Gornerschlucht

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Mittwoch, 15. Juli 2015

»So, hat Ihnen unser Frühstücksbuffet geschmeckt?«, fragte Patrizia Werlen die beiden, als sie an die Rezeption traten.

»Ja, was soll ich jetzt sagen«, erwiderte Claudia Vontobel mit matter Stimme, »mein Mann hat es in vollen Zügen geniessen können. Aber ich selber habe sehr schlecht geschlafen und fühle mich nicht wohl. Deshalb konnte ich nur eine Tasse Tee zu mir nehmen.«

»Oh, das tut mir wirklich sehr leid. Wahrscheinlich haben Sie die ungewohnte Höhe von mehr als 3000 Metern über Meer schlecht ertragen, das kommt leider öfter vor.«

Die Hotelassistentin griff unter die Theke, zog ein hübsch verpacktes Geschenkpaket hervor und überreichte es ihrem Gast. »Hier, ein kleines Trostpflästerchen für Ihr Pech.«

»Oh, danke, das ist aber ausserordentlich nett!«, erwiderte Claudia Vontobel.

»Was haben Sie denn nun vor? Möchten Sie sich noch ein wenig hier im Hotel erholen?«

Claudia Vontobel überlegte einen Moment. »Nein, ich denke, es ist besser, ich fahre so schnell wie möglich wieder nach Zermatt hinunter. Mein Mann jedoch wird zu Fuss ins Tal absteigen.«

Patrizia Werlen drückte beiden die Hand. »Dann wünsche ich Ihnen alles Gute und weiterhin eine schönen Aufenthalt in Zermatt.«

Zehn Minuten später sah Patrizia Werlen durch das Fenster hindurch, wie sich die Vontobels vor dem Haus mit einem langen, innigen Kuss voneinander verabschiedeten.

Claudia stieg in den hintersten Wagen der weltberühmten roten Zahnradbahn. Jetzt, um halb zehn, fuhren nur einige wenige Fahrgäste ins Tal hinunter. Claudia entspannte sich zusehends und freute sich darüber, das wunderschöne Panorama auf die vergletscherten Viertausender, das die Fahrt bot, für einmal ohne das sonst übliche, hektische Lärmen der japanischen und amerikanischen Touristen geniessen zu können. Kurz vor halb elf erreichte Claudia das Hotel Steinbock.

An der Rezeption stand Monika Maier und machte grosse Augen. »Was, schon zurück, Frau Vontobel? Und allein? Es ist doch hoffentlich nichts passiert?«

»Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Ich habe nur die Höhe schlecht ertragen, konnte kaum schlafen und bin deshalb gleich wieder ins Tal gefahren. Mein Mann steigt zu Fuss ab und wird im Laufe des Nachmittags eintreffen. Ich werde mich jetzt gemütlich mit einem Roman im Wintergarten installieren und hoffe, dass die Kopfschmerzen bald nachlassen. Bringen Sie mir bitte einen Kamillentee.«

»Gerne! Und ich wünsche Ihnen baldige Besserung.«

Monika Maier gab die Bestellung telefonisch in die Küche durch, während Claudia in die Hotelbibliothek ging, um sich ein spannendes Buch auszusuchen.

»Ja, Blacky, bleib ruhig, wir sind ja gleich da.«

Barbara Fuchs kraulte ihren Labrador am Nacken. Dieser stand auf der Plattform, wedelte mit dem Schwanz und wartete offensichtlich darauf, dass sich die Tür öffnete und ihn ins Freie springen liess. Die Gornergratbahn verlangsamte ihr Tempo und kam neben dem grossen Schild mit der Aufschrift Riffelberg zum Stehen. Barbara, Bruno und Blacky stiegen aus. Die Sonne schien, die Luft war hier, auf 2500 Metern Höhe, herrlich frisch, und auf der anderen Talseite erhob sich die majestätische Pyramide des Matterhorns in den tiefblauen Himmel.

»Einfach ein Traum«, sagte Barbara, blieb stehen und schaute in die Runde. Bruno legte ihr einen Arm um die Schulter.

»Ja, wunderschön. Was meinst du zu einem kleinen Kaffee da hinten?« Keine fünfzig Meter entfernt stand das altehrwürdige Hotel Riffelberg. Ein grauer Steinbau, dem rauen Klima hier im Hochgebirge trotzend, bot das Hotel sommers wie winters ihren Gästen eine herrliche Sonnenterrasse mit Blick aufs Matterhorn an.

»Gerne«, erwiderte Barbara, und sie nahmen an einem der vordersten Tische Platz. Blacky hatte keine besondere Freude daran, er wäre lieber gleich losgelaufen. Aber eben, mit so alten Rudelführern musste man sich wohl irgendwie arrangieren…

Eine halbe Stunde später waren sie wieder unterwegs. Der bequeme Weg führte sanft abwärts, weder grosse Steine noch steile Stufen stellten für die betagten Wanderer ein Hindernis dar. Blacky war voll in seinem Element, unermüdlich sprang er vor und zurück und erkundete die Umgebung. Plötzlich blieb Barbara, die voraus ging, stehen.

»Oh, was sehe ich denn da. Eine hübsche Blume, aber was kann das bloss sein? Vom Aussehen her tippe ich auf ein Nelkengewächs.«

Bruno bückte sich und sah die Pflanze genau an. »Korrekt, Barbara, es ist ein Nelkengewächs. Die Alpen-Pechnelke, Silene suecica. Nur fünfzehn Zentimeter gross, aber mit einem ganzen Büschel von sehr hübschen, pinkfarbenen Blüten. Eine ziemlich seltene Blume, ich habe sie bisher erst zweimal gesehen. Wunderschön!«

Bruno zückte seinen Fotoapparat und machte mehrere Aufnahmen der seltenen Pflanze.

Kurz darauf erreichten sie eine Wegkreuzung. Der knallgelbe Wegweiser war nicht zu übersehen. Links ging es in Richtung Gornergrat, rechts zur Riffelalp, und geradeaus steil hinunter zur Gornerschlucht. Blacky war stehen geblieben und hechelte in der dünnen Bergluft heftig vor sich hin. Barbara hatte noch eine blaue Blume genauer studiert und kam etwas später hinzu.

»Ein wunderschöner Weg«, rühmte sie, »ich nehme an, wir gehen in Richtung Riffelalp weiter?«

»Okay«, sagte Bruno, aber statt weiterzugehen, hielt er noch sein Fernglas vor die Augen. »Moment mal, die Frau dort kenne ich doch von irgendwoher.«

Auch Barbara zückte ihr Fernglas. »Natürlich, das ist unsere Berner Stadträtin vom Sozialdepartement, aber wie heisst sie schon gleich?« Eine Frau mittleren Alters kam ihnen auf dem Weg vom Gornergrat her entgegen.

»Jetzt habe ich es«, sagte Bruno, »sie heisst Nora von Graffenried, Vertreterin eines altehrwürdigen Berner Adelsgeschlechtes. Was meinst du: Sollen wir sie kurz ansprechen?«

»Warum eigentlich nicht, wenn sie schon allein unterwegs ist? Sie macht doch eine super Politik und ist kontaktfreudig.«

Bruno und Barbara stellten sich vor, und die Stadträtin freute sich über einen kleinen Schwatz in der vertrauten Berner Mundart.

Walter Werlen, Gemeindepräsident von Zermatt, verliess Punkt zwölf Uhr sein Büro in der Gemeindeverwaltung, die sich im hinteren Teil des Dorfes, direkt neben der Kirche, befand. Er pfiff leise ein altes Volkslied vor sich hin, während er die lange Bahnhofstrasse hinunter ging. Er war mit seinem langjährigen Freund Pirmin Perren zum Lunch verabredet. Sie waren schon zusammen zur Schule gegangen und hatten beide ihr ganzes Leben in Zermatt verbracht. Werlen war rundum zufrieden. Nach einem neuen Rekord in der vergangenen Wintersaison hatte auch die touristische Sommersaison ausgezeichnet begonnen. Natürlich spielte auch das meist schöne Wetter eine Rolle. Die einheimische Wirtschaft florierte, die politische Landschaft im Dorf war stabil, und sogar in Werlens Familie herrschte überwiegend Sonnenschein. Wie fast zu jeder Tages- und Abendzeit war auf der Bahnhofstrasse, der eigentlichen Flaniermeile von Zermatt, ein reger Fussgängerstrom in beiden Richtungen unterwegs. Auf einer Strecke von fast einem Kilometer reihte sich beinahe Restaurant an Restaurant, Laden an Laden und Boutique an Boutique. Autos waren in Zermatt verboten, dafür kurvten unzählige Elektromobile durch die teilweise engen Gassen, was für die Fussgänger auch zu gefährlichen Situationen führen konnte.

Werlen betrat die Walliserkanne, eines der traditionellen Restaurants des Dorfes, und schaute sich um. Am zweithintersten Tisch entdeckte er Perren, in eine Zeitung vertieft, und ging zu ihm hinüber.

»Grüss dich, Pirmin.«

Der Angesprochene erhob sich, und die zwei grossen, leicht korpulenten Männer drückten sich kräftig die Hand. »Walter, wie geht’s?«

Der Gemeindepräsident lächelte. »Ach, richtig gut, darf ich sagen. Zurzeit läuft einfach alles irgendwie rund, fast wie von selbst. Komm, setzen wir uns doch, ich spendiere einen Aperitif. Oder lieber ein Bier?«

»Oh ja, gerne.«

»Zwei Glas Bier bitte!«, rief Walter in Richtung Theke. »Und, wie läuft’s bei dir im Geschäft, Pirmin?«

»Ehm, wie soll ich das jetzt ausdrücken? Eigentlich müsste es sehr gut laufen. Die Aufträge sind da, die Nachfrage nach Sanitärinstallationen steigt eher noch an. Und doch… die Geschichte mit diesem, du weisst schon…«

Werlen hob seine Augenbrauen. »Du meinst… Vontobel?«

Perren nickte. »Das hat mir beinahe den letzten Nerv ausgerissen. Und natürlich ein erhebliches Loch in die Kasse geschlagen. Auf gut Deutsch gesagt, ist das ein schamloser Abzocker, auch wenn ihn nie jemand dafür ins Gefängnis wird bringen können.«

»Oh, so krass hast du das erlebt?«, erwiderte Werlen betroffen.

Perren zuckte mit den Achseln. »Na, was soll‘s. Ich hoffe, wenigstens etwas gelernt zu haben. In Zukunft werde ich viel genauer hinschauen, bevor ich einen Kreditvertrag unterzeichne!«

»Und trotzdem, Prost, Pirmin!« Sie stiessen mit den Biergläsern an.

Walter Werlen studierte die Speisekarte. »Hast du schon gewählt, Pirmin?«

»Ich nehme Menu eins, die Walliser Käseschnitte mit Salat.«

»Ja, doch, da kann ich mich anschliessen. Und natürlich einen kühlen Weissen dazu. Schau mal, wer da noch kommt. Tag Klara!«

Klara Kalbermatten, die Chefin von Zermatt Tourismus, war an ihren Tisch getreten. »Seid gegrüsst, Walter und Pirmin. Vertrauliche Besprechung?«

»Nein, überhaupt nicht, setz dich doch zu uns«, erwiderte Werlen, »und als Gemeindepräsident kann ich dir die Käseschnitte mit einem Glas Weissen empfehlen.«

 

Klara, eine grosse, stämmige Frau mit kurzen grauen Haaren, setzte sich lachend. »So, so, hast du etwa Aktien bei der Walliserkanne

Walter grinste. »Du weisst doch, dass ich sozusagen überall beteiligt bin. Meinst du, ich sei sonst in mein Amt gewählt worden? Übrigens, Klara, gerade vorher, auf dem Weg hierhin, habe ich zu mir selbst gesagt, wie glücklich wir alle sein können. Alles läuft in diesem Jahr so rund in Zermatt.«

Klara klopfte ihm leicht auf die Schulter. »Ja, Walter, wir machen einen guten Job und dürfen uns gratulieren. Die Saison läuft hervorragend, und auch Petrus macht bestens mit.«

»Und wie beurteilst du unseren gestrigen Jubiläumstag?«

Klara strahlte richtiggehend. »Auch damit bin ich zufrieden. Die Lichterkette am Matterhorn ist genial, und praktisch alle Zeitungen und Zeitschriften der Welt haben das Thema aufgegriffen. Zermatt ist buchstäblich in aller Munde!«

Walter lachte herzlich. »Also genau das, was eine Tourismusdirektorin glücklich macht.«

Klara boxte ihren Kollegen freundschaftlich in die Rippen. »Warum nicht? Du wirst sehen, die nächste Saison wird noch besser als diese. Und du, Pirmin, bist du auch zufrieden?«

Pirmin Perren machte ein saures Gesicht. »Nun ja, im Grossen und Ganzen schon.«

»Weisst du«, fügte Walter hinzu, »er nagt immer noch an seinem Ärger wegen dieses Halunken Vontobel.«

»Ach ja, ich habe davon reden hören. Da hattest du einfach Pech, Pirmin, das könnte doch jedem passieren.«

»Na ja, vielleicht schon. Achtung, unser Essen kommt.«

Claudia Vontobel hatte zum Lunch eine Suppe bestellt und es sich danach wieder im hoteleigenen Wintergarten gemütlich gemacht. Ihre Kopfschmerzen waren verschwunden, und der neue Kriminalroman eines Berner Autors zog sie vollkommen in den Bann. Als Claudia wieder auf ihre Uhr sah, war es bereits zehn nach vier. Sie verliess den Wintergarten und traf in der Halle auf Monika Maier.

»Sagen Sie, Frau Maier, Sie haben nicht etwa meinen Mann heimkommen sehen? Merkwürdig, dass er immer noch nicht da ist.«

Die Assistentin verneinte. Claudia bestellte noch einen Tee und ging zurück zu ihrem Kriminalroman. Gegen achtzehn Uhr kam sie wieder in die Halle, und diesmal sass Direktor Biner an der Rezeption und prüfte am Computer die Buchungen.

»Herr Biner, ich mache mir grosse Sorgen. Mein Mann müsste doch längstens zurück sein! Und auf dem Handy ist er unerreichbar. Es scheint so, als wäre es ausgeschaltet. Wenn ich nur wüsste, welche Route er auf dem Abstieg vom Gornergrat genommen hat!«

Biner schaute zu ihr auf. »Ja, Frau Vontobel, ich verstehe Ihre Sorge gut. Aber sehen Sie, ich durfte schon oft erleben, wie ein vermeintlich Verschwundener irgendwo aufgehalten wurde und dann wohlbehalten zurückgekehrt ist. Und auf dem Handy hat man leider an vielen Stellen rund um Zermatt keinen Empfang. Ich sehe also noch keinen Grund zu grosser Sorge. Ich schlage deshalb vor, Sie begeben sich jetzt zum Abendessen, und Ihr Mann wird sicher bald dazu stossen.«

»Ehrlich gesagt glaube ich nicht mehr so recht daran. Sollten wir nicht die Polizei verständigen?«

Biner dachte an den jetzt in der Hochsaison chronisch überlasteten Zermatter Rettungsdienst. Täglich gab es Bergunfälle irgendwo auf den Viertausendern, da mussten die Rettungsmannschaften konstant Überstunden einlegen. Nein, heute Abend würde niemand mehr auf die Suche nach einem vermissten Wanderer gehen.

»Ich empfehle Ihnen, noch etwas zuzuwarten.« Kopfschüttelnd ging Claudia Vontobel in Richtung Speisesaal.

»Papa ist verschwunden!« Nadja klopfte an die Schlafzimmertür ihres Bruders. Da sie keine Reaktion vernahm, öffnete sie langsam die Tür. Thomas sass auf seinem Bett, den Rücken gegen die Wand gelehnt, mit grossen Kopfhörern über den Ohren und einem Buch auf den Knien.

Als er Nadja sah, streifte er die Kopfhörer ab. »Was hast du gesagt?«

»Mama hat soeben angerufen. Papa ist verschwunden! Er wollte allein vom Gornergrat absteigen und ist nicht in Zermatt angekommen. Und auf dem Handy meldet er sich auch nicht. Ach, Thomas, es muss etwas Schlimmes passiert sein!« Nadja warf sich auf das Bett ihres Bruders und begann zu schluchzen.

Thomas umfasste ihren Kopf. »Nun beruhige dich doch, Schwesterherz. Es wird sich bestimmt alles aufklären.«

Nadja schniefte hörbar. »Aber es ist elf Uhr nachts, und Papa irrt vielleicht irgendwo zwischen den Felsen umher! Oder ist abgestürzt! Wir müssen ihn doch suchen gehen!«

»Bitte, Nadja, sei vernünftig! Jetzt in der Nacht kann man nicht suchen gehen. Wenn er morgen früh immer noch nicht da ist, wird Mama bestimmt die Polizei einschalten. Denk doch mal nach. Es wäre beileibe nicht das erste Mal, dass unser Vater im Bett einer anderen Frau übernachtet…«

Nadja schaute ihren jüngeren Bruder zweifelnd an. »Spar dir deine dummen Sprüche. Ich mache mir echt mega Sorgen. Bestimmt werde ich heute Nacht kein Auge zu tun.«

»Trink doch noch ein grosses Bier, das beruhigt wunderbar.«

Nadja erhob sich und wandte sich kopfschüttelnd zur Türe. »Wieder mal typisch Mann, macht dumme Lösungsvorschläge, statt Empathie zu zeigen…«

»Gute Nacht, Frau Psychologin«, rief ihr Thomas ärgerlich hinterher und zog wieder seine Kopfhörer über.

Donnerstag, 16. Juli 2015

Lea wachte früh auf. Zum Glück habe ich ein eigenes Zimmer, dachte sie, da kann ich einschlafen und aufstehen, wann ich will. So wie zuhause in meiner Zweizimmerwohnung in Bern. Es war erst halb sechs, und Lea beschloss, noch etwas liegenzubleiben. Bald blieben ihre Gedanken an den letzten Tagen hängen, an Patrick, an ihrer Eifersucht auf Maja, an ihrem doch noch gelungenen gemeinsamen Exkursionstag in der Höhe. Aber schliesslich dachte sie nur noch an Patrick. Wie lange sie sich schon kannten! Schon am ersten Tag ihres Studiums, vor nunmehr sieben Jahren, war er ihr aufgefallen, mit seinem hübschen Gesicht und seiner lockeren und trotzdem bescheidenen Art. Richtig zusammengekommen waren sie dann leider nie. Flirts hatte es immer wieder gegeben, und einige Male hatten sie auch rumgeschmust und sich geküsst. Aber immer war danach etwas dazwischengekommen. Sei es, dass sie Streit bekamen, sei es, dass sich Patrick oder Lea anderweitig verliebte. Aber irgendwie blieben sie stets miteinander vertraut, und vor allem Lea hatte regelmässig neue Anfälle von Verliebtheit, gepaart mit der entsprechenden Eifersucht, wenn sie dann Patrick mit anderen Frauen schäkern sah. Ganz schlimm war es aber erst diesen Sommer geworden, seit sie mit Patrick und Maja in dieser Zermatter WG wohnte. Lea war ziemlich sicher, dass Maja gar nicht wirklich verliebt in Patrick war. Aber ihre offene, fröhliche, unkomplizierte Art, mit Patrick umzugehen, weckte permanent Leas Eifersucht. Zudem hatte die ständige Nähe zu Patrick ihre Gefühle für ihn erneut aufflammen lassen. Es kann wirklich so nicht weitergehen, grübelte sie. Ich muss so bald wie möglich das Gespräch mit ihm suchen und herausfinden, wie es wirklich um seine Gefühle steht! Wenn er mich nicht liebt, soll er mir klaren Wein einschenken. Und wenn er mich liebt… ach, wäre das himmlisch…

Paul Pfammatter betrachtete die mittelgrosse, schlanke, blonde Frau, die soeben den Polizeiposten betreten hatte. Sie wirkte nervös, und von ihrem Aussehen her tippte er auf eine amerikanische Touristin. Sie war elegant gekleidet, perfekt frisiert und auffällig geschminkt. Doch er hatte sich geirrt, die Frau sprach ihn auf Berndeutsch an.

»Guten Tag, Herr…?«

»Polizist Pfammatter, guten Morgen, was kann ich für Sie tun?«

»Sehen Sie, Herr Polizist, ich komme, weil, ehm, mein Mann, Daniel Vontobel, verschwunden ist.«

Pfammatter stöhnte innerlich auf. Geschichten von angeblich verschwundenen Männern, das bekam er immer und immer wieder zu hören. In der Regel tauchten diese Männer nach ein oder zwei Tagen ganz friedlich wieder auf, und der ganze Aufwand für die Vermisstenanzeige und die Suchaktion war dann für die Katz gewesen. Pfammatter zwang sich jedoch dazu, freundlich zu bleiben, bat die Frau, ihre Geschichte zu erzählen und notierte sich währenddessen Stichworte auf einem Notizblock.

«Nun, Frau Vontobel, natürlich müssen wir diese Sache sehr ernst nehmen. Sie haben also Ihren Mann gestern Morgen um halb zehn auf dem Gornergrat zum letzten Mal gesehen?«

Claudia Vontobel zog ein Papiertaschentuch hervor und schnäuzte sich. »Ja, und leider hat er mir nicht gesagt, welche Route er beim Abstieg nach Zermatt wählen wollte.«

»Das ist nicht allzu schlimm, es gibt ja nicht unendlich viele Möglichkeiten. Hatte er ein Handy mit?«

»Ja, aber als ich ihn gegen fünfzehn Uhr anrufen wollte, war es ausgeschaltet. Oder er hatte keinen Empfang. Und auch später konnte ich ihn nicht erreichen.«

»Haben Sie ein Bild von ihm dabei?«

»Selbstverständlich.« Claudia öffnete ihre Geldbörse und zog ein kleines, farbiges Passfoto hervor.

»Sie bekommen es natürlich wieder zurück«, ergänzte Pfammatter und sah auf seine Uhr. »Es ist jetzt acht Uhr zwanzig. Ich werde gleich eine offizielle Vermisstenmeldung erstellen. Diese geht dann per SMS an alle Bergführer und an alle anderen Personen, die oberhalb von Zermatt im Tourismussektor arbeiten. Sollte Ihr Mann bis zum frühen Nachmittag noch nicht aufgetaucht sein, werde ich die Rettungskolonnen organisieren, welche die Wege systematisch absuchen. Sind Sie mit diesem Vorgehen einverstanden?«

Claudia Vontobel nickte, bedankte sich und ging zurück zum Hotel.

Kaum war Claudia in ihrem Zimmer angekommen, läutete ihr Handy.

»Mama, wie steht es?«

»Ach, Nadja, schön, dass du anrufst. Papa ist und bleibt verschwunden. Sein Handy ist offenbar ausgeschaltet. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was passiert sein könnte. Aber die Polizei ist informiert und lässt ihn suchen.«

»Ach, Mama, was kann denn nur geschehen sein? Ich mache mir mega Sorgen! Thomas und ich könnten doch gleich morgen nach Zermatt kommen, was meinst du dazu?«

»Ach, seid ihr doch lieb, meine Kinder! Gut, wenn ihr Zeit habt, dann kommt ruhig her. Ich organisiere euch ein Zimmer.«

Gregor Guntern, Polizeivorsteher von Zermatt, verliess den Polizeiposten, der im hinteren Teil des Dorfes, nahe bei der Gemeindeverwaltung, stationiert war. Wann immer er es einrichten konnte, ging Gregor zum Mittagessen nach Hause. Dort konnte er abschalten und fühlte sich danach erholt und fit für den Nachmittagsdienst. Das Haus, das Gregor Guntern mit seiner Frau und den drei fast erwachsenen Töchtern bewohnte, befand sich, nur fünf Fussminuten entfernt, auf einer leichten Anhöhe, mit prächtiger Sicht auf das Dorf und zum Matterhorn. Als Gregor den Kirchplatz überquerte, kam ihm Gemeindepräsident Walter Werlen entgegen.

»Na, Gregor, wieder einen Fall gelöst?«, fragte dieser lachend.

»Eben nicht, der Fall fängt erst gerade an. Ein Mann wird seit gestern irgendwo zwischen Zermatt und dem Gornergrat vermisst. Er wollte allein absteigen und ist verschwunden.«

Walter grinste. »Na, häufig tauchen doch verschwundene Männer bald von selbst wieder auf. Hast du mir selber kürzlich gesagt.«

»Ja, schon, aber diesmal glaube ich nicht daran. Und die Rettungsmannschaften sind wegen der vielen Unfälle auf den Viertausendern bereits überlastet.«

Werlen zuckte mit den Achseln. »Ja, sozusagen die Kehrseite unseres florierenden Tourismus. Immer mehr Kletterer, immer mehr Abstürze. So, ich muss weiter. Bin mit Theo zum Essen verabredet. Schönen Tag noch, Gregor.«

Während der Gemeindepräsident schnellen Schrittes in die Bahnhofstrasse einbog, blieb der Polizeivorsteher noch einen Moment in Gedanken versunken stehen. Nein, er hatte definitiv kein gutes Gefühl bei dieser Sache mit dem verschwundenen Mann.

»Nichts. Leider nichts. Niemand hat sich wegen des Vermissten gemeldet.« Paul Pfammatters Stimme klang leicht verärgert. »Dann müssen wir wohl oder übel den Rettungsdienst alarmieren.«

Gregor Guntern nickte und drückte auf die Taste am Kaffeeautomaten, der im Flur des Polizeipostens stand. »Sie werden keine Freude haben an deinem Auftrag, Paul. Die zwei Toten in der Matterhorn-Nordwand müssen zuerst noch geborgen werden, und die vier am Monte Rosa Vermissten wollen auch gesucht sein. Ich zweifle daran, ob heute noch jemand verfügbar ist für unseren verschwundenen Wanderer.«

Paul liess sich ebenfalls einen Kaffee in den Becher laufen. »Nun, das ist höhere Gewalt. Man kann eben nicht überall gleichzeitig sein. Eigentlich macht es mich richtig wütend, dass immer mehr Leute ungenügend ausgerüstet auf unseren Viertausendern herumkraxeln und sich einfach auf den Rettungsdienst verlassen, im Falle, dass sie nicht mehr weiterkommen. Also, ich versuche es.«

 

Paul verschwand in seinem Büro, und keine fünf Minuten später klopfte er schon wieder bei seinem Vorgesetzten an. »Gregor, es ist so, wie du befürchtet hattest. Der Rettungsdienst ist völlig überlastet, und Wanderer fallen in die zweite Priorität. Die Suche wird also erst morgen früh aufgenommen. Muss ich das der Ehefrau beibringen?«

»Warte mal ab, bis sie sich von selber meldet. Übrigens, Paul: Ist die Sache mit diesen Amerikanern erledigt?«

Paul musste sich zusammennehmen, um seinen Unwillen nicht zu zeigen. »Na ja, Giovanni ist noch dran. Er hat die beiden heute Mittag befragt. Offenbar haben die zwei nach Mitternacht in der Cervin-Bar unter Alkoholeinfluss Streit bekommen und sind mit Messern aufeinander losgegangen. Der Barbesitzer musste Petra Wyler aufbieten, um beide zu verarzten. Giovanni bringt dir später den Rapport. Wird wahrscheinlich nur eine Busse absetzen.« Paul schüttelte seinen Kopf. »Eine blödsinnige Sache, das. Mit solchem Unsinn muss sich heutzutage die Polizei auseinandersetzen…!«

Giovanni Renzo war der jüngste der drei Mitarbeiter auf dem Zermatter Polizeiposten. Er hatte vor zwei Jahren, gleich nach Abschluss der Polizeischule, hier angefangen und erledigte unterdessen alle Routinearbeiten weitgehend selbständig und zur Zufriedenheit seines Vorgesetzten.