Mord am Campus

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Sari: Boston Law #1
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Dienstag, 30. August 2016

»Hätte das nicht bis zum Morgen warten können? Leichen laufen nicht davon«, maulte Detective Johnson vor sich hin, als sie in der Dunkelheit über den geschichtsträchtigen Campus der Harvard Universität zwischen den unscheinbaren Backsteinhäusern in Richtung der Harvard School of Law stapften. »Ich hatte grad eine heiße Blondine an der Bar aufgetan.«

 Ein missbilligender Blick von seinem Kollegen Monroe traf ihn. »Und du denkst, diesmal hätte es geklappt?«, fragte dieser zynisch.

 Beleidigt wandte sich Johnson an den am Eingang stehenden Polizisten. »Was steht an?«

 »Ein Jura-Professor, Dr. Rufus Sommersby, wurde in seinem Büro vom Wachdienst tot aufgefunden. Zweiter Stock links, Zimmer 215.«

 Die Detectives schritten über die Treppe in den zweiten Stock. Das Büro war leicht zu finden, am Gang wimmelte es von Polizisten. Im Büro des Opfers war die Spurensicherung am Werk. Die Gerichtsmedizinerin beugte sich über den Toten am Boden.

 »Hallo Doc, keine bessere Beschäftigung für eine so schöne Nacht gefunden?«, fragte Johnson anzüglich und zwinkerte Monroe zu. Der drehte seine Augen über und dachte nur ›Idiot.‹

 Mary Brighton, deren üppige Figur von Johnson mit den Augen verschlungen wurde, antwortete kurz angebunden, dass sie soeben eingetroffen und noch dabei sei, sich einen Überblick zu verschaffen. Die Detectives schauten sich um.

 Ein älterer Mann mit weißen, kurzen Haaren in dunklem Anzug lag auf dem Rücken, die Krawatte leicht gelockert. Die Augen erstaunt aufgerissen, so, als könnte er nicht glauben, was mit ihm passierte. Neben ihm lag eine Schere mit rotem Griff.

 Die Gerichtsmedizinerin richtete sich auf. »Eine Einstichwunde am Rücken. Scheint ihm mit der Schere beigebracht worden zu sein.«

 »Scheint?«, hakte Monroe nach.

 »Ja, scheint. Genaueres kann ich erst nach der Obduktion sagen, aber ich sehe im Moment kein anderes Werkzeug, das ihm diese Wunde am Rücken zugefügt haben könnte.« Dabei drehte sie den Toten so, dass die Einstichwunde mit dem verkrusteten Blut sichtbar wurde.

 »Müsste dann die Schere nicht in seinem Rücken stecken?«, fragte Monroe zweifelnd nach.

 »Außer, jemand hat sie ihm nach dem Tod herausgezogen. So sieht es im Moment aus«, antwortete sie knapp.

 »Todeszeit?«, wollte Johnson wissen.

 »Nicht so lange her. Höchstens vier bis sechs Stunden. Also zwischen zwanzig und zweiundzwanzig Uhr gestern Abend.«

 »Sonst noch was Relevantes für uns, Doc?«

 »Nein, im Moment nicht. Mehr nach der Obduktion. Wie immer«, fügte sie sarkastisch an.

 Johnson drehte sich schmollend um, da fiel sein Blick auf einen glänzenden Gegenstand neben dem Kopf des Toten.

 »Was haben wir denn hier?«, überlegte er laut und hob einen goldenen Füller vom Boden auf. »Vom Opfer?«, wandte er sich an die Gerichtsmedizinerin.

 Diese schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Er lag direkt neben dem Kopf des Toten, als ich eintraf.«

 »Es sind Initialen eingeritzt. Wie hieß der Tote noch mal?«, blickte Johnson fragend auf seinen Kollegen.

 »Dr. Rufus Sommersby.«

 »Rufus, komischer Name. Aber dann scheint das nicht sein Füller zu sein. Hier sind die Initialen B.F.W. eingraviert und ein komisches Wappen«, und damit reichte er den Füller seinem Kollegen, nicht ohne ihn vorher in einen Plastiksack zur Beweissicherung zu stecken.

 Monroe starrte auf die Initialen und sagte gedankenverloren: »Benjamin Franklin.«

 Johnson lachte. »Also, wenn ich beim Geschichtsunterricht aufgepasst habe, ist der schon länger tot als der Typ hier, oder irre ich mich?«

 »Idiot«, fuhr ihn Monroe an. »Wenn mich nicht alles täuscht, gehört dieser Füller Benjamin Franklin Warden, von seinen Freunden kurz Ben genannt«, fügte er gehässig hinzu.

 »Du meinst den Warden?«, fragte Johnson ungläubig.

 »Genau. Den Warden, der – darf man den Gerüchten glauben – für den Senatsposten unseres schönen Bundesstaates Massachusetts kandidieren möchte.«

 Johnson pfiff durch die Zähne. »Bist du sicher?«

 »Zu neunundneunzig Prozent«, und ein grimmiges Lächeln glitt über sein Gesicht. »Aber ich weiß, wen wir fragen können.«

 »Na, am besten den Herrn persönlich«, meinte Johnson.

 »Nein, wir befragen zuerst seine Sekretärin. Damit wir eine eindeutige Bestätigung von dritter Seite haben.«

 »Du denkst doch nicht, dass dieser Warden der Täter sein könnte?«

 »Warum nicht?«, äußerte Monroe grimmig. Endlich, dachte er, endlich habe ich etwas in der Hand, um gegen diese Familie vorgehen zu können. Er freute sich auf die direkte Konfrontation mit Ben Warden.

 

 

 

Ein glückliches Lächeln um die Lippen trank Ben eilig seinen Morgenkaffee. Es war schon spät, seine Partner in der Anwaltskanzlei, eine der größten Neu-Englands, warteten bereits auf ihn. Er hatte gestern kurzfristig eine Zusammenkunft vereinbart, um seine Scheidungsangelegenheit zu besprechen, da Caroline ebenfalls Partner der Kanzlei war.

 Zärtlich dachte er an die letzte Nacht, als er sich in der Vorhalle einen leichten Mantel überwarf, denn für Ende August war es empfindlich kalt in Boston. Noch nie war er mit einer Frau so eins wie mit Lilly.

 Sie war nicht nur eine bezaubernde junge Frau, sondern auch eine bemerkenswerte Geliebte. Seine Geliebte, dachte er beglückt. Er nahm sich vor, die Scheidung von Caroline schnellstmöglich durchzuziehen, auch wenn er dadurch bluten musste. Er wollte Lilly zu seiner Frau machen. Zu seiner Ehefrau. Das würde zwar für einen Skandal sorgen und er konnte seine Ambitionen auf den Senat endgültig begraben. Doch Lilly war es wert.

 Als er sich überlegte, ob er für einen Abschiedskuss auf einen Sprung in ihr Zimmer laufen sollte, schritt sie die Treppe hinab. Bekleidet mit einem Seidenbademantel, der ihre Brustwarzen durchschimmern ließ. Entweder war ihr kalt oder ...

 »Guten Morgen Ben«, sagte sie verlegen und blieb auf der letzten Stufe stehen. Bisher war sie die Treppe hinabgestürmt, wenn sie ihn gesehen und dabei fröhlich gerufen hatte: ›Hi Dad, gut geschlafen?‹ Und ihn herzlich umarmt hatte. Jetzt fügte sie zögerlich an: »Hast du gut geschlafen?«

 »Ja mein Liebling. Das habe ich. Nach dieser wundervollen Nacht, die du mir geschenkt hast. Und du?« Er trat auf sie zu, zog sie für einen zärtlichen Kuss in seine Arme.

 »Wunderbar«, flüsterte sie. »Musst du schon fort?«

 »Ja, leider, Don und die anderen erwarten mich bereits. Aber ich beeile mich. Sehen wir uns nach der Besprechung?«

 »Ich muss kurz zur Uni, Tutorenstunde bei Dr. Sommersby«, lächelte sie ihn liebevoll an. »Danach komm ich gleich zurück.«

 Der Name ihres leiblichen Vaters versetzte ihm einen Stich. Wie sollte er ihr das nur beibringen? Er musste es heute hinter sich bringen, bevor Caroline es auf ihre nicht sehr sanfte Art und Weise ausplauderte.

 »Gut, dann bis später mein Liebling«, und er küsste sie das erste Mal bei Tageslicht auf den Mund.

 »Ich liebe dich Lilly«, flüsterte er in ihr Haar.

 »Ich weiß«, antwortete sie selbstbewusst.

 

 

 

»Du meinst, ihr wollt euch scheiden lassen?«, fragte sein langjähriger Freund und Partner Charles Spencer, für Geschäftsverträge zuständig, ungläubig.

 »Ja«, nickte Ben in die Runde. Er betrachtete die Gesichter der Menschen, die um den Konferenztisch saßen. Zum Teil arbeitete er seit Jahren mit ihnen zusammen

 »Und du Charles«, wandte Ben sich an den Angesprochenen, »wirst die Papiere aufsetzen, die Caroline als Partnerin aus der Kanzlei ausscheiden lassen. Sie wird keinen Cent mehr bekommen, als ihr unbedingt zusteht. Hast du mich verstanden?«

 »Das kannst du nicht machen. Sie ist deine Frau. Wovon soll sie in Zukunft leben?«, fragte Charles aufgebracht.

 Ben zog die Augenbrauen zusammen. Was sollte das?

 »Ist dir klar, dass es um unsere Kanzlei geht? Warum sollten wir Caroline auszahlen, obwohl sie nie auch nur einen Strich gearbeitet hat?«, formulierte er schärfer, als er wollte.

 »Nein, da spiele ich nicht mit«, antwortete Charles trotzig.

 »Warst du einer ihrer Liebhaber?«, fragte Ben verächtlich. Charles senkte die Augen. Nicht nur ihr Liebhaber, dachte er.

 »Nein, das glaube ich nicht. Du als mein vertrautester Partner? Als Pate von Lilly?« Ben war außer sich. Charles, Caroline und er hatten gemeinsam in Harvard studiert. Er hatte ihm die Partnerschaft angeboten, da Charles ein fähiger Anwalt war und unheimlich gut mit Klienten umgehen konnte. Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass ...

 Die Spannung war greifbar. Charles schaute Ben angriffslustig an. Nun werde ich mich einmal durchsetzen, nahm sich Charles vor. Ständig stand er in der zweiten Reihe. Caroline hatte ihn geliebt, aber Ben geheiratet, weil der reich war. Charles hatte das Angebot der Partnerschaft nur akzeptiert, weil er damit in Carolines Nähe bleiben konnte. Doch Ben hatte er immer gehasst.

 »Verlasse diesen Raum«, sagte Ben eisig. Seine Stimme und seine Haltung erlaubten keinen Widerspruch. Ben strahlte eine natürliche Autorität aus, der man sich nur schwer entziehen konnte. Seine Erziehung und seine Herkunft ließen ihn wie einen Aristokraten aus der Alten Welt wirken, was er nach amerikanischen Verhältnissen auch war, denn seine Familie gehörte zu den ersten Einwanderern.

 

 »Ich ...«, wollte Charles antworten, Ben jedoch unterbrach ihn schneidend. »Raus. Sofort!«

 Charles erhob sich und ging langsamen Schrittes aus dem Raum. Als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, blickte Ben in die Runde. »Wer war noch ihr Geliebter?«, und dabei sah er einem nach dem anderen in die Augen.

 Nur Don DeCarlo, seit fünf Jahren Partner in der Kanzlei und ein ausgezeichneter Strafverteidiger, obwohl erst Anfang dreißig, erwiderte seinen Blick offen. Hätte mich gewundert, wenn du Carolines Charme erlegen wärest, dachte Ben bei sich. Obwohl Caroline nach wie vor eine hinreißende Frau war, so war sie doch um einiges älter als Don. Außerdem wusste Ben, dass Don in Lilly verliebt war. Armer Don. Nun konnte er seine Ambitionen zu Grabe tragen. Kurz zuckten Dons Augenlider. Hat er doch?, fragte sich Ben. Und ihm fiel das vergangene Weihnachtsfest in den Firmenräumlichkeiten ein, das Don relativ früh verlassen hatte, nachdem er zuvor mit Caroline in sein Büro verschwunden war. Nein, entschied er für sich, Don war nicht so ein Idiot, um auf Caroline hereinzufallen.

 Seine Augen glitten weiter, zu Loyd Sachs, ebenfalls Strafverteidiger. Der hatte seinen Blick bei Bens Frage gesenkt. Auch einer, der bei ihr schwach geworden ist, dachte Ben nur mitleidig. Wie der nächste in der Runde, Willy Blake, Wirtschaftsfachmann wie er selbst.

 Ben seufzte auf. Also konnte er die Angelegenheit nur Kathleen Stewart übertragen, die Jüngste in der Runde. Kathleen war vor ungefähr einem Jahr in die Firma eingestiegen und er hatte ihr sofort die Partnerschaft angetragen. Nicht nur, weil ihr Vater bereits Seniorpartner und letztes Jahr plötzlich verstorben war und Frau und Tochter ohne Vermögen zurückgelassen hatte, das er mit diversen Liebschaften und Spielsucht durchgebracht hatte. Sondern weil Kathleen etwas Besonderes war. Bildhübsch und ausgesprochen klug. Sie war eine brillante Anwältin, spezialisiert auf Partnerschaftsabkommen und hat der Kanzlei zu einflussreichen Klienten verholfen. Caroline hatte nach ihrer Einstellung getobt.

 »Du willst wohl mit ihr ins Bett?«, hatte sie ihn hämisch gefragt. »Das werde ich zu verhindern wissen«, und war schnurstracks in Kathleens Büro marschiert. Ihre kreischende Stimme war gut zu hören gewesen und ihr peinlicher Auftritt war noch lange Gesprächsthema unter den Angestellten.

 Er hatte Mühe gehabt, Kathleen zu halten. Trotz seiner Entschuldigung wollte sie die Kanzlei sofort verlassen, er aber konnte sie überzeugen, dass Caroline nur aus gekränktem Stolz so gehandelt und er selbst keinerlei Absichten an ihr hatte. Er schätze sie als Anwältin, kein anderer Grund war ausschlaggebend für ihre Einstellung, hatte er ihr erklärt. Kathleen war geblieben und als Dankbarkeit hatte er ihr kostenlos die Partnerschaft übertragen.

 »Gut zu wissen, wo man steht«, meinte Ben nach einigen Minuten spöttisch. »Dann werde ich diese Aufgabe an Kathleen vergeben. Willy, du übergibst Kathleen die Partnerverträge und weihst sie in die Fallstricke ein. Alles Weitere werde ich mit Kathleen unter vier Augen besprechen. Und meine Herren«, und er blickte erneut von einem zum anderen, »sollte einer Caroline über das, was hier besprochen wurde oder was noch besprochen wird, informieren, so hat dies eine sofortige Auflösung der Partnerschaft zur Folge. Und zwar ohne Entschädigung. Und ich mache euch öffentlich fertig. Ist das klar?«

 

 

 

Ben kam erst am späten Nachmittag nach Hause. Die Besprechung mit Kathleen hatte länger gedauert als gedacht, aber er wusste, dass der Auftrag in guten Händen war. Sie würde Caroline nicht schonen. Außerdem hatte er im Anschluss eine hässliche Auseinandersetzung mit Charles. Was war plötzlich mit Charles los, dass er sich so für Caroline einsetze? Ja, er hatte immer schon für sie geschwärmt, aber so einen Aufstand? Er traute ihm zu, dass er sofort zu Caroline laufen würde, um sie über die Vorgänge zu informieren. Doch er hatte ihm klar zu verstehen geben, dass dies das Ende seiner Karriere wäre. Er hätte die Wahl, hatte er verächtlich zu ihm gemeint. Dann hatte er ihn stehen gelassen. Er wollte nach Hause. Zu Lilly.

 Im Kühlschrank fand er wie mit seiner Haushälterin Mrs. Walters vereinbart einen kleinen Imbiss für sich und Lilly. Was Mrs. Walters wohl dazu sagen wird, wenn sie von ihm und Lilly erfährt? Ob sie das verstehen wird?, überlegte Ben.

 Mrs. Walters liebte Lilly wie ihre eigene Tochter, ersetzte ihr die Mutter. Lilly ging mit allen Anliegen zuerst zu Mrs. Walters, nicht zu Caroline. Hatte sie als Schulmädchen eine gute Note erhalten, war sie in die Küche zu Mrs. Walters gelaufen und hatte ihr freudestrahlend davon berichtet. Und wurde mit einer heißen Schokolade belohnt. Er lächelte zärtlich, als er sich die junge Lilly vorstellte, wie sie ihn mit ihrem Schokolademund geküsst hatte, wenn er von der Arbeit nach Hause gekommen war.

 Lilly. Wie freute er sich auf heute Abend. Er würde ihr zuerst von Dr. Sommersby erzählen und mit ihr gemeinsam überlegen, wie sie mit dieser Tatsache umgehen würden. Und dann ...

 Da hörte er die Tür. Er erhob sich erfreut und eilte Lilly entgegen. Die stand wie gestern bleich in der Halle.

 »Er ist tot«, flüsterte sie kaum hörbar.

 »Wer ist tot?«, fragte er verständnislos.

 »Dr. Sommersby«, schluchzte sie verzweifelt.

 Sein Herz krampfte sich zusammen. »Wie, Dr. Sommersby ist tot?«, fragte er besorgt nach. »Woran ist er gestorben?«

 »Keine Ahnung«, flüsterte sie. »Man munkelt, dass er ermordet wurde. In seinem Arbeitszimmer.«

 »Ermordet?« Er konnte es nicht glauben. Wer sollte ein Interesse haben, den alten Professor zu ermorden? Außer ihm, der gestern erfahren hatte, dass seine Frau ihn mit dem Professor betrogen und ihm sein Kind untergeschoben hatte. Gut, dass niemand davon wusste. Er musste Caroline sofort informieren, damit sie diese Tatsache nicht ausplauderte. Wer weiß, auf welche Ideen die Polizei sonst kommen könnte.

 »Weiß man schon, wer es getan hat?«

 »Nein ... nein, ich glaube nicht«, stotterte sie.

 »Komm her«, und er zog sie in seine Arme. Lilly zittere wie Espenlaub. Beruhigend strich er über ihre Haare.

 »Wer kann so grausam sein und einen alten, lieben Professor ermorden?«, fragte sie verstört.

 »Ich habe keine Ahnung«, sagte er tröstend, dachte allerdings, dass es mehr betrogene Männer wie ihn geben könnte. Und lieb war er bestimmt nicht, wenn er mit jungen Studentinnen schlief. Jetzt würde es noch schwieriger werden, Lilly über ihren leiblichen Vater aufzuklären. Vielleicht sollten sie einfach sagen, sie kennen den wahren Vater nicht? Ob Caroline damit einverstanden wäre? Aber so wie er sie kannte, sah sie Lilly gerne leiden. Und es würde ihr Schadenfreude bereiten, es Lilly genau jetzt unter die Nase zu reiben. Wie konnte er sie beschützen?

 »Lass uns auf den Schreck etwas trinken«, und er zog sie mit sich in die Bibliothek. In dem Moment läutete es an der Haustür.

 »Wer kann das sein?«, sagte er verblüfft. »Erwartest du jemanden?«

 »Nein«, murmelte Lilly.

 »Dann lass uns nicht öffnen«, und er ging in Richtung Bibliothek, denn er vermutete, Deborah könnte hinter der massiven Holztür stehen. Vielleicht hatte sie seine Einladung für einen weiteren gemeinsamen Abend in seiner Bibliothek zu wörtlich genommen.

 Da läutete es erneut. Und zusätzlich wurde der schmiedeiserne Türklopfer betätigt, der von seinem Urgroßvater angebracht worden war. Trotz mancher Umbauten in den letzten Jahrzehnten und dem Einbau der Alarmanlage konnte sich niemand entscheiden, diesen Eisenring mit dem Familienwappen zu entfernen.

 »Hier ist die Polizei! Bitte öffnen Sie!«

 Lilly schaute sich erschrocken zu ihm um.

 »Was geht hier vor? Was wollen Sie von uns?«, fragte Ben indigniert, als er die Tür geöffnet hatte und sich einem weißen Mann Mitte Fünfzig und einem afroamerikanischen Mann ungefähr in seinem Alter gegenüber sah.

 »Sind Sie Benjamin Franklin Warden?«, schnarrte der Ältere der beiden Herren vor der Tür.

 »Wer will das wissen?«, antwortete Ben kühl, trotzdem amüsiert, dass ihn jemand mit seinem kompletten Taufnamen ansprach. Alle nannten ihn Ben ... bis auf Deborahs Mann, fiel ihm plötzlich ein. Der sprach ihn stets betont mit Benjamin Franklin an.

 »Detective Johnson«, stellte sich der weiße Ermittler vor und mit einem Nicken zu seinem Kollegen »und Detective Monroe. Dürfen wir reinkommen?«

 Kurz durchzuckte Ben der Gedanke, im Gesicht des Jüngeren bekannte Züge zu entdecken. Verwarf dies in der nächsten Sekunde und kam zu dem Schluss, dass er wahrscheinlich in seiner Zeit als Strafverteidiger mit ihm zu tun gehabt hatte.

 Ben trat einen Schritt zur Seite und gab die Tür frei. Johnson schaute sich überrascht in der sehr eleganten Eingangshalle mit der geschwungenen Treppe um. Es war das erste Mal, dass sie in Kreisen wie diesen ermittelten.

 »Würde Sie mir bitte den Grund Ihres Besuches verraten?«, bat Ben höflich.

 Monroe wandte seinen Blick Lilly zu und fragte unfreundlich: »Und wer sind Sie?«

 Es kostete Ben Mühe, freundlich zu bleiben, doch er gab ruhig zur Antwort. »Das ist meine Tochter Lilly Warden.« Er sah die Enttäuschung in Monroes Augen, der wohl gehofft hatte, ihn hier mit einer jungen Geliebten angetroffen zu haben. Was er ja auch hatte, aber nicht erfahren durfte.

 Ben wandte sich an den weißen Ermittler: »Ich frage Sie erneut, was Sie zu so später Stunde von mir wollen.«

 »Kennen Sie einen Dr. Rufus Sommersby?«

 Lilly schrie bei der Erwähnung des Namens leise auf. Überrascht blickten die Detectives sie an.

 »Ja. Er war vor Jahren mein Professor in Harvard und ist jetzt Lillys Professor. Lilly hat mir soeben von seinem schrecklichen Ableben berichtet«, fügte er betrübt hinzu.

 »Sie wissen also schon von seinem Tod?«

 »Ja, wie gesagt, Lilly kam gerade bestürzt von der Universität nach Hause und hat mir erzählt, dass er angeblich ermordet worden sei.«

 »Woher wissen Sie das?«, fragte der schwarze Detective Lilly barsch.

 »Ich wollte zu Dr. Sommersby wegen einer Tutorenstunde. Wir waren verabredet. Doch ein Polizist verstellte mir den Weg und meinte, ich könnte da nicht hinein. Er wollte mir keine Auskunft geben, was passiert war. Ein Kommilitone hat mir erzählt, dass unser Professor angeblich ermordet worden sei«, schluchzte sie auf.

 Ben trat zu ihr und nahm sie beruhigend in seine Arme.

 »Das scheint Sie ja sehr mitgenommen zu haben«, stellte Detective Monroe schadenfroh fest.

 »Welchen Tonfall erlauben Sie sich meiner Tochter gegenüber?«, ereiferte sich Ben.

 »Na, für einen Professor scheint sie mächtig zu trauern.«

 »Alle Studenten haben mit ihren Tutoren ein gutes Verhältnis, sonst wären sie nicht ihre Tutoren. Somit ist es kein Wunder, dass Lilly erschüttert ist«, antwortete Ben schneidend.

 »Und Ihr Verhältnis zu dem verehrten Professor?«, fragte der weiße Detective mit einem eigenartigen Unterton.

 Ben wurde hellhörig. »Mein Verhältnis?«, fragte er verwundert nach. Die können doch noch nicht wissen, dass Lilly ... Auch wenn Caroline ein Schandmaul hatte, so schnell konnte sie der Polizei nichts erzählt haben, oder?

 »Ja, genau. Ihr Verhältnis.«

 »Ich habe Dr. Sommersby seit Jahren nicht gesehen. Seit meinem Studium hatte ich keinen Kontakt mehr mit ihm. Erst durch Lilly wurde ich an ihn erinnert.« Und durch das Geständnis meiner Frau, dachte er wütend. Behielt diesen Gedanken jedoch für sich. Doch auf seinem Gesicht musste er sich gezeigt haben, denn Detective Monroe hakte nach.

 »Sie haben Sommersby seit Ihrem Studium nicht mehr gesehen, keinerlei Kontakt mit ihm gepflegt?«

 »Nein, wie ich bereits sagte ...«

 »Sie waren nie mehr in seinem Büro?«, unterbrach ihn Monroe unwirsch. »Auch nicht gestern Abend?«

 Ben schüttelte verneinend den Kopf. Was sollen all diese Fragen?, überlegte er verwirrt.

 »Da sind wir allerdings anderer Meinung. Wir haben Beweise, dass Sie gestern Abend im Büro des Professors waren«, spuckte Monroe die Worte kalt in den Raum.

 »Sie haben was?«, fragte Ben verblüfft.

 »Sie haben richtig gehört. Und nun darf ich Sie bitten, uns zu begleiten.«

 

 »Wollen Sie mich verhaften? Mit welcher Begründung?«, rief Ben erbost.

 »Nein, wir nehmen Sie nur zu einer Befragung mit. Um eventuelle Unklarheiten zu beseitigen«, meinte Monroe herablassend und packte Ben am Oberarm.

 Lilly schrie auf. »Aber mein Vater ...«

 Ben unterbrach sie schnell, bevor sie unbedacht äußern konnte, dass sie den gestrigen Abend gemeinsam verbracht hatten: »Lilly, sag nichts. Überlass alles mir. Ruf Don an. Er soll aufs Revier kommen.«

 Lilly nickte tränenüberströmt, während ihn die Detectives abführten.

 

 

 

»Kennen Sie das?«, und Detective Johnson legte Bens goldenen Füller auf den Tisch, der zwischen ihm und den beiden Detectives stand. Mit Gravur und Familienwappen, ein Geschenk Lillys zu seinem vierzigsten Geburtstag. Seit damals trug er diesen Stift ständig bei sich.

 »Wo haben Sie den her?«, fragte Ben überrascht.

 »Den haben Sie neben der Leiche verloren«, merkte dieser höhnisch an.

 »Das kann nicht sein. Ich war nie an diesem Ort. Zumindest in den letzten zwanzig Jahren nicht.«

 »Wie erklären Sie sich dann, dass er direkt neben dem Kopf der Leiche lag?«

 Eine Pause folgte. Ben überlegte fieberhaft, wo er den Füller verloren haben könnte. Er konnte sich nicht erinnern, ihn heute verwendet zu haben. Hatte er ihn im Büro überhaupt dabei? Er war am Morgen noch verwirrt durch die Nacht mit Lilly, hatte so nicht auf seine Gewohnheiten geachtet, den Stift in seine Brusttasche im Sakko zu stecken, wie er es sonst jeden Morgen tat. Er wusste nur, dass er ihn gestern wie jeden Abend auf den Tisch in der Empfangshalle gelegt hatte. Doch wer sollte ihn von dort entfernen und bei einer Leiche deponieren?

 »Also, wir erklären uns das so. Sie haben sich über den toten Sommersby am Boden gebeugt und dabei ist Ihnen der Füller aus der Brusttasche gerutscht. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Ihre Sekretärin hat bei ihrer toten Mutter geschworen, dass dieser Füller immer - ich wiederhole - immer in Ihrer Brusttasche steckte.«

 Monroe erzählte nicht, dass sie außerdem geschworen hatte, dass Ben Warden nie und nimmer ein Mörder sei. Dass ein schrecklicher Irrtum vorliegen müsse. Leider konnte sie sich nicht erinnern, ob der Füller heute Morgen in Bens Brusttasche gesteckt hatte. Angeblich hatte sie Warden wegen einer wichtigen Sitzung der Kanzlei-Partner nur kurz zu Gesicht bekommen und nicht darauf geachtet.

 »Und Sie denken, nur weil mein Füller am Tatort gefunden wurde, bin ich der Mörder?«, lächelte Ben herausfordernd. »Haben Sie sich überlegt, dass ihn dort jemand deponiert haben könnte? Jemand, der mir oder meiner Familie schaden möchte?«

 »Wer könnte das Ihrer Meinung nach sein?«, fragte der weiße Detective.

 »Keine Ahnung. Bin ich der Detective?«

 »Sie müssen uns schon ein paar Hinweise liefern, für uns stellt sich der Fall klar dar. Sie haben Sommersby ermordet und dabei den Füller verloren.«

 »Welches Motiv sollte ich haben, diesen Mann umzubringen?«, wollte Ben wissen. Natürlich, er kannte ein Motiv, doch wusste die Polizei bereits davon?

 »Das werden wir herausfinden. Wir sind erst am Beginn unserer Ermittlungen. Und wir werden Ihr Leben auseinandernehmen und ein Motiv finden, das schwöre ich Ihnen«, sagte der schwarze Detective hasserfüllt.

 Ben blickte ihn irritiert an. Wieder hatte er das Gefühl, dieses Gesicht zu kennen. Aber er konnte es nicht greifen. Vielmehr dachte er: Ein Weißenhasser? Dann konnte er sich auf etwas gefasst machen. Sobald sie herausfanden, dass Lilly die Tochter von Sommersby war und er das wenige Stunden vor dem Mord erfahren hatte, würden sie ihn festnageln.

 Ein Indizienbeweis reichte aus. Und es würden sich Geschworene finden, um ihn dafür büßen zu lassen. Der Hass auf privilegierte Schichten war in den USA weit verbreitet. Er brauchte sich nur den schwarzen Detective anzusehen. Und wenn sie die Geschworenen dementsprechend auswählten ...

 »Wann genau war ich Ihrer Meinung nach bei Sommersby im Büro?«, erkundigte sich Ben.

 »Zwischen zwanzig und zweiundzwanzig Uhr gestern abends«, antwortete Johnson.

 »Dann haben Sie garantiert den Falschen. Ich habe den Abend und die Nacht mit einer Frau verbracht, kann diesen Professor also nicht ermordet haben.« Ben schaute die beiden Detectives zuversichtlich an, obwohl er sich nicht so fühlte. Er konnte das Zusammensein mit Lilly nicht preisgeben. Noch nicht. Das wäre ein gefundenes Fressen für die Detectives und die Öffentlichkeit.

 »Mit welcher Frau?«, wollte der Weiße wissen.

 »Das kann ich Ihnen nicht sagen, ohne vorher mit der Dame gesprochen zu haben.«

 »Mit der Dame ...«, lächelte der weiße Detective anzüglich. »Wohl eine Verabredung mit einer verheirateten Frau gehabt, was Warden?«, und schlug sich feixend mit der Hand auf seinen rechten Oberschenkel.

 »Mister Warden für Sie. Ich habe niemanden ermordet. Auch wenn Sie mich für einen Verdächtigen halten, so haben Sie mich mit Respekt zu behandeln. Abgesehen davon gilt die Unschuldsvermutung. Und jetzt möchte ich meinen Anwalt sprechen.«

 Trotz der Beweise, die sie vorlegten, brachten sie Ben nicht aus dem Konzept. Immer noch saß er mit seiner angeborenen Eleganz, wie sie über Generationen vererbte Privilegien und eine gute Kinderstube hervorbrachten, vor ihnen und bestritt die ihm zur Last gelegte Tat mit ruhigen Worten und klaren Argumenten.

 Monroe glühte innerlich vor Zorn und schaute verächtlich auf den vor ihm sitzenden Warden. Diese weiße privilegierte Schicht, die denkt, sie kann sich alles so zurechtzimmern, wie sie sich das vorstellt. Nicht mit mir, Bürschchen. Ich werde dir den Mord beweisen, war alles, was er denken konnte.

 Er hatte kein Ohr für die entlastenden Worte, er hörte nur aus der Stimme des Verdächtigen, dass dieser Sommersby verachtet hatte. Warum, musste er herausfinden. Aber er war sich sicher, hier den Mörder des Professors vor sich zu haben.

 Widerstrebend überließen die beiden Detectives Ben seinem Anwalt.

 

 

 

»Ben, was ist los?«, begrüßte ihn in einem kleinen Besprechungsraum am Revier ein aufgebrachter Don DeCarlo. »Lilly hat mich völlig verstört angerufen, dass du verhaftet wurdest?«

 »Nicht verhaftet. Sie haben mich nur zu einer Befragung mitgenommen«, antwortete Ben müde.

 »Zu einer Befragung? Wozu denn?«

 »Sie vermuten in mir den Mörder von Dr. Sommersby«, sagte Ben trocken.

 »Den Mörder ... wie kommen sie auf diese Idee?«, wollte Don verblüfft wissen.

 »Mein goldener Füller wurde neben der Leiche gefunden.«

 »Dein Füller? Aber, wie kommt der neben eine Leiche?« Don war mehr als überrascht.

 »Das würde mich ebenfalls interessieren. Also müssen wir es herausfinden. Die Polizei wird das nicht tun. Die halten mich für den überführten Mörder, obwohl sie mit den Ermittlungen noch nicht einmal richtig begonnen haben. Und ich über ein Alibi für den entsprechenden Zeitraum von zwanzig bis zweiundzwanzig Uhr verfüge«, meinte Ben verächtlich.

 »Dann ist doch alles gut. Hast du ihnen von deinem Alibi erzählt?«

 »Zum Teil.«

 »Wie darf ich das verstehen?«

 »Ich habe die Nacht mit Lilly verbracht. Sie kann es bezeugen.«

 »Lilly ist deine Tochter, damit ist das ein wackeliges Alibi. Außerdem werdet ihr nicht die gesamte Nacht im selben Zimmer verbracht haben. Also könnte man sagen, dass du ...«

 »Wir haben die ganze Nacht im selben Zimmer verbracht«, unterbrach ihn Ben. »Aber wenn ich das zu Protokoll gebe, machen sie uns erst recht fertig.«

 Don schaute ihn entgeistert an und fragte bestürzt: »Du ... du hast doch nicht mit ihr geschlafen?«

 »Doch. Wir haben gestern Abend erfahren, dass Lilly nicht meine leibliche Tochter ist. Und da ... da ist es einfach passiert.« Und Ben verlor sich.

 »Don, ich liebe sie. Wirklich. Aufrichtig und ehrlich«, fügte er nach einer Weile bestimmt hinzu, als er den entsetzten Blick seines Kollegen und Freundes sah. »Und sie liebt mich. Sie ist wesentlich weiter als die Jungs in ihrem Alter. Wir sind füreinander bestimmt. Ich denke, Caroline hat das bemerkt und ist deshalb mit der Wahrheit herausgerückt.«

 »Du hast also ein Alibi«, kam es trocken und mit schmalen Lippen von Don.

 Ben war sich bewusst, dass er soeben alle Träume seines jungen Partners zerstört hatte. Er konnte nur hoffen, dass sich Don professionell verhalten würde.

 »Ja, noch dazu eines, das nicht mit mir verwandt ist«, lächelte er schmerzlich.

 »Warum hast du den Detectives nichts davon erzählt?«, fragte Don verständnislos.

 »Erstens, weil ich Lilly diese Schmach nicht öffentlich antun möchte. Du weißt, wie die Meute über uns herfallen wird. Und sie ist so verletzlich ... Und zweitens ...«

 »Und zweitens?«, fragte Don nach.

 »Zweitens ist Dr. Sommersby ihr leiblicher Vater«, kam es mit brechender Stimme.

 Wenn Don überrascht war, ließ er sich nichts anmerken. Er hatte ebenfalls in Harvard studiert, und die Gerüchteküche wegen Caroline und Sommersby hatte sich viele Jahre gehalten. Ob er irgendetwas geahnt hatte?, überlegte Ben. »Du wusstest es«, stellte er fest.

 »Nein, ich habe es vermutet. Jeder wusste, dass Caroline ein Verhältnis mit euch beiden hatte. Nur du nicht ... Sommersby war verheiratet, du eine gute Partie. Und Caroline nicht auf den Kopf gefallen ...«

 Besorgt fuhr er fort: »Die Tatsache, dass Sommersby Lillys leiblicher Vater ist, macht die Sache nicht einfacher. Ihr habt ein Motiv. Beide. Und könntet euch gegenseitig decken.«

 »Ich kann zwar bei Lilly kein Motiv entdecken, doch wer weiß, wie die Polizei tickt. Deshalb hege ich die gleichen Befürchtungen wie du. Und die Detectives werden einen Teufel tun und sich nach einem anderen Täter umschauen. Ich bin der perfekte Sündenbock«, sagte er verzweifelt.

 »Und, muss ich mir als Anwalt Sorgen um euch beide machen?«, fragte Don leise.

 Ben schaute ihn verblüfft an. Dann lachte er. »Nein. Ich bin Sommersby sogar dankbar. Ich habe Lilly immer schon geliebt, zwar wie ein Vater, aber gestern ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen, dass hinter dieser Liebe mehr gesteckt hat. Und Lilly sieht es genauso. Ich habe in ihr die Frau gefunden, nach der ich mich ständig gesehnt habe. Klug, hübsch, warmherzig, ernsthaft und doch voller Humor und Lebensfreude. Nicht so hintertrieben wie Caroline. Don, ich habe mein Glück gefunden. Warum sollte ich das wegen eines alternden Professors aufs Spiel setzen?«

 Er sah in das schmerzvoll verzogene Gesicht seines Kollegen. Armer Don. Es würde eine Weile dauern, bis er diesen Schock überwunden hatte.

 Nach einem intensiven Augenkontakt zwischen den beiden Männern sagte Don schließlich: »Gut, ich glaube dir. Trotzdem, die Sache mit dem Füller macht mir zu schaffen ...«

 »Mir ebenfalls. Und ich habe keine Erinnerung, wo ich ihn verloren haben könnte. Ich bin mir fast hundertprozentig sicher, dass ich ihn gestern Abend an seinen üblichen Platz in der Empfangshalle gelegt habe. Aber wie sollte er von dort an den Tatort kommen?«

 »Ja, wie?«, überlegte Don laut. »Vielleicht will dir den Mord jemand unterschieben?«

 »Das war mein erster Gedanke. Doch wer? Und warum? Und vor allem, wie könnte derjenige an den Füller gekommen sein?«

 »War an dem Abend noch jemand im Haus außer dir und Lilly?«

 »Nein, Mrs. Walters hatte ich schon nach Hause geschickt, bevor Lilly kam. Wir waren alleine. Die ganze Nacht.«

 »Dann wird uns nichts andres übrig bleiben, als den wahren Täter zu finden und das Geheimnis des Füllers zu klären«, seufzte Don. »Ich denke, du bist nicht der Einzige, der ein Hühnchen mit Sommersby zu rupfen hatte. Soviel ich weiß, grapschte er jede halbwegs hübsche Studentin an. Manchmal auch die anderen und beschimpfte sie sogar, dass sie froh sein sollten, wenn er sie vögelte, weil das sonst keiner tun würde.«

 Ben war fassungslos. »Bist du sicher?«, fragte er schockiert nach.

 »Nein, das sind nur Gerüchte, doch wir werden diesen auf den Grund gehen.«

 »Gott sei Dank ist Lilly seine Tochter. So war sie sicher.«

 »Hoffentlich!«

 »Obwohl, er hatte sich stets besonders um sie gekümmert«, sagte er mit bekümmerter Miene. »Wir müssen mit Lilly reden.«

 »Ja, lass uns allerdings zuerst schauen, wie ich dich da rauskriege. Wenn du nicht bereit bist, dein Alibi preiszugeben, werden sie dich hierbehalten. Sie haben das Recht dazu. Zumindest für vierundzwanzig Stunden.«

 »Ich weiß. Und sie werden von diesem Recht Gebrauch machen. Du hättest den schwarzen Polizisten sehen sollen, wie er mich angesehen hat. Verachtung pur. Und er hat mir geschworen, ein Motiv für den Mord zu finden. Du musst sofort mit Caroline reden, dass sie vorerst nicht preisgibt, wer Lillys leiblicher Vater ist. Und fahr zu Lilly. Beruhige sie und schärfe ihr ein, dass sie nichts unternimmt, bis wir uns eine Strategie überlegt haben, wie wir weiter vorgehen. Auch, wenn sie mein Alibi ist. Und verrate ihr um Himmels willen nicht, dass Sommersby ihr leiblicher Vater ist. Ich will ihr das schonend beibringen.«

 

 

 

Don grübelte beim Verlassen des Reviers, wen er zuerst aufsuchen sollte. Lilly oder Caroline. Lilly war wahrscheinlich nervös, und wollte wissen, was mit Ben passiert war. Doch er scheute sich, ihr gegenüber zu treten. Er hegte Gefühle für sie und hatte gehofft, sie irgendwann bei ihr zu erwecken. Aber dieser Traum war vorbei. Lilly liebte ihren Vater. Verrückt.

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