Altgold im Anflug

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„Heute lenkte ein Einfall dich zu mir, dem einsamen Mann und Vater. Mein Sohn wohnt wochentags bei Verwandten in Funchal. Ihn fördert die Vorstufe für eine Fachschule mehr als die regionale Schule. Fern von hier erlernt mein Miguel abstraktes Denken, das Verstehen wirtschaftlicher Vorteile. Unser kleiner Betrieb muss flexibel geführt werden und bietet sich uns eine unbekannte Chance, soll er mit beiden Händen zupacken. Doch hart ist meine Durststrecke, ihn nicht im Haus und nicht als ständige sichere Hilfe für die Plantage zu haben. Wir haben uns gemeinsam und vorausschauend entschieden.“

„Euer Plan müsste die Kraft dafür hergeben“, merkt Usa an, nach einem belebenden Schluck Kaffee. „Deine und seine Konzentration auf die Kräfte weckt die Energie für euer getrenntes Leben.“ Sie hebt den Becher an den Mund, spürt das Gleiten warm in Hals und Brust, strahlt Miguel glücklich an. „Das tut gut, nach der meine Kräfte anstrengenden Fahrt und ermöglicht Frieden. Langsam fange ich mich, und merke, von deiner ausgleichenden Nähe wirkt auch Anton nun stärker. Ein friedliches Gemüt erträgt eben leichter und erfasst den im Sturm geknickten Baum als einen im Paradies gestürzten, keinesfalls von reinen Elementen gänzlich entbunden. Es fehlt niemals etwas, alles ist überreichlich vorhanden.“

Die Augenbrauen hebt Miguel. Sein brauner Blick erwidert verständnisvoll ihr Glück, ihr Zuhause auf der Insel gefunden zu haben. Eines, wie es zu ihr passt. Und Usa fährt fort.

„Der Baum war viele Jahre alt, dein Sohn ist ein biegsamer Sprössling. Förderst du das kindliche Naturell? Wünschst du es ihm frei von aller Gewalt? Solche Wünsche kannst du ihm wirksam hinüber senden. Doch kannst du dich daran auch angeschlossen fühlen?“

Das Glück auf Miguels Gesichtszügen verblasst. Er schließt die Augen.

Anton weitet den Blick. Teils von der Panik, nicht zu wissen, was bei Miguel vorgeht, teils von dem eigenen betroffen sein. Usas Wortwahl zu den Kräften der Konzentration und des Friedens, mit dem alles leicht zu ertragen sei und ihr Hinweis auf Miguels ausgleichende Nähe, all das versetzt Anton in den Schwebezustand wie in einer Hülle aus Glas.

Dann, unvermutet klar, erinnert er den Nebel der Nacht erneut und daraus hervor gleitet in matter Kontur Carel, der sofort abdriftet, verschwindet, wenngleich Anton einen mystisch-magischen Ruf hört und einen kindlichen Beiklang, von ziemlich weit oben. Leider nur für einen Moment. Schon verpufft auch dies, kaum zu fassen. Vielleicht nur, weil nahe neben ihm Miguels Stimmlage gerade heraus einen deutlichen Protest meldet.

„Nun, nun, Usa“, Miguel kratzt sich am Hals, „der Kleine findet in der Schule Bindungen an Menschen. Dafür habe ich ihn der großen Kraft anvertraut und ihm geraten, Schwätzer nie ernst zu nehmen, die gehen ihre Wege. Seinen beginnt er und erwartet nichts anderes!“

Miguel meidet Usas direkten Blick. Er senkt den Kopf, trinkt Kaffee, dreht dann den Becher vor einer Wange hin und her. Er öffnet und schließt die am Teller liegende Faust, doch das vermittelt Usa seine Einfühlung in die Besucher. Alsdann klingt seine Stimme angespannt nasal, als ob sie fest steckt.

„Die Schule in der Großstadt lehrt ihn, an seinem Weg liegen die Treppen, die von oben herunter gefegt sein sollten. So lernt er zu denken. Voll meine Absicht, denn wir verlieren uns nicht. Sein Elan soll die Rentabilität unserer Existenz sichern, im Blick nur Menschlichkeit, unser beider Gewinn. Dieses Paradox, das nirgendwo ein Arbeiter mag, liegt mir noch im Gedächtnis aus den vormaligen Jobs.“

„Aus dir spricht ein weiser alter Vater“, kommentiert schüchtern Anton, und trinkt rasch vom Kaffee.

Laute Schluckgeräusche hört Miguel, er senkt den eigenen Becher von der Wange, knallt den auf den Tisch. Ein Teil von Antons Druck, hebt Miguel das Kinn in Abwehr. Ihm gelingt rechtzeitig ein toleranter Schwenk, eine Tonlage tief heraus aus der Brust.

„Wer wie ein Mann altert, bemerkt den Prozess. Meine Körperlichkeit war über Jahrzehnte hinweg für mich schlechthin die eine prägnante Eigenschaft.“

„Na, ich merke meine Schwäche. Verflixt noch mal, bei der Arbeitseinstellung genauso“, stimmt ihm Anton zu. Seine Verzerrung, seine Mäßigung gefällt Usa gar nicht. Ihr voller Blick vermittelt zudem die Wichtigkeit der Wartens auf den Beginn des Frühstücks.

Ohne den Austausch der Blicke zu deuten, führt Miguel das Gespräch fort.

„Das lockert, Anton? Warst du jemals ein Vater, nach der Arbeit heimgekehrt in eine Familienbindung, die eher eine weibliche Weichheit am Vater haben wollte, zugeneigt dem einen Sprössling?“

Eine Augenbraue zieht Miguel zur Stirn hinauf, spöttisch über Anton schmunzelnd. Dann zupft er an seiner Nasenspitze und Oberlippe im Überlegen. Herab fährt die Hand, rupft am Hemdkragen, um sich auf sich zu besinnen. Seine raschen, einem Südländer entsprechenden Gesten faszinieren Anton und Usa und halten sie sogar ab, mit dem Essen zu beginnen. Miguels leise Worte erzwingen ein Zuhören.

„Ich war der Erstgeborene und Nachfolger, und ich hatte unserer nächsten Generation Sicherheit zu geben. Anfangs war mein Vater ein Vorbild. Sein Spaß an der Arbeit und an dem Leistungsdruck, der körperlichen Einsatz forderte von dem Ernährer der Familie, der Abhängigen. Ich empfand das zu bald als Last und Druck, nahm es zu ernst. Mein Leben war hart darauf gerichtet, nicht darauf, wer ich bin.“

Vor die Stuhllehne wirft Miguel den Rücken. Ein Signal für Usa, seine Rede gewinne an Farbe, auf die er sich besinnt, zumal er ihr nahe sitzt.

„Moderne Maschinen“, setzt Miguel spontan an, „mindern Gefahren der Knochenarbeit. Verletzungen bei körperlichem Einsatz entfallen weitgehend. Einzig wir Retter in Staffeln sind sporadische Helden und ernten Blessuren. Das sah ich ein, das änderte mein Selbstverständnis, doch nicht im Mindesten all die Sehnsucht nach den Abenteuern neuer Herausforderungen. Diese Lücke füllen manche Männer mit Sport.“ Vor seinem Magen wedelt Miguel abwehrend mit beiden Händen, hält inne in der Geste, lenkt ein. „Ein Freund vom Stammtisch, ein Paragleiter, genießt im Sprung in die Luft und im Risiko die totale Freiheit und zugleich eine Abhängigkeit vom Adrenalinschub. Aber sonst ist er passabel, auf ihn kann sich jeder Kollege verlassen. Er will nur nicht gelangweilt daheim Fußball schauen, falls im Berg keine Wanderer abstürzen. Seine Liebe gilt dem Abenteuer. Er behauptet, die Genetik eines Helden zwinge ihn in den Erfolg!“

„Glaubst du das auch, ist das so? Ja, dann baue etwas auf, gleiche einer zielstrebigen Frau.“

Längst hat Usa mehr Fragen. Doch die drücken nicht. Aus den Augenfalten heraus lächelt sie Miguel an und imitiert sein Aufwerfen der Hände in der Absicht, sie gestalte das Folgende mit Gleichklang.

„Sicher ist dir das Abenteuer mit deiner Lebensart entgegen dem dörflichen Usus. Oder nehmen das deine nächsten Nachbarn schweigend hin? Doch mehr könnte sich ergeben. Bewirkt deine Eigenart etwa auch eine Winzigkeit an Neugier auf einen Helfer bei deiner Tagesarbeit? Eine Änderung an dir kann weitere gut gemeinte herbeiziehen. Und sonst? Bist du gänzlich davon überzeugt, später würde dein Miguel den Betrieb tatsächlich übernehmen?“

„Denkst du, er will das nicht? Soll mein Schuften sinnlos sein?“, fragt Miguel lauthals. „Er hat nur die eine Option! Und nur die auf meine Kraft für die Plantage, an alles führe ich ihn heran, zeige ihm eine wichtige Männersache: Sei wilder als andere, dann lassen die dich in Ruhe. Es funktioniert, der Junge wünscht sich, er wäre ein Kerl, der was weg hauen kann ...“

„Der Wunsch kann eines Tages zerbrechen. Was wäre, wenn er erkrankt?“, widerlegt Usa, munter von seiner Heftigkeit. Miguels reiche Gestik nachahmend, reckt sie die Zeigefinger. „Das Größte wäre, er merkt, er darf schwach sein, verletzlich, er wäre geborgen bei lieben Leuten! Dann könnte dein Sohn, der noch ein Kind ist, sich zuvor einer Rauferei friedlich verhalten.“

„Wie soll das gelingen! In Rückschritten können weder er noch ich weglaufen! Nichts ist sicher, das ist das neue Feld der Helden. Und, auf den Sohn aufpassen, für ihn da sein, ihn für den Fall lehren, Einer ginge ihn quer an, verstehe ihn nicht. Männern gilt noch die Verteidigung der menschlichen Ehre.“

Wegen seiner emotionalen Erregung verpasst Miguel, scheinbar mit Absicht oder aus Zielstrebigkeit, Usas Hinweis , sein Arbeitsleben erleichtere ein Helfer. Sie wünscht ihm trotzdem einen Helfer bei der Arbeit und gegen seine Einsamkeit. Dann jedoch empfindet Usa seine angenehme Konzentration, und die erklingt ihr willkommen aus seiner Stimme. Aus seinem tiefer Bass und den hohen Tönen im Wechsel lauter Dynamik. Nach Balance suchend, wandern nunmehr Miguels Blicke umher.

„Alles flößt Furcht ein, kaum als Vater zu bewältigen. Manchmal kommt der kleine Miguel weinend von der Schule heim, und vorbei ist es mit unserem Glück. Immer wieder quält ihn ein Problem. Wie damals, als wir mit Bauklötzen seine guten Anlagen einübten. Daran denkt ein einsamer Vater.“

Usa, die mediale Frau, wippt unter dem Tisch mit einem Fuß, streift dort Antons Sandale. Er schaut hoch, noch versunken im Verstehen des Lebens, das der große und kleine Miguel teilen. Er bemerkt, Usa teilt sich durch den Tritt mit, sie wurde von dem nüchtern getrunkenen Kaffee nervös. Ihr bricht ein inneres Feuer aus. Hitze steigt in den Kopf, befeuchtet das blonde Haar, flutet über ihre Stupsnase und rötet die Wangen.

Innerlich seufzt Usa, wieder einmal wütet die Wallung nach Gutdünken! Oder richtet der Körper sich ein, da Miguel Turbulenzen austeilt? Dann hat die frauliche feurige Hitzewelle Gutes vor und bewahrt die Mitte mit Macht. Eine enorme Erkenntnis. Unversehens spürt Usa an ihrer Haut eine Abkühlung, ein Abdichten des warmen inneren Zentrum. Weit und klar wird ihre mentale Kraft, gespickt dann mit Teilen von Bildern, längs denen Usa zu sprechen beginnt.

 

„Des Lebens Faden verknotet Geheimnisse mit Weisheit. Miguel, hast du deinem Sohn für seine Zeit ohne dich einen solchen Wegweiser mitgegeben? Lian gab ihrem Sohn Jorge ein Werkzeug, mit dem er sich von den Hetzern, an Erfolg orientierten New Yorker Bankern, in Ordnung bringen kann. Seine Technik schult bestens seine kognitiven Fähigkeiten. Erinnerst du, was Jorge uns berichtete?“

„Ein wenig vielleicht. Jorge zu helfen war eher mein Anliegen. Weil er nicht mehr im fernen New York war, und nicht angekommen darin, wohin er dort strebt. Dafür suchte ich wie ein Vater mit ihm nach Lösungen und riet ihm, für sein Erforschen von allem Möglichen, er lebe nicht erst seit heute.“

Eine Hand hebt Miguel abwiegelnd. Es genügt, Anton in seinem irritierten Beobachten des Abklingens der Röte auf Usas Gesicht zu stoppen. Ihm steigt etwas auf. Es fließt ungehemmt über seine Lippen.

„Es war nicht Jorges erste einsame Lebensphase oder Innenschau. Du zeigtest ihm, am Tod von Lian, wie du das Sterben begreifst, wie das in der Natur. Du gabst Jorge Fragen, aus der allgemein weiblich deklarierten Orientierung auf des Lebens Quellströme, und die bewirken bei ihm Veränderungen.“

„Quellströme“, ergänzt Usa, derweil sie Bescheidenheit und innere Stärke ausstrahlt, und bei Miguel auf bereitwilliges Zuhören trifft, „lenken den Schwimmer. Eine kurze Weile schwimmt er darin, weil er, geklärt und einsatzfähig, danach zurück wechseln muss in den anderen Strom.“

„Und ob! In genug Wellen ging ich baden“, stimmt Miguel zu, „und glaube trotzdem an mich. Das gibt mir die junge Kraft, um mich dem Leben zu stellen. Mein Sohn lebt sein Leben ohne den besonderen Zauber meiner väterlichen Kontrolle. Dennoch bin ich für ihn längst nicht gestorben.“

Miguel steht auf, schlurft zum Kamin, schürt die Glut, hütet das Feuer eine Weile. Unterdessen bricht ein Sonnenfinger durchs Fenster und verfängt sich in den Karos am Arbeitshemd, wandert an Miguel über Rücken und Latzhose. Ein Quadrat aus Helligkeit fällt auf die grauen Bodenfliesen, springt von dort in den Raum und breiter an die Wände, die ihre gelben Farbverläufe aktivieren und freundliche Behaglichkeit ausstrahlen. Offen in seinen Zügen kehrt Miguel zurück, er neigt sich am Tischende zu Anton. Für ihn spricht er mit heiterem Beiklang.

„In mir lodern allerhand Ideen, um auf meine Art aktiv zu werden. Das nenne ruhig mit Recht weiblichen Quellstrom. Du weißt, welche Geister die Männer antreiben, die neben Frauen die besten Plätze auf der Rangliste erkämpfen. Doch wer ringt öfter mit den hilfreichen Fragen, kommt rascher voran? Die Frauen nutzen ihr offenes Gespür für sich, vermittelte Lian über ihr Töpfertalent.“

Kurz nur verzerrt ein Hauch von Schatten das Gesicht Miguels. Doch Anton zugewandt lehnt er eine Hüfte an die Tischkante, reckt mehrfach die Hände in betonenden und ausmalenden Gesten.

„Nicht über Lian will ich reden. Ich traf einen neuen Mann am Stammtisch, der auch meint, er kenne seine weibliche Seite. Ich verlangte Erklärung, beobachtete ihn und ahnte die Körner seiner Ehrlichkeit, vor denen Logik versagt, da er von seiner Wahrheit sprach.“ Sich besinnend, nickt Miguel, führt dann aus: „Manches klang unwahr, ein Kollege verwarf anfangs seine Ansicht als Ulk. Dem putzte er mit einer reifen Antwort die Ohren. Wer wisse je genug, könne alles erklären? Aber eines wisse er gewiss: Frauen hätten den gleichen Herzschlag, er fürchte sie nicht. Längst stellte die Embryonen-Forschung fest, dass ein männlicher sich aus dem weiblichen heraus entwickle. Deshalb, meine er, des Mannes Instinkt für einen Perspektivenwechsel auf die weiche Weite der Liebe wäre nicht weit weg.“

Ergriffen von seiner Schilderung, reibt Miguel sein Kinn. Unter der Hand schnauft er und doch mag er mehr frei heraus erzählen.

„Der hinzugekommene, der ungewöhnliche Mann fragte uns alle, ob ein Neinsager an Stelle von Sanftheit einen weltweiten Terror bevorzuge, sich dem aussetzen will. Der träfe die Wahl für Kampf, oder, das eigene Sanfte anerkennen und schätzen, bevor er ins Gras beiße. Das wäre reif, führe heraus aus dem Krampf. Also, ich verstand ihn, der Neue sah mit den Augen des Herzens. Und, Anton, wundere dich nicht, er sah meinen Sohn niemals, aber er sprach über ein Paralleluniversum, das den Söhnen eine Zeit bringe, wo das Weibliche mehr Macht erlange und ebenso eine kindliche Mentalität. So eine Änderung knacke bei allen Beteiligten harte Nüsse. Sein Argument roch nach inneren Abenteuern, ich hörte es gern. Leider fährt er nur sporadisch in den Westen, er lebt in Funchal. Dort, ich bat ihn, steht er Miguel bei, sollte etwas sein. Denn er sieht die Kinder als Träger des Erbes, die Zukunft der Erde. Ihre Wesen will er im Teilen betreuen und im Vergessen von Geiz, und im Erhalt ihrer Daseinsfreude. So etwas lernen Kinder nur von besten Freunden! Ola, ich mag seine ungewöhnliche Kraft.“

Von Miguels sich ausbreiten, tanzen Usa heftigst viele Flusen vor den Augen. Im sonnig hellen Wohnraum schweben allerhand Staubteilchen. Daran gewöhnt ist mehr oder weniger jede Frau, kann darüber hinweg sehen. Usa im Moment unmöglich. Sie verbindet den Reiz am Wort ungewöhnliche Kraft mit dem Stich der Feder, mit dem eingangs innen glühend Roten. Ein lästiges Gemisch. Usa blinzelt, weitet im Wechsel die Augen, rückt das rote Geflimmer als ungewollt heraus bis sie nur einige im Raum schwebende Staubflocken sieht. Kaum als solche, gewahrt sie an Miguel Freude. Er hat einen guten Freund am Stammtisch, und den am Esstisch. Anton antwortet ihm soeben mit einer völlig überraschenden Feststellung.

„Verstehe, Miguel, der bemerkenswerte Stammtisch-Freund hatte die Idee mit dem Flug des Schamanen! Mir begegnete im Sommer, aus heiterem Himmel oft, der Zuspruch meines indianischen Lehrers. Wir sind inzwischen online vernetzt. Er betreut Europäer, übernimmt unsere schamanischen Flüge. Ich traue ihm, er bringt mich für das Inselleben auf Trab, beim Heilwerden vom äußerlichen sozialen Usus.“

„Die Zeit hat dich geprägt“, meint Usa leise, mit Tiefe in der Stimme, „aus deiner Substanz webst du deine Welt.“ Sie dreht und neigt sich seitlich, zeigt auf die Sterne aus Vogelfedern neben dem Kamin. „Madeiras Natur legt Geschenke vor die Füße in all dem Urwüchsigen in den Bergen, die eine Menge Weiblichkeit an sich haben, sofern man sie sein lässt, ohne Brände.“ Usa rutscht zum Tisch, betrachtet Anton milde liebend. „Du sahst ein Chaos, den Baum, der von Spinnen gewebte Netze zerstörte, mit denen sie Beute holen. Zu anderer Zeit zuckst du viel mehr auf, als ob dir eine Beute verloren ginge.“

Anton schluckt, auch den spruchreifen Hinweis, spaziere Usa später durch die Rosenplantage, erlebe sie keinen Verzicht auf Beute. Seine Mundwinkel streift er ab, seitlich mit Daumen und Zeigefinger. Es knistert dort bereits. In Kürze schmunzelt er, weil Usas Magen so laut knurrt wie der an Miguel von dem Drang nach Essen und Zufriedenheit.

Sieh an, Miguel schlurft zum Regal, durchsucht die Vorräte, trägt allerlei Eingemachtes herbei. Den Deckel am Glas einer Konfitüre öffnet er, stellt es zu den mitgebrachten Glastöpfen und neben die reichhaltige Schinken-Käse-Platte. Anton reckt sich, entfernt behände die Schutzfolie, doch hält inne.

„Ich muss anhängen, Miguel, seit ich den Sommer auf Madeira kenne, schätze ich meine vorherigen alten Beutezüge und Schicksalsschläge und die Erfahrung mit Therapeuten und Lehrern als Voraussetzung, in Ruhe zu altern. Jeden Tag in anderer Art ausprobieren, nehme ich mir vor für den Prozess auf den Wellen am Urstrom, im Schaukeln zwischen meinen bisher erlangten Kenntnissen.“ Mit zehn Fingern streichelt er vor sich den Rand am blanken Teller, atmet für den Moment die fernen würzig-fettigen Aromen tief ein. Frisch gestärkt setzt er nach: „Als wir heute unsere Quinta verließen, ahnte ich nicht, du würdest dich als einsamen Vater bekennen. Ich dachte nur, mir täte es gut uns zu treffen ...“

„Und uns dreien zur Ehre miteinander zu essen“, stoppt Usa, in heller Sprachmelodie, seine Rede und sieht ihn den Mund schließen. „Der Brunch wird dein inneres Geflüster mit frischer Energie nähren.“ Mit dem Zeigefinger an der Stupsnase, die schon über der Marmelade hängt, erklärt Usa: „Vieles im inneren Reich liegt ungehört, will sich schmecken lassen. Jetzt nicht mehr, es ist genug. Wozu nutzen unsere Geistesgaben, im Leben müssen wir auch Schwein haben.“

„Treffender Reim, Usa, könnte auf Mist gewachsen sein“, entgegnet, heiß erwischt, Anton. „Schwein hatten wir vor dem Baum, dank Miguel. Der Räucherschinken befindet sich in bester Gesellschaft.“

Mit Fingerschnippen lädt Anton sofort Miguel ein, etwas von den Schinkenscheiben zu erbeuten, so flink wie er selber zugreift. Danach glücklich wie Miguel kichernd, schaut er Usa an.

„Ja ja, sage nicht, diese Schweinerei schade über kurz oder lang! Das Verbotene verjüngt den Instinkt im Geist im inneren Ohr, der schwerhörig wird, wie so oft bei allem Vordergründigen.“ Kaum gesagt, trifft Anton kalt das Traumgeschehen im Schlaf und den Schemen von Carel im dichten Nebel. Den halben Weg seiner Hand an ein Ohr unterbricht er, und murmelt: „Das Stimmchen im Ohr erzählte im Morgengrauen von neuen Stimmen und Farben, von anderer Leute neue Eigenschaften.“

„Die im linken Ohr?“, fragt Usa, Antons Griff hinauf deutend. Er denkt mehr, als er wagt mitzuteilen.

Miguel stößt ein Lachen aus, klatscht in echter Insulaner-Manier die Hand flach vor seine Stirn, einzig ihm geltend. Er dreht sich um, entnimmt dem Regal einen Untersetzer und der Feuerstelle die rußige Kasserolle, stellt sie vor seinen Platz. Den Deckel hebend, quillt warmer Duft von frischem Brot hervor und unter seine Nase. Breit in die Runde grinsend, setzt sich Miguel.

„Ihr riecht ein Pao de Caco, das Ergebnis einer meiner neuen Eigenschaften. Im Warten auf euch habe ich den Teig mit Brei aus Süßkartoffeln geknetet und in die Form eingefüllt. Während wir prächtig plauderten, sollte es fertig backen. Ihr seid eingeladen, essen wir das Herdbrot gemeinsam.“

Anton flitzt zum Regal, wählt dort ein langes Brotmesser und reicht es Miguel, eilig sich setzend.

„Schneide die Köstlichkeit an, von mir gibt es auch eine neue, leckere Kräuterbutter mit Salbei, Bärlauch und Bohnenkraut, passend zum Herbst.“

Er deutet auf ein Glas mit dunkelgrünem Gemisch. Miguel nickt ihm zu, stochert und lockert schon an der Kruste den Rand des drei-Finger-hohen Brotfladen. Er legt Usa das erste Stück auf den Teller, den sie vor sich nimmt, Miguel unterdessen anlächelt und meint:

„Die neue Eigenschaft erlangt Macht und Energie aus dem voraus Gedachten und das duftet vor uns.“

Weich blickt Usa Anton an, bezieht Miguel ein, legt ein Giggern in die Stimme.

„Ebenso empfinde ich, wenn Anton mit mir zu den Sternen reist, wir endlos schweben mögen. Leider hält uns eine weise Quintessenz von dem Endlosen ab, hält uns in Distanz auch zu den rasanten Flügen anderer. Langsam in ein Vorhaben zu gehen, ist mir Frau so wichtig wie das mit Anton Erdachte. Dir mitgebracht und aufgetischt. Ab jetzt sind wir Drei uns noch mehr wohl gesonnen, und reicher an Beute, wenn wir in diesem Dreiergespann spielen. Ich ließ mich hineinfallen, verlor mich ein wenig darin, das fühlt sich gut an.“

Aus der ulkigen Rede zieht Anton ein kleines Licht. Dann auch eine Helle in einer Sturmleuchte, und davor steht Carel im frühen lauen Abendwind. Bevor Anton sich darin verirrt, verlöschen die Lichter. Die Freistelle besetzt Miguels Aufgabe am Sohn und irgendwie auch die tiefe Erkenntnis, er selber sei bald ein Leihopa, er würde spielen, er ahnte es, er wusste es längst! Mit den Kindern spielen, in ihren Sphären abtauchen. Niemals wieder der Außenseiter von einst sein. Ups, geht das?

Vor Freude klatscht der innere Bub in die Hände. Dem erwachsenen Kerl wärmt ein Staunen das Herz und eine Fackel heller Einsichten.

Das Zappeln falle weg. Ganz und gar und wahr, denn wer könnte jetzt noch die Balance von Wunsch und Realität zertrampeln? Einzig nur das Misstrauen des trostlosen, bedürftigen Buben, der nie spielte, dem gesagt wurde, bei so einer Mutter lebe er in keiner anerkannten Familie. Das war einst, heute ungültig! Der Bub hat Talent und mehr haben die Freunde in der Wahlfamilie auf Zeit. Ein guter Grund zum Lachen, denn jedes Lachen weckt die schlummernden Talente.

Dankbar für sein kleines Glück, halbiert Anton seinen Anteil am warmen Brot, klappt die Hälften auf, belegt sie mit dem eingemachten Gemüse aus Miguels Vorrat. Er bedient sich ebenso reichlich wie seine Freunde, probiert von allem, spart nicht mit Lob. Schließlich leckt Usa über ihre mit Marmelade bekleckerten Finger, lehnt sich im Stuhl an, legt die Hände an den Bauch, dreht den Kopf zum Fenster. Dessen Sprossen teilen das Sonnenlicht und reflektieren das Gelb von Usas Bluse deutlich in Antons Blick hinein. In Bälde interpretiert er Usas Träumerei hinaus.

 

„Magst du die Rosenplantage ansehen, deinen Eindruck von Miguels Wesen und Wirken komplett machen? Dann würde auch ich gerne mit euch beiden nach draußen wechseln.“

Indes Miguel die vertrauten Wege entlang geht, neben sich die Besucher, ändert sich die Formation. Seine Führung wird nirgendwo benötigt in der Hanglage, die kaum Neigung aufweist auf schmalen, teils sogar breiten Pfaden. Überschaubar angeordnet vor bemerkenswerten Bruchsteinmauern, die auf den Terrassen die Rosenbüsche vor Wind schützen. Anton sieht an den Wegrändern hohe und niedrige, stehengelassene wilde Kräuter, geht gerne voraus. Bald dann wechselt er vor Usa in einen hüpfenden Rückwärtsgang, ihr zugewandt in fast fürsorglicher Zärtlichkeit. Dabei streichelt ihn eine rastlose Bö aus dem Meerwind, die das Geräusch der Schritte übertönt und am Kopf Haare aufstellt, Strähnen löst, ihn mit Hörnchen krönt.

Miguel lächelt über Anton, der Usa während dem Rundgang wie ein spielender Welpe umkreist. Mit einer Hand, die andere in einer voluminösen Westentasche, zeigt Anton Usa die Aussicht zum Meer, vor dem das graugrüne Areal der Rosenbüsche in der Sonne nass und blank blinke, wie angehoben ausgebreitet. Dem stimmt leise, sich heraus haltend, Miguel zu, er beobachtet nur beide, lässt Anton gewähren.

Brav blickt Usa seinen Fingerzeigen nach. Anton erklärt ihr sogar den leise reibenden Wind an der Feuchte der Mauerquader vor der weichen Erde. Am Duft der Erde vermutet er lebendigen Kompost im Humus, nicht wie anderorts den Giftschleier der Unkrautvernichter. Zufrieden, geheimnisvoll sagt er wenig später, er höre ein Muschelrauschen links im Ohr, doch meine sein Logo, es stamme aus der rotierenden Luft auf den Steinen, aus den Geräuschen der Umgebung. Weit besser gefalle ihm eine asiatische große Muschel.

Sein Gerede und Gehampel wird Usa kurzum zu dumm. Sie präsentiert Anton, ohne ihn anzuschauen, eine erhobene Hand, schlendert allein zur nächsten beinahe brusthohen Mauer, vor einen Rahmen aus Holz mit Fächern, halb gefüllt mit allerlei Natürlichem. Dies Ding, obgleich hinter einem engmaschigen Drahtgeflecht geschützt, kommt ihr ohne Weiteres wie ein Müllschlucker vor, aber dient ihrer Hand auch zur festen Stütze. Usa klettert recht gelenkig nach und nach auf winzigen Stufen und Spalten die Mauer hinauf, blickt darüber hinweg in die Ferne über dem Hang der Plantage, landeinwärts vor die Bergkette.

Zu ihr - ihre gelbe Bluse prangt und wankt dort oben wie eine pralle Zitrone in luftiger Höhe - blickt in einem tonlosen Glucksen Miguel. Er hält kaum sein Verständnis für sie aus, und kaum seine Vermutung ob einem Grund für ihr Abwenden von Anton. Denn zu Recht könnte er sich täuschen.

Die Hände auf die Hüften gestützt, noch das Wackeln unter den Schuhen mit den Knien und Schultern ausbalancierend, doch ohne einen sauren Gedanken, staunend ruft Usa herunter, mit fester Stimme:

„Mich verblüfft die späte Pracht dieser Rosen, Miguel! Ein Schatz an Farben wächst auf der grünen Zone. Sattes Grün, wohin das Auge reicht. Eine Natur prall von Schöpferkraft und großartigen Kunstwerken. Für meine Ideen sehe ich immense Gestaltungsmöglichkeiten in den Formen der Blätter. Sie wachsen in den Himmel, hinauf zu den Formationen der Wolken. Eine Fülle an Inspiration berührt mich, klingt klar in mir und schäumt mich weit auf, stimmt ruhig und friedlich. Du hast dir hier eine herrliche Welt geschaffen, deine wundervolle Heimat mit all den Sichtachsen. Darin knospen, als ob du sie zufällig hinein gestreut hättest, zartrosa Rosen bis in die hinterste Ecke deiner Anlage, sogar im November!“

„Jetzt und im Dezember blühen sie nur zum Schnitt für die Vase“, fällt Miguel ein stolzer Sprachklang aus der Kehle. Usas Lob hebt ihm das Kinn und an einer Hand den Daumen. Er nähert sich Usa. „Von den Blüten im Mai, wenn ihre Vielfalt und Kräfte frisch losgelegt haben, bringe ich die Ernte ein.“

„Aha, von den voll des Lebens zarten Rosen. Schon jetzt schärfen sich meine Augen mehr und mehr für ihre Farben“, ergänzt im Ausguck Usa. „Bezaubernd im Kontrast zu brüchigen Mauern, teils uralt.“ Wie von selbst betasten, begreifen Usas Hände an den Hüften ihrer Rubensfigur eine Parallele, die ihr spontan über die Lippen sprudelt. „Zwischen den Steinen geht das Bindegewebe auf Reisen. Dorthin, wo es nicht hingehört, irgendwann liegt es auf der Erde!“

„Vor der Station endet jeder Heimgang“, fügt Anton ernsthaft an.

Er hält sich absichtlich einige Schritte fern von Miguel, der seine Betroffenheit mit einem Grinsen kaschiert. Ihn sollte mehr Wissen umstimmen und beeindrucken. Zudem sollte Usa hören, er akzeptiere ihre Neugier und ihren Alleingang. Für sich beschließt er, er unterbreche sein Spiel mit ihr, in allen Sinnen wach.

„Ich weiß von der Bulgarischen Ölrose, sie blüht nur einmal im Jahr zur Ernte, aber dann reichlich, bevor sie stirbt.“

„Ja“, steigt Miguel ein, mit dem Kopf wackelnd, „aber meine Plantage im immer milden Klima der Insel ...“ Miguel gestikuliert in der Manier des Insulaners, wirft beide Arme vor der Nase hoch und die Hände voraus, nach rechts rückend in kurzen Etappen, als ob er an jeden einzelnen Strauch in der Pflanzung denke. „Ich bevorzuge Sorten, die in heißen Sonnenstunden genauso gedeihen wie bei kalten Stürmen. Beim Aufbinden achte ich auf ihre Insekten, denn in sonnigen Stunden lockt der Duft in Scharen die tierischen Besucher an. Sie schwirren überall. Wäre ich ein Imker, gäbe es Rosenhonig.“

Aufmerksam sieht Usa auf ihn herab, auf seine eingezogene Unterlippe, die andeutet, heikel wäre die Pflege von Bienenvölkern. Dann deutet Miguel mit einer Hand auf einzelne Abteile in dem Kasten.

„Von Süden fliegen Nützlinge in das Insektenhotel, krabbeln durch den Maschendraht. Mehr Totholz mit mehr Bohrlöchern soll nachgelegt werden für die dicken Insekten, die Blattläuse fressenden bevorzugen die Macken in morschen Hölzern. Siehst du die winzigen Makel? Ich meine, die Fächer im Rahmen gestalten aus dem Ganzen etwas anschaulich sehr Schönes. Ich denke manchmal, auch Menschen werden durch Fehler und Paradoxien so interessant wie diese skurril geformten Ästchen.“

„Deine fundierte, keineswegs oberflächliche Einsicht gefällt mir!“, erwidert Usa prompt und springt fröhlich grinsend von der Mauer. Der Sprung schwingt ihr im Körper, derweil sie im Kasten den Abfall aus bröseligen hellen Holzstücken in den halb vollen Fächern neugierig anschaut. „Also wohnen Nützlinge in den kleinen Macken, daran ist eine Menge Wahrheit. Denn, als nützlich anerkennen wir eher selten die eigenen oder die kleinen Eigenheiten unserer Freunde. Wer von uns hat keine Macke und kennt die seit Jahren bestens?“ Sich reckend, glänzen ihr die Augen vor Spaß. Dann blickt Usa ein wenig ernsthafter Miguel an. „Von deiner bemerkenswerten Wesensart habe ich heute viel erfahren und danke dir. Vielleicht auch mit dem erneuten Tipp? Du willst das Hotel vervollständigen, hast aber selten eine Stunde Muße für die faszinierende Idee. Könnte sein, du triffst unverhofft einen künftigen Helfer oder einen Imker, denen du die Plantage zeigen könntest. Eventuell...“ Zu Anton blickt Usa, der sie hingerissen anschaut, und dabei seine zerzausten Haare glättet und bedeckt hält. Er ist ihre Liebe wert und in Kürze auch ein Sticheln. „Der versierte Baumeister Maik könnte die Zwischenräume im Insektenhaus fertigen und ausstopfen mit Haaren, Lorbeerblättern, Nadeln und Rinde von Pinien. Na, Anton, setz ihn ein“, fordert Usa, „vereine euch beide ideell bei einem prallen Sack Abfall.“