Wiener Hundstage

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Keine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Noch kein Grund, sich Sorgen um einen verschwundenen Freund zu machen, redete ich mir ein. Nach ein paar unerquicklichen Telefonaten (die meisten Redaktionen schienen bei freien Mitarbeitern grundsätzlich ein Zahlungsziel von drei Monaten zu veranschlagen; Buchverlage waren da kaum besser) und einer nicht minder unerquicklichen Überprüfung der Barschaft, die auf den Schilling ident war mit meinem pekuniären Gesamtvermögen, zog ich, einer vagen Idee folgend, den ersten Band des Wiener Telefonbuchs aus der Lade und wurde tatsächlich fündig. Günther Abfalter. Der Mann, der behauptete, von Heinrich Grunert sexuell missbraucht worden zu sein. Kurz entschlossen wählte ich die Nummer. Eine nichtssagende Männerstimme meldete sich.

»Spreche ich mit Herrn Abfalter? Mein Name ist Mazurka. Ich bin Journalist und –«

Die Verbindung wurde unterbrochen. Ich drückte die Wahlwiederholtaste und wartete. Nach dem zweiten Freizeichen schaltete sich ein Anrufbeantworter ein. Ich wartete den Piepton ab und sagte: »Herr Abfalter. Ich bin ein Freund von Sarah Ortbauer. War es, denn Sarah ist ermordet worden. Ich bitte Sie um ein kurzes Gespräch. Wenn Sie es wünschen, werden wir kein Wort über Grunert verlieren. Sie können mich unter meiner Nummer zurückrufen.« Ich gab die Nummer durch und legte auf.

Keine zehn Minuten später läutete das Telefon. Zwischen Stoßseufzern und Beileidsbekundungen der Kategorie »Oh Gott, das arme Mädchen« gab er mir zu verstehen, er sei jetzt bereit, mit mir zu reden, ja, er ging sogar so weit, sich auf ein persönliches Treffen einzulassen. Das war unter den gegebenen Umständen mehr, als ich erwartet hatte.

»Wo wäre es Ihnen denn recht?«

»Nun, ich weiß nicht …« Er stotterte nicht gerade, war aber auch nicht weit davon entfernt.

»Kennen Sie das ›Café Landtmann‹?« Jeder kannte das »Landtmann«, darum schlug ich es vor.

»Nein, leider.«

Ich gab ihm die Koordinaten durch und bedankte mich im Voraus. Mein letzter Anruf galt Toms Mutter Hedi Hrdlicka. Wir plauderten ein wenig, doch über den Verbleib ihres Sohnes wusste sie weniger als ich. Sie hatte ihn seit Wochen nicht mehr gesehen. Ich verzichtete darauf, sie mit Vermutungen zu beunruhigen. Mit einem Haufen Fragen ausgerüstet, brach ich auf, um nach einem Anstandsbesuch im »Café Magistrat« Toms Studio unter die Lupe zu nehmen. Meine Uhr bestand auf zwölf Minuten nach zwei.

Das »Magistrat« ist zwei Stock unterhalb meiner Wohnung angesiedelt und hat eine Hintertür, die Eingeweihten den Zutritt vom Gang aus gestattet: Sprich Mellon und tritt ein. Das ist bei Regen recht praktisch. Der kleine Schankraum wird den ganzen Winter über mit Zigarettenqualm eingenebelt, damit sich die Stammgäste heimisch fühlen. Wenn es im Frühjahr das Wetter erlaubt, wird ein Schanigarten mit Ausblick auf das nicht unbeträchtliche Verkehrsaufkommen auf der Taborstraße aufgestellt. Dann zieht es die Gesundheitsbewussten nach draußen, und nur die ganz Harten halten die Stellung.

Einer von ihnen saß auf seinem Stammplatz neben dem Spielautomaten und trank, scheinbar unberührt von der Hitze, sein Bier. Der Mann war nicht ganz einen Meter achtzig groß. Er trug eine Art Che-Guevara-Bart und die dazugehörige Frisur, dichtes, schwarzes, halblanges Haar, in das sich einige verfrühte Silberfäden eingeschlichen hatten. Havanna und Barett fehlten, stattdessen trug er eine Brille mit Stahlgestell. Irgendwie kam er mir bekannt vor – mehr als »irgendwie« wurde jedoch trotz kurzer Gedächtnisprüfung nicht daraus. Er nickte mir zu, als ich mich neben ihn an den Tresen stellte. Ich nickte zurück und bestellte bei einer leicht derangierten platinblonden Kellnerin, die einen Kilo Schminke im Gesicht herumschleppte, ein Glas Weißwein gespritzt – davor allerdings bombardierte sie mich mit einem wirren Monolog über die Hitze, das bedauernswerte Los von Kellnerinnen im Allgemeinen und speziell der armen Schweine, die im »Magistrat« arbeiten mussten.

»Sklavenarbeit, Paul. Die reinste Sklavenarbeit.« Sie seufzte, zückte einen Taschenspiegel und verbrachte die nächsten Minuten damit, ihr Make-up zu verschlimmern. Gewiss keine leichte Aufgabe. Der Mann neben mir grinste still und sardonisch vor sich hin.

Als der Wein schließlich gebracht wurde, prostete ich meinem Nachbarn zu. Er dämpfte eine Zigarette der Marke Lange Milde aus und zündete sich die nächste an. Wenn sich aus den vielen weißen Stummeln in seinem Aschenbecher Rückschlüsse ziehen ließen, dann war er in der wettkampfmäßigen Disziplin des Dauerrauchens mehr als bloßer Amateur. Er musste Angehöriger des Olympiateams sein.

»Sie wohnen hier, stimmt’s?«

Ich nickte und zündete mir ebenfalls eine Zigarette an. Er hatte meinen Sportsgeist geweckt; doch bereits nach den ersten paar Zügen sah ich ein, dass ich mich neben diesem Lungenprofi wie der reinste Hobbyraucher ausnahm. Wir tauschten ein paar belanglose Scherze über die Kaste der »Magistrats«-Sklaven aus, dann zog ich los. Vielleicht hätte ich mir und einer Handvoll Freunde viel erspart, wenn ich länger geblieben wäre und über mein Problem geredet hätte, anstatt harmlose Witze zu reißen. Vielleicht.

Thomas Hrdlickas Reserveschlüssel lag wie üblich auf der Oberkante des Türrahmens; man musste springen und einen Klimmzug machen, um ihn zu erwischen. Auf den ersten Blick deutete nichts darauf hin, dass eine Hausdurchsuchung stattgefunden hatte. Ich habe Wohnungen gesehen, die von der Polizei im Zuge einer Ermittlung so zugerichtet worden waren, dass die Besitzer glaubten, sich in der Tür geirrt zu haben. Hier war alles beim Alten. So sah es aus. So sollte es aussehen. Denn wenn Toms Bericht stimmte – und davon war ich mittlerweile überzeugt –, dann war sein Studio durchsucht worden. Nur dass hier eine andere Art von Schnüfflern als die Polizeidickhäuter am Werk gewesen war. Profis, die keine Spuren hinterließen. Die nicht einmal den Kuckuck entfernt hatten, der seit Wochen auf den Möbeln und Geräten klebte.

Ich riss das Fenster auf und lehnte mich hinaus. Im Schanigarten des »Café Prückel« brieten die Leute in der Sonne. Einige sahen schon recht gut durch aus. Offenbar hatten den Kellner beim Ausfahren der Markise die Kräfte verlassen, sodass sein Werk unvollendet blieb. Von einem dieser Plätze aus musste Tom gestern Abend drei Männer beobachtet haben, als sie in sein Studio einbrachen.

Die Telefonzelle auf dem Luegerplatz war besetzt. Ein mittelgroßer Mann, der einen schwarzen Staubmantel lässig über die rechte Schulter geworfen hatte, lehnte mit dem Hörer am Ohr in der Tür. Gute Idee, dachte ich mir, in dem Affenkäfig hat es sicher fünf Grad mehr. Nur zwei Dinge gefielen mir nicht. Dass er zu mir hinaufstarrte. Und dass er schon dort gestanden war, als ich das Haus betreten hatte.

In der Dunkelkammer blieb meine Suche erfolglos. Ich setzte mich an den Computer – Tom hatte dem Exekutor seinen alten 486er zum Fraß vorgeworfen – und merkte zum ersten Mal, was hier nicht stimmte. Ich habe die Daten auf meine Festplatte kopiert, hatte er gesagt. Interessante Daten. Nachdenklich betrachtete ich den Golfplatz, der sich über siebzehn Zoll Bildschirmdiagonale erstreckte. Sehr grün, sehr friedlich; sogar Vögel zwitscherten aus den Vierzig-Watt-Aktivboxen. Musste ein herrliches Gefühl sein, über diesen gepflegten Rasen zu schreiten. Ich kannte das Spiel. Es hieß »Links«, galt als die Golfsimulation und kam der Realität ziemlich nahe; zumindest behaupteten das Leute, die Golf dreidimensional spielten. An seinen Computer ließ Tom stets nur das Beste. Die Frage war bloß, wie er es in der ganzen Hektik noch geschafft hatte, gemütlich eine Partie Golf zu spielen. Und zu allem Überdruss darauf vergessen hatte, das Programm zu beenden, korrekt auszusteigen und am Schluss den Power-Schalter zu betätigen. Denn das tat Tom, seit er mit Computern arbeitete. Und dann fiel mir das Ergebnis dieser letzten Runde ins Auge.

Golf ist ein einfaches Spiel. Nimm den richtigen Schläger, schlag den Ball richtig an und triff ins Loch. Davon gibt es pro Kurs neun oder achtzehn. Für jedes Loch ist, je nach Entfernung und Schwierigkeitsgrad, eine bestimmte Anzahl von Schlägen vorgegeben: drei, vier oder fünf. Schafft man ein Loch exakt laut Vorgabe, dann heißt das Par. Wenn ein Spieler mehr Schläge braucht, dann liegt er über Par, braucht er weniger, liegt er darunter. Eins unter Par ist toll, zwei über Par ist Pech. Die Summe über Par ergibt das Handicap. Kapiert? Dann haben Sie etwas mit der Frau unseres Bundeskanzlers gemein. Tom hat üblicherweise ein Handicap von elf. Bei diesem Spiel hatte er eins von vierundsechzig.

Die Lösung war irritierend einfach: Jemand anderer hatte gespielt; und dieser Jemand war der Letzte, der das Studio betreten hatte. Ich beendete das Programm und fand, was ich suchte. Nämlich nichts. Ohne Zweifel waren hier Profis am Werk gewesen. Aber nicht, ohne Spuren zu hinterlassen. Sämtliche Daten waren von der Festplatte gelöscht worden.

Tom hatte eine Diskette erwähnt. Also machte ich mich ohne viel Hoffnung über die Diskettenbox her. Natürlich hatten sie die Disketten mitgenommen. Alle drei Boxen waren leer. Die Festplatte leer, die Disketten fort – das sah nicht gut aus. Herr Jemand und seine Kompagnons hatten den Job erledigt und sich als Bonus für die gute Arbeit bei einer Partie Golf entspannt, während sie darauf warteten, dass Tom den Fehler beging, zurückzukommen. Golfprofis waren sie keine.

Ich sah mich noch einmal um. Eine Mappe mit der Aufschrift »Donauwelle« stach mir ins Auge. Die »Donauwelle« ist – laut Auskunft der Mitarbeiter – ein »revolutionär-poetisches Manifest, das bewusst abseits vom etablierten literarischen Mainstream operiert«. Prosaisch gesagt, eine kleine Literaturzeitschrift, die mit Hilfe mehr oder weniger regelmäßiger Zuwendungen vom Kulturministerium ihr Dasein fristet. Tom hatte in letzter Zeit ein paar kleinere grafische Arbeiten für das Blatt gemacht; kaum wegen des tollen Honorars (er hatte sich einmal ausgerechnet, dass er bei diesem Projekt auf einen Stundenlohn von zwölf Schilling dreißig vor Abzug der Steuern kam), sondern eher, um sich zu beweisen, dass er längst noch nicht so bürgerlich geworden war, wie er zu sein glaubte. Heute Abend wurde das neue Heft präsentiert, darum hielt ich es für eine gute Idee, die Mappe mitzunehmen.

 

Ich schloss ab, fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoß und winkte im Vorbeigehen dem Mann in der Telefonzelle zu. Keine Ahnung, wie er es geschafft hatte, eine halbe Stunde lang alle Leute abzuwimmeln, die dringend telefonieren wollten, doch so viel Durchhaltevermögen darf man nicht unbeachtet lassen. Leistung muss sich noch lohnen.

Horst Fiedler, Herausgeber und Redakteur der »Donauwelle« in Personalunion, hatte bereits schwer getankt, als er mir über den Weg lief. Das sah man an seinem schwarzen Kopftuch. Wenn es gerade gebunden ist, macht er Entzug, wenn es schief sitzt, trinkt er. Es saß sehr schief. Er kam gerade vom Klo zurück und versuchte, sich einen Weg durch das Gedrängel zu bahnen. Der Gastgarten des »Amerling« war total überfüllt.

»Sieht nach Erfolg aus, eure Präsentation«, sagte ich.

»Ja«, bestätigte er und kratzte sich versonnen am Hinterkopf. »Dieses Heft ist poetisches Dynamit. Die großartigsten Texte von –«

»Wo ist denn euer Tisch?«, unterbrach ich seine Eloge, solange es noch möglich war.

Er deutete in den hinteren Teil des Hofes, wo unter dem Pawlatschen eine Art Podium aufgebaut war, und hob wieder an zu psalmodieren: »Dort sitzen die VIPs des literarischen Undergrounds, die erste Garde der revolutionären Poesietribunen, die anarchistischen Hohepriester der –«

»Alles klar, Horst.«

Ich fand den Weg allein und setzte mich, nachdem ich ein paar flüchtige Bekannte begrüßt und die Suche nach den Literatur-VIPs aufgegeben hatte, neben Jens Zschokke. Er ist Chefredakteur eines Kulturmagazins, für das ich hin und wieder schreibe, um dann nach Wochen aufreibender Grabenkämpfe mit der Finanzabteilung vielleicht doch den einen oder anderen Schilling zu sehen. Jens ist einer der seltenen Menschen in dieser Branche, die so viel von ihrem Job verstehen, dass sie es nicht nötig haben, einem ständig mit Sermonen darüber, wie man seinen zu erledigen hat, auf die Nerven zu gehen.

»Was hat dich hierher verschlagen, Jens? Zu viel Zeit?«

»Zufall. Habe die Schere, du siehst gesund aus«, sagte er, während er sorgfältig seine Brille putzte. »Segeltörn? Safari? Saharadurchquerung? Oder schreibst du im Solarium?«

»Urlaub in der Steiermark; für mehr hat das Geld nicht gereicht. Kühe, Wiesen, Steinnelken, Wald. Ziemlich ruhig, ziemlich verschlafen, ziemlich trocken.« Ich nahm ein schlecht gezapftes Bier in Empfang und stieß mit ihm an. »Was tut sich in der Redaktion?«

Er legte den Kopf schief. »Ist die Frage ernst gemeint?«

»Schon gut«, sagte ich beschwichtigend. »Wie immer zu wenig Budget, das sie noch weiter kürzen wollen, richtig?«

»Fast richtig. Seit Kurzem sucht der Verlag erstsemestrige Publizistikstudenten aus wohlhabenden Familien – sehr wohlhabend, denn die jungen Herrschaften sollen sich die Honorare ja auch leisten können, die sie für ihre Arbeiten zahlen müssen.«

Ich grinste. Natürlich übertrieb er. Aber was taugt schon eine Redaktion, die nicht mit der Verlagsleitung in den Clinch geht?

»Wie steht es zwischen dir und Dana? Habt ihr …«

»Kein Thema, Jens.«

Er nickte bedächtig und setzte seine Brille auf. »Dein Deschner-Interview ist gut geworden. Wie bist du mit ihm zurechtgekommen?«

»Großartig. Tatsächlich ist er ausgesprochen liebenswürdig. Das würde man doch nicht unbedingt bei einem Mann vermuten, der sich seit drei Jahrzehnten hauptberuflich mit der Kirche duelliert.«

»Warum nicht? Hast du genügend Material, um ein zweites Interview daraus zu basteln?«

»Wahrscheinlich schon. Außerdem habe ich seine Telefonnummer. Ich kann ihn um eine halbe Stunde bitten, wenn mir der Text ausgeht. Wie viel?«

Jens wischte sich den Bierschaum vom ergrauten Schnurrbart und grinste. Dann feilschten wir ein wenig um Abgabetermin und Honorar; allerdings nicht sehr ernsthaft. Ich kannte die Grenzen, die seinem Redaktionsbudget gesteckt waren, und er wusste, dass ich wie üblich unter einem vorübergehenden Liquiditätsproblem litt – bei so klaren Fronten kommt man schnell zu einer Einigung, die beiden Seiten nicht ganz ungerecht wird. Als wir das erledigt hatten, ging er, um seine Kinder zu versorgen. Allerdings nicht ohne mich darauf hinzuweisen, dass er das Interview exklusiv kaufte und dass, wenn es vor Erscheinen in seinem Magazin an anderem Ort abgedruckt würde, ich Sorge um meine Eier tragen sollte.

Wie es aussah, war der offizielle Teil des Abends schon vorüber; die Leute saßen entspannt in Grüppchen herum, tranken, plauderten, stritten und genossen das bisschen Kühlung, das der fortschreitende Abend brachte. Über dem »Amerling«-Hof zeigten sich die ersten Sterne.

»Irre!«, rief Horst Fiedler. Mit der linken Hand schwenkte er die Mappe mit den Layouts, die ich aus Toms Studio mitgenommen hatte, während er mit den Fingern seiner Rechten auf einem Stapel maschingeschriebener Blätter einen Marsch trommelte. »Exorbitant. Das ist die Superlative des Erzengels Luzifer! Der poetische Faustschlag ins Antlitz des etablierten bürgerlichen Literarmanufakturwesens. Notzucht am beamteten Feuilleton!«

Rechts von mir kicherte jemand.

Ich sagte: »Heißt das, du bist zufrieden?«

»Was heißt zufrieden!«, schnaufte Fiedler beleidigt. »Wir sprechen von der Textwerdung des gefallenen Engels, und du fragst, ob ich zufrieden bin! Was für ein bürgerlicher Zustand.«

»Ich meine die Layouts«, sagte ich sanft.

»Ach, die.« Er starrte auf die Mappe in seiner Hand, als würde er sie zum ersten Mal wahrnehmen. »Ja, die sind ganz okay. Hat Tom dir das Cover auch mitgegeben?«

»Nein«, sagte ich und steckte mir eine Zigarette an. Vorsichtig blies ich den Rauch vor mich hin. »Tom ist für ein paar Tage weggefahren, doch ich kann morgen ins Studio gehen und das Cover abholen. Er hat mir die Schlüssel dagelassen.«

»Weggefahren?« Fiedler starrte mich verständnislos an. »Wer macht dann die Korrekturen? Ist er verrückt? Wir schanzen ihm einen gut dotierten Job zu, der ihm als Grafiker Renommee bringt, und er haut ab und –«

»Nur für ein paar Tage«, beschwichtigte ich ihn. »Er muss irgendeine dringende Sache erledigen. Nächste Woche wird er wieder zurück sein.« Hoffte ich.

»Gib mir die Schlüssel, ich suche es.«

Ich schüttelte den Kopf. »Kein Weitergaberecht.«

Fiedler kratzte sich die Stirn, rückte sein Kopftuch ein wenig zurecht und nippte an seinem Bier. Er brummte irgendetwas, gab sich aber mit der Antwort zufrieden. Wir verabredeten uns für den nächsten Morgen im »Café Engländer«, und ich sagte zu, bis dahin eine Druckvorlage für das Cover zu besorgen. Wie, war mir noch nicht klar.

Ein paar Leute, Mitarbeiter der »Donauwelle«, die ich vom Sehen kannte, kamen hinzu, besprachen mit Fiedler die Layouts und verwickelten ihn kurzerhand in einen Streit über Detailfragen. Während sie »Redaktionssitzung im Grünen« spielten, ließ ich mir ein neues Bier kommen und fing ein Gespräch mit meinem Tischnachbarn an, der sich als äußerst trinkfester Bursche entpuppte.

»Haben Sie vorhin gekichert?«

»Fast nicht«, sagte er grinsend. Er hatte angegrautes, jedoch noch volles, mittellang geschnittenes Kraushaar, zerfurchte slawische Gesichtszüge und einen dichten Schnurrbart, dessen Enden traurig an den Mundwinkeln herabhingen. Ich erfuhr, dass er Franjo Bregović hieß, ehemaliger Universitätslektor war und aus Dubrovnik kam, einer Stadt, die vor nicht allzu langer Zeit beschossen und bombardiert worden war, um auch noch die letzten Reste von Lebenslust und Schönheit daraus zu tilgen. Während nebenan die »Donauwelle«-Mitarbeiter sich darüber in die Haare gerieten, ob Toms Layout nun zu sehr dem Zeitgeist oder zu wenig den Anforderungen modernen Leseverhaltens entsprach, ob er Neville Brody imitierte oder in infamer Weise offenen Anti-Brodyismus betrieb, ob die Typografie einem so ernsten Thema unangemessen war oder sich im Gegenteil anmaßte, es grafisch mitzugestalten, fand ich heraus, dass sämtliche Texte der Ausgabe von Bregović zusammengestellt worden waren.

»Der Herr Herausgeber lässt arbeiten?«, stichelte ich.

Franjo Bregović winkte ab. »Horst weiß, dass ich mit kroatischen, bosnischen und serbischen Kollegen befreundet bin, also sagt er zu mir, Franjo, rede mit ihnen, sag ihnen, wir machen ein Heft gegen den Krieg, jeder von euch soll dafür schreiben …«

»Und das hat geklappt?«

»Natürlich. Viel weniger Menschen, als Sie denken, sind für diesen Krieg. Die meisten waren sehr froh, Texte veröffentlichen zu können, die keine Zeitschrift abdrucken würde, ob in Serbien oder Kroatien. Wir alle sind froh, dass man uns dieses – ist ›Forum‹ das richtige Wort? – zur Verfügung gestellt hat.«

»Und was zahlt er Ihnen dafür?«

Ein Grinsen zog Bregovićs Schnurrbartenden hoch. »Die Tätigkeit ist mehr ehrenamtlich.«

»Das habe ich befürchtet. Wer hat denn die Artikel übersetzt?«

»Hm … Einen größeren Teil habe ich übernommen, die übrigen Texte hat eine ehemalige Studentin und gute Freundin übertragen, die bei mir an der Universität …«

Der Rest des Satzes ging im allgemeinen Tumult unter, den die Layout-Mappe ausgelöst hatte.

»Welchen Schnaps wollen Sie trinken?«, hörte ich Franjo Bregović dicht an meinem rechten Ohr fragen.

Er orderte Grappe, und als sie kamen, waren es natürlich doppelte, und natürlich mussten wir sie, nachdem wir einander zugetrunken hatten, in einem Zug hinunterstürzen, damit ich bei der Kellnerin sogleich die Revanchebestellung aufgeben konnte. Mein Entschluss, den ersten Tag in Wien nicht zu hart angehen zu lassen, war damit suspendiert worden.

»Die Arbeit Ihres Freundes«, Franjo deutete über den Tisch auf die Mappe, »erregt schon jetzt viel Aufsehen. Das ist gut.«

Wenn es ironisch gemeint war, dann ließ er sich jedenfalls nichts anmerken; sein Gesicht drückte freundliche Neutralität aus.

»Nun … wissen Sie«, meine Stimme hatte Mühe, sich gegen den Lärm durchzusetzen, »ich denke, Sie sollten diesen Streit nicht allzu ernst nehmen. Der ist morgen vergessen, und wenn das Heft erst erschienen ist, werden sie alle zu denen gehören, die uns ja gleich gesagt haben, dass es gut wird.«

Franjo lachte und ließ sich von mir Feuer geben.