer nur lächeln und nicken ist zwar bequemer, auf Dauer aber falsch und verlogen.

Axel wohnte mit seiner Familie, welche aus insgesamt 7 Kindern bestand, in einem großen Doppelhaus am anderen Ende der Stadt. Sie hatten einige Haustiere, Hunde, Katzen, Vögel und Nagetiere. Nachdem wir uns des Öfteren gesehen und er mich häufiger besucht hatte, so lud er mich auch zu sich nach Hause ein, wo ich seine Eltern kennenlernte. Beide waren sehr freundlich zu mir. Ganz besonders Vater Herbert war stets lustig und oft für einen Spaß aufgelegt. Es ist ihm zu verdanken, dass wir mit 10 und 11 Jahren im Kino einen Film sehen durften, welcher eigentlich erst ab 12 Jahren freigegeben war. Anschließend lud er mich, Axel und seinen jüngeren Bruder Marco noch auf ein kleines Wettessen von Cheeseburgern bei McDonalds ein, da wir im Kino vergünstigte Gutscheine bekommen hatten.

Da sie sehr viele Kinder in der Familie waren, versteht sich von selbst, dass Axel niemals in Geld schwamm. Er war der Zweitjüngste und musste sogar gelegentlich die alten Kleidungsstücke von seinen großen Brüdern tragen. Wie stark dies damals schon an seinem Selbstwertgefühl nagte erzählte er mir erst viele Jahre später. Früher gab er stets den Unbeeindruckten. Wenn ich ihn diesbezüglich stichelte, trug er mal wieder ein abgetragenes Hemd, in welchem er fast versank. Gegenseitig gestichelt haben wir uns über all die Jahre. Es gibt Millionen Insiderwitze, welche nur wir beide verstehen und über welche wir uns jedes Mal halb totlachen, wenn wir uns sehen. Wie oft die Leute wohl denken mussten, wie dermaßen bescheuert wir beide in Kombination wohl sein müssen, lässt sich definitiv nicht mehr an nur einer Hand abzählen.

Mit meiner Stechhilfe, mit welcher ich mich täglich in den Finger stach um meinen Zuckerwert zu ermitteln, schlossen Axel und ich eines Tages sogar „Blutsbrüderschaft“.

Axel liebte das Geschäft meines Vaters, welches diverse Unterhaltungselektronik anbot. Er verfügte zwar nicht über das nötige Budget, um sich regelmäßig Spiele und Konsolen zu kaufen, aber er war trotz allem immer wieder neugierig, was denn gerade frisch auf dem Markt war und stöberte.

Wir borgten uns gegenseitig Spiele aus und unterstützten uns beim Freischalten diverser Charaktere. Während ich in den Rennspielen besser war, triumphierte Axel überwiegend bei den Kampfspielen. Beinahe jeden Abend telefonierten wir über Festnetz und gaben regelmäßige Rückmeldung, wie viele Durchgänge wir heute schon geschafft hatten.

Aber wir beide saßen nicht nur vor der Spielkonsole. Weiterhin unternahmen wir viel außerhalb der eigenen vier Wände. Wir gingen zusammen aufs Schützenfest, spielten in meinem Baumhaus, gingen zum Schwimmen und auch ab und an ins Kino. Gelegentlich spielten wir auch mit anderen Kids, waren aber überwiegend zu zweit unterwegs. Wir besaßen beide einen City Roller und tourten damit und mit unseren Fahrrädern durch Feld und Fluren. Axel versuchte vergebens, mir das Inline Skaten beizubringen, was mir aufgrund meiner Sehnenverkürzung auf der rechten Seite jedoch niemals gelang.

Axel war ein Abenteurer und sehr mutig. Einmal wettete ich mit ihm, dass er sich bestimmt nicht trauen würde, zwischen zwei Silos einer Firma hinaufzuklettern. Das war eine sehr waghalsige Aktion, aber Axel wagte es tatsächlich. Zwischen den Silos auf den nur knapp zwei Zentimeter breiten Rillen kletterte er fast 30 Meter in die Höhe. Ein falscher Schritt und er hätte sich höchstwahrscheinlich das Genick gebrochen. Ich hatte wahnsinnigen Respekt, er hatte die Wette eindeutig gewonnen. Sein Preis: Mein Plastikschwert. Wohlverdient, würde ich sagen …

Einmal gingen wir im Frühjahr zu unserem örtlichen Freibad, welches gerade frisch nach dem Winter wieder befüllt worden war. Wir hielten die Füße rein und stellten fest, dass es doch noch wesentlich frischer war als wir erwartet hatten. Wir beschlossen mutig zu sein und eine Runde über den Weiher zu schwimmen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit bis wir den Mut hatten, wenigstens knietief ins Wasser zu kommen. „Jetzt oder nie!“, rief Axel und schubste mich ohne jegliche Vorwarnung in das eiskalte Wasser und sprang hinterher. Mit aller Kraft durchquerten wir einmal tapfer den See, Axel hing sich vor lauter Kälte an meine Schultern und drückte mich beinahe runter. Als wir es geschafft hatten, besuchten wir mit klatschnassen Klamotten meinen Vater, welcher uns für absolute Spinner erklärte. Aber wir fühlten uns dennoch unüberwindbar stark und tapfer.

Unsere Freundschaft wurde auf eine harte Probe gestellt, nachdem wir eine kindliche Peinlichkeit betrieben hatten. Ich hatte einen kleinen Fotoapparat, welcher noch mit einem Film bestückt war, den man entwickeln lassen musste. Axel und ich saßen bei mir im Zimmer herum und machten unnötigen Blödsinn in Form von Grimassen und ähnlichem. Irgendwann wurden wir so albern, dass wir Arschbilder knipsten. Axel drehte sich zusätzlich noch um, ich drückte ab. So entstanden Bilder, welche es nicht hätte geben sollen …

Nachdem wir die entwickelten Bilder abgeholt hatten, lachten wir uns darüber schlapp. Versprachen uns aber fest, jene Aufnahmen niemals jemandem zu zeigen.

Einige Tage später spielten wir mit Axels kleinem Bruder Marco und Axel ärgerte mich beim Spielen. Ich wollte ihn ebenfalls ärgern, indem ich eines der Fotos aus der Tasche zog und einige Sekunden vor den Augen seines Bruders schwenkte. Ich hatte damit gerechnet, dass jener anfangen würde zu lachen oder ähnliches. Dem war allerdings nicht so. Geschockt riss er das Foto an sich und rannte damit zu seiner Mutter. Beschämt ging ich nach Hause, das war nun wirklich nicht meine Absicht, ich wollte ihn nur necken. Konnte ja nicht ahnen, dass sein Bruder Marco eine derartige Petze war. Natürlich war es auch nicht die feine englische Art meinerseits, schließlich hatten wir uns versprochen, keinem von den Bildern zu erzählen und sie schon gar keinem zu zeigen. Dies zeigte mal wieder von meinem mangelnden Einfühlungsvermögen und meiner hyperaktiven Egozentrik. Axel war enttäuscht von mir, was ich ihm alles andere als verübeln konnte. Nicht nur ein arger Vertrauensbruch, sondern auch eine sehr peinliche Situation für ihn.

 

Noch am selben Abend bei unserem täglichen Telefonat war plötzlich seine Mutter am Ende der Leitung, welche mich aufforderte, ihr sämtliche Fotos und Negative am nächsten Tag vorbeizubringen. Eingeschüchtert willigte ich ein und stand am nächsten Tag wie gewünscht auf der Matte. Sie erwartete uns draußen im Hof auf der Bank. Ich entschuldigte mich kleinlaut für die alberne Aktion mit den Bildern und hoffte, dass sie uns nicht allzu böse war. Ich überreichte ihr den Umschlag mit allen Negativen. Sie hielt die kleinen braunen Schnipsel prüfend gegen das Licht, Axel war beschämt. „Mama, muss das sein?“, fragte er genervt. Sie war entsetzt und wiederholte immer wieder, dass etwas Derartiges ganz und gar nicht ginge und in welche Schwierigkeiten Axel kommen könnte, käme so etwas an die Öffentlichkeit. Was wir beide als etwas übertrieben empfanden, auf den Aufnahmen waren keine Gesichter zu erkennen. Sie nahm die Bilder und Negative und verbrannte sie vor unseren Augen in der Flamme einer Kerze. Kein großer Verlust für die Welt. Anschließend sprach sie ein künftiges Kontaktverbot aus, sie könne es nicht riskieren, dass Axel durch mich in Schwierigkeiten käme. Ich entschuldigte mich unter Tränen noch einmal und beteuerte, dass das bestimmt nicht wieder vorkommen würde. Axel war doch schließlich mein allerbester Freund. Sie sagte, dass das definitiv nicht gehen würde und bat mich, zu gehen.

Heulend verließ ich das Grundstück und ging nach Hause. Dort erzählte ich niemandem von der Sache. Ich ging schwer davon aus, dass ich Axel tatsächlich nie wieder sehen würde, seine Mutter machte einen sehr strengen und dominanten Eindruck.

Natürlich ist es verständlich, dass eine Mutter über eine Aktion wie jene alles andere als erfreut ist und auch dementsprechende Konsequenzen zieht. Aber ein Kontaktverbot für immer? Das schien mir mehr als knallhart …

Wenige Stunden später klingelte das Telefon, es war Axel. Ich konnte es gar nicht recht glauben, schließlich herrschte doch ab sofort striktes Kontaktverbot?!

Axel meinte, seine Mutter sei gerade nicht anwesend und darum nutzte er die Chance mir zu sagen, dass er trotz allem mein bester Freund bleiben würde und sich den Umgang mit mir nicht verbieten lasse. Wir sollten uns von nun an eben heimlich treffen und bei Anrufen auf seinem Festnetz sollte ich mich als jemand anderes ausgeben, wenn Mutter, Vater oder Geschwister ans Telefon gehen sollten. Ich war so überglücklich seine Stimme zu hören und versicherte ihm noch einmal wie leid es mir tat, dass ich seinem Bruder das Foto unter die Nase gehalten hatte. Axel war nicht böse, er meinte nur, dass es Aktionen wie diese nie wieder geben dürfe.

Von nun an trafen wir uns auswärts nur noch heimlich oder eben bei mir zuhause, wo keine „Gefahr“ bestand. Meine Mutter wusste nur am Rande von der Geschichte, sah dies allerdings nicht so streng wie Axels Mutter. Sie meinte auch, dass es zwar eine blöde Aktion war, aber ein Kontaktverbot auf Lebenszeit hielt auch sie für weitaus übertrieben. Schließlich machen alle Kinder und Jugendliche einmal Blödsinn.

Das Ende einer Ära

Leider musste mein Vater sein Geschäft, welches er über viele Jahre erfolgreich als Meister geführt hatte, zu unser aller Bedauern im Jahre 2002 endgültig schließen. Es rentierte sich einfach nicht mehr, die elektronischen Großkonzerne überrollten den Markt. Mein Vater hätte sich möglicherweise rechtzeitig auf die immer moderneren Geräte (Flachbildschirme, DVD-Player, Handys etc.) spezialisieren und eventuell auch Computer und Zubehör in sein Geschäftsmodell integrieren müssen, was man ihm auch des Öfteren anriet. Dass das Familiengeschäft unter diesen potenziellen Umständen tatsächlich finanziell rentabel überlebt hätte, ist jedoch reine Spekulation.

Dies führte zu weiteren schweren Depressionen meines Vaters, das Geschäft war stets sein ganzer Stolz und sein Lebenswerk gewesen. Nicht zuletzt das Vermächtnis der Familie. Und ganz bestimmt spielten hierbei natürlich auch der familiäre Druck und die damit verbundenen Schuldgefühle eine tragende Rolle. Hatte das über Generationen erfolgreiche Geschäft unter seiner Führung letztendlich versagt. So musste es sich für meinen Vater, welcher von Natur aus sehr sensibel und feinfühlig war, angefühlt haben. Aber über die Schließung sämtlicher „Tante-Emma-Läden“, ganz gleich in welcher Branche, müssen wir hier gar nicht erst anfangen. Dieses Thema versteht sich wohl von selbst. Verdammte Großkonzerne! Auf der einen Seite für den Otto-Normal-Bürger natürlich sehr praktisch, auf der anderen Seite aber auch verantwortlich für das Aussterben vieler Existenzen. Was bedeutet schon noch ein Einzelschicksal in einer Welt, in welcher es nur um Geld und Macht geht? Einen feuchten Scheißdreck!

Kurz vor der Schließung des Geschäfts war mein Vater bereits in eine andere Wohnung gezogen, da er die Miete für unsere ehemalige gemeinsame Wohnung direkt über dem Geschäft nicht länger aufbringen konnte. Diese Wohnung schloss ich von Anfang an ins Herz. Es war eine wunderschöne Maisonettewohnung, welche sich vom 1. Stock bis hin ins Dachgeschoss streckte. Sie besaß einen schnuckeligen kleinen Balkon, auf welchem mein Vater und ich uns stundenlange Schach-, Trivial Pursuit- und Sechsundsechzig-Runden lieferten. Oben im Dachgeschoss lag neben dem Wohnzimmer auch mein neues Kinderzimmer, in welches durch das große schräge Dachfenster die Sonne im Sommer nur so durchbrach. Längeres Spielen mit meinen Figuren war dann nicht mehr möglich.

Unten im Keller besaß mein Vater einen Raum, welcher als Werkstatt für diverse Reparaturen benutzt wurde. Nachdem das Geschäft geschlossen war, schaffte es mein Vater dank einiger langjähriger Stammkunden, sich auf selbstständiger Basis mit Reparaturen, Bestellungen und Arbeiten im Außendienst noch eine Weile lang über Wasser zu halten. Auf Dauer reichte es allerdings nicht für den Lebensunterhalt und die Selbstständigkeit musste aufgegeben werden. Er wurde arbeitslos. Gelegentlich fielen trotzdem einige Arbeiten an, welche mein Vater „unter der Hand“ für alte Kunden verrichtete. Auch mein damaliger Videorecorder und mein kleiner Röhrenbild-Fernseher lagen regelmäßig auf seinem Tisch zur Wartung.

Nachdem es mit seiner Werkstatt in den hauseigenen Wänden nicht mehr lief, begann mein Vater für eine Zeit lang in einer Firma zu arbeiten, welche sich ebenfalls mit Elektrotechnik beschäftigte. Aufgrund seines Status’ als Radio-Fernsehtechniker-Meister erhielt er dort auch einen ganz guten Posten als Abteilungsleiter. Seine Aufgabe bestand darin, die Arbeiter der Elektroteileherstellung zu überwachen und anzuweisen. Einmal durfte auch ich mitgehen und gelbe Sticker auf Platinen kleben. Ich freute mich für ihn, dass er wieder eine neue Stelle gefunden hatte. Aber irgendwie klappte dies nicht allzu lange und er wurde nach einigen Monaten wieder entlassen. Mir gegenüber begründete er es so, dass er die unmöglichen, nervigen Klatschweiber aus seiner Abteilung auf Dauer nicht aushielt und deshalb auf eigenen Wunsch hin kündigte. Was sich im Nachhinein als unwahr herausstellte, da ihm gekündigt wurde. Aber diesbezüglich mache ich ihm keinen Vorwurf, es ist nur zu verständlich, dass er in meinen Augen der vorbildliche Vater sein wollte, der immer alles im Griff hatte. Die Gründe für seine Kündigung sind mir bis heute unklar, allerdings kann ich mir mögliche Erklärungen zusammenreimen. Einerseits war es die ungewohnte neue Arbeitssituation als Angestellter, welche er auf diese Art nicht kannte. Er war in seinem Geschäft stets sein eigener Chef und selbstständig gewesen, was es ihm natürlich schwer machte, sich von heute auf morgen unterzuordnen. Eventuell spielten seine schweren Depressionen und sein gelegentlicher Alkoholkonsum ebenfalls eine tragende Rolle. Ich glaubte fest an ihn, dass er seine Fähigkeiten bald anderswo zum Einsatz bringen könnte, sobald er das Richtige gefunden hätte. Schließlich war er sogar Meister, kannte sich in Radio- und Fernsehtechnik blendend aus. Aber genau wie ich, so war auch mein Vater vom Wesen her ein Gewohnheitstier. Vermutlich wäre es ihm sehr schwergefallen, hätte er sich auf Computertechnik und ähnliches spezialisieren müssen.

Da es von nun an beruflich für meinen Vater alles andere als rosig aussah, blieben irgendwann auch die regelmäßigen Unterhaltszahlungen an meine Mutter aus. Sie blieb ihm gegenüber stets fair und korrekt, hatte er doch die letzten Jahre immer regelmäßig bezahlt. Sogar meist mehr als er eigentlich hätte müssen, als es ihm finanziell noch deutlich besser ging. Es war eine noble Charaktereigenschaft von meiner Mutter, meinem Vater in dieser Hinsicht nicht unter Druck zu setzen, was ich ihr bis heute sehr hoch anrechne. Viele andere wären in dieser Situation schon wiederholt zum Anwalt gerannt und hätten ihre Unterhaltszahlung auf irgendeine Art und Weise eingeklagt.

Und jenes Geld fehlte uns von nun an. Doch meine Mutter schaffte es immer, uns gut über die Runden zu bringen. Wir lebten nicht im Luxus und sparten wo es nur ging. Zumindest meine Mutter. Mein Bruder und ich waren beide recht verwöhnt, was das Essen anging. Wobei hier fairerweise erwähnt werden muss, dass es bei meinem Bruder lange nicht so ausgeprägt war wie bei mir. Im Kleinkindalter aß er alles gerne, was man ihm vorsetzte. Sogar Dinge, welche mir persönlich nicht so schmeckten.

Meine Mutter ist von Natur aus ohnehin keine leidenschaftliche Köchin wie es mein Vater war. Obwohl mir ihr Essen meist auch sehr gut schmeckte. Beispielsweise ihr Brokkoli-Auflauf und ihre Lasagne waren phänomenal und auch bei der leckeren Bohnensuppe langten wir stets kräftig zu. Um Zeit und Geld zu sparen, gab es allerdings auch gelegentlich Ravioli oder Käsenudeln. So kann gesagt werden, dass wir durchaus eine abwechslungsreiche und ausgewogene Ernährung genossen. Ganz besonders mein tägliches Abendessen, welches zum Großteil aus Gemüse bestand, versorgte mich über viele Jahre mit den nötigen Vitaminen und Mineralstoffen. Auch dann, wenn es mittags mal schnell gehen musste, was auch nur allzu verständlich war im aktiven Berufs- und Schulalltag.

Da mein Vater nun noch mehr Zeit als sonst zum aktiven Kochen hatte, wollte er fürs bevorstehende Wochenende immer ganz genau wissen, was ich mir denn wünschte. So hatte er unter der Woche genug Zeit, alles Nötige dafür zu besorgen und vorzubereiten. Stundenlang schwelgten wir im Gaumenschmaus, anschließend wurden noch Mandelhörnchen und Vanilleeis genascht. Auf der einen Seite natürlich nachvollziehbar, dass man sich ein schönes und unbeschwertes Wochenende machen möchte, wenn man das Kind die ganze Woche über selten sieht. Aber trotz allem hätte auch er mich ein bisschen bremsen sollen, allein schon wegen meiner immer molliger werdenden Figur und meinem Zucker.