Gornerschlucht

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Freitag, 17. Juli 2015

Barbara Fuchs öffnete die Balkontüre und trat hinaus. »Oh je, ist das grau heute!«

Eine düstere Wolkendecke lag über dem Tal, vom Matterhorn war nichts zu sehen, ein feiner Sprühregen liess Barbara frösteln. Schnell trat sie zurück ins Hotelzimmer und schlüpfte wieder ins Bett. Barbaras Mann Bruno drehte sich um und murmelte irgendetwas Unverständliches im Schlaf. Barbara strich ihm zärtlich über die grauen Haare, legte ihren Kopf auf ihr Kissen und döste noch eine Weile vor sich hin. Plötzlich schreckte sie hoch, weil sie etwas Feuchtkaltes an ihrer Wange spürte.

»Ach so, du bist es, Blacky! Ja, ich weiss, es ist Zeit für den ersten Spaziergang.«

Der schwarze Labrador hatte verstanden und trottete, heftig wedelnd, in Richtung Türe. Barbara stand auf, schlüpfte rasch in die Kleider vom Vortag und ging mit Blacky zu einer ersten kleinen Runde ums Hotel.

Als sie zurückkamen, stand Bruno auf dem Balkon und machte seine allmorgendlichen Freiübungen. Blacky lief sofort zu ihm und schnupperte eifrig an seinen nackten Füssen herum.

»Ja, ja, ist schon gut, braver Hund«, beschwichtigte Bruno ihn, »ich bin ja gleich fertig.«

Kaum jemand hätte Bruno Fuchs seine siebzig Jahre gegeben, er war schlank und drahtig wie eh und je geblieben. Als pensionierter Hausarzt wusste er, wie wichtig die regelmässige körperliche Aktivität für die Gesundheit war. Und in Barbara, der Apothekerin, hatte er eine treue Befürworterin einer gesunden Ernährung und Lebensweise.

»Was könnten wir denn heute unternehmen, bei diesem grauen Wetter?«, fragte Barbara, als sie die Treppe hinunter in Richtung Frühstückssaal gingen.

»Wie wär‘s mit der Gornerschlucht?«, antwortete Bruno. »Das sollte gut zu machen sein. Der Wetterbericht meldet keine nennenswerten Niederschläge, höchstens ein wenig Nieselregen.«

»Gute Idee«, meinte Barbara, »dort waren wir bestimmt seit fünf Jahren nicht mehr. Und, weisst du was, Bruno? Ich bin total hungrig, heute schlage ich am Frühstücksbuffet richtig zu!«

Bruno stupste seine Frau lachend in die Seite, und sie betraten den Saal Hand in Hand wie ein frisch verliebtes Paar.

»Schau mal, Barbara, das Wetter bessert sich rapide. Die Sonne drückt kräftig durch die Wolkendecke, und schon sind einige blaue Flecke am Himmel zu sehen!«

»Ja, eine richtig schöne Stimmung!«, pflichtete Barbara bei.

Nach einer halben Stunde Weg durch die feuchtkühle Schlucht, unter sich den tosenden Gletscherfluss, links und rechts fast senkrechte Felswände, waren sie am oberen Ende der Gornerschlucht angekommen. Der Blick weitete sich, die Wände gingen in vom Gletscher rundgeschliffene Felsbuckel über, das Flussbett wurde breiter, die Strömung langsamer.

Bruno streckte seinen Arm in die Höhe. »Was meinst du, sollen wir noch ein Stück weiter den Hang hinauf wandern? Der Blick auf den Gornergletscher wäre sicher spektakulär von dort oben.«

»Einverstanden«, sagte Barbara, »komm, Blacky!«

Aber Blacky weigerte sich schon nach wenigen Metern, weiterzugehen! Er fing an, zu winseln, lief mehrmals vor und zurück, streckte seine Schnauze talabwärts, und schliesslich ging das Winseln in ein langgezogenes Jaulen über.

»Blacky, was hast du denn?«, fragte Barbara. »So extrem führt er sich sonst nie auf, da stimmt doch etwas nicht!«

Bruno schaute sich um. »Du hast recht, Barbara, irgendetwas ist hier faul.« Blacky neben sich, stieg er vorsichtig einige Schritte den steilen, steinigen Hang hinunter.

»Pass bloss gut auf«, rief ihm Barbara ängstlich hinterher, »dort unten geht es senkrecht in die Tiefe!«

Bruno hatte jetzt einen Absatz mit einer Ansammlung von grösseren Felsblöcken erreicht, und Blacky schnupperte aufgeregt überall herum. Zwischen den Felsblöcken taten sich mehrere tiefe, wohl durch die Wirkung des Gletschers entstandene Löcher im steinigen Boden auf. Blacky blieb stehen und winselte in eines dieser Löcher hinein. Bruno schaute hinunter und stiess sogleich einen spitzen Schrei aus. Etwa drei Meter in der Tiefe lag ein zusammengekrümmter Mann. Der Kopf, das Hemd und die nackten Arme waren blutverkrustet. Neben seinen Füssen lag ein Wanderrucksack.

»Ein Toter, hier im Loch«, rief Bruno mit zittriger Stimme nach oben.

»Oh, wie schrecklich«, murmelte Barbara und hielt sich eine Hand vor den Mund.

Bruno kraxelte, fast auf allen Vieren, wieder zu Barbara hinauf, machte eine stumme, vage Geste zu ihr, zog sein Handy hervor und stellte die Notrufnummer ein.

»Hier Bruno Fuchs. Hören Sie, am oberen Ausgang der Gornerschlucht liegt ein Toter, in einem etwa drei Meter tiefen, senkrechten Loch. Wird nicht einfach zu bergen sein … Ja, etwa dreissig Meter unterhalb des Wanderweges … Oh, das habe ich nicht gewusst … Ja, wir warten hier solange.«

Barbara sah ihn fragend an. »Was hast du nicht gewusst?«

»Stell dir vor, dieser Mann – sofern er es denn ist – wird seit vorgestern vermisst, und heute Morgen sind mehrere Suchtrupps mit Hunden auf den Wanderwegen unterwegs. Und was passiert? Unser braver, alter Blacky schlägt die Profi-Spürhunde und findet zielsicher den Vermissten!«

»Ja, wirklich erstaunlich«, bestätigte Barbara und tätschelte Blacky anerkennend den Hals.

»Übrigens«, ergänzte Bruno, »schicken sie gleich die Rettungsflugwacht. Das Wetter hat soweit aufgeklart, dass man gut fliegen kann. Es dürfte nicht allzu lange dauern, bis die hier sind. Komm, wir setzen uns zum Warten auf diesen grossen, flachen Stein.«

Sie setzten sich auf ihre Windjacken, stützten die Arme auf die Hände, blickten schweigend in die Ferne und hingen ihren Gedanken nach.

Kaum eine halbe Stunde später kam mit ohrenbetäubendem Knattern ein Helikopter der Rettungsflugwacht angeflogen und landete, etwa zweihundert Meter weiter oben, auf einem kleinen, fast ebenen Wiesenstück. Vier Männer in knallorangen Overalls, jeder mit Rucksack, stiegen aus und kamen quer durch den steilen Hang zu Bruno und Barbara hinunter.

Bruno zeigte mit seinem rechten Arm zu den Felsblöcken. »Dort unten, neben dem zweitgrössten Block, liegt er, etwa drei Meter tief in einem Loch, offensichtlich tot.«

»Den bergen wir am besten direkt am Seil«, erwiderte einer der Männer und machte sich, gefolgt von einem seiner Kollegen, an den Abstieg, während die beiden anderen zum Helikopter zurückgingen. Der Helikopter startete und positionierte sich, in der Luft stehen bleibend, genau über den Felsblöcken. Die beiden zurückgebliebenen Männer waren unterdessen in das Loch hinabgeklettert und hatten den Toten in ein Netz, ähnlich einer Hängematte, eingebunden. Vom Helikopter senkte sich jetzt, langsam und schwankend, ein Drahtseil zu den Männern hinunter. Die Hängematte wurde mit einem Haken am Drahtseil befestigt und mit der Seilwinde hochgezogen. Der Helikopter flog auf und landete nochmals auf der Wiese, nachdem er das Netz mit dem Toten vorsichtig auf dem Boden deponiert hatte. Drei der Männer luden die Leiche gemeinsam in den Helikopter, stiegen ein, und schon flog dieser wieder senkrecht hoch und verschwand knatternd hinter dem nächsten Felsvorsprung. Die ganze Aktion hatte keine zehn Minuten gedauert.

»Alle Achtung«, meinte Bruno Fuchs zu seiner Frau, »die machen das wahrlich nicht zum ersten Mal. Was meinst du, gehen wir auf schnellstem Weg nach Zermatt zurück?«

Barbara lächelte erleichtert. »Oh ja, mir reicht es wahrlich für heute…«

»Aber ich möchte den Fund doch noch ordnungsgemäss auf dem Polizeiposten melden«, ergänzte Bruno, »ich weiss nicht, ob und wann die Rettungsleute dazu kommen werden.«

Eine Stunde später sassen sie einem staunenden Polizisten Pfammatter gegenüber. »Oh, Sie haben den vermissten Mann gefunden, schneller als unsere Suchtrupps! Falls er es ist, heisst das, aber ich vermute es stark. Alle Achtung!«

»Mich müssen Sie nicht loben, mein Hund hat ihn gerochen«, erwiderte Bruno lachend, »ohne unsere braven Vierbeiner würde der noch ewig in diesem Loch liegen.«

»Ja, da haben Sie recht. Übrigens, hier habe ich ein Foto des Vermissten.«

Bruno nickte langsam. »Sein Kopf sah ziemlich schlimm aus, aber ich bin fast sicher, dass er es ist. Eine Frage noch: Wohin wurde der Tote gebracht?«

»Ich nehme an, wie üblich ins Spital nach Brig. Ich möchte mir jetzt noch Ihre Personalien notieren, für den Fall, dass noch Rückfragen nötig wären.«

»Sicher, gerne, hier ist mein Ausweis«, erwiderte Bruno rasch.

»Du willst doch nicht etwa den Toten im Spital Brig aufsuchen?«, fragte Barbara, als sie wieder draussen waren.

»Doch, genau das habe ich vor, meine Liebe. Ich weiss nicht genau warum, aber mein Bauchgefühl drängt mich dazu. Es sagt mir, irgendetwas sei faul an der Geschichte. Ich nehme jedenfalls den nächsten Zug nach Brig.«

Barbara schüttelte ihren Kopf. »Na gut, dann tu, was du nicht lassen kannst. Aber ich gehe jetzt ins Hotel und versuche, mich von dem ganzen Schrecken zu erholen.«

»Bruno Fuchs, Hausarzt in Pension«, sagte er und schüttelte der jüngeren Frau im weissen Arztkittel die Hand.

»Doktor Annette Meyer, freut mich, Herr Kollege. Kommen Sie, schauen wir uns die Bescherung an.«

Sie ging voran in einen kleinen Nebenraum, wo der Tote auf einem Schragen lag, und nahm einen Zettel zur Hand.

»Laut Personalausweis, den wir beim Verstorbenen gefunden haben, handelt es sich tatsächlich um diesen, ehm, Daniel Vontobel, den seine Frau gestern Morgen als vermisst gemeldet hat. Wissen Sie, Polizist Pfammatter hat mich vor einer halben Stunde telefonisch orientiert. Der Mann sei allein vom Gornergrat abgestiegen, das würde zum Fundort passen. Offenbar ist er vom Weg abgekommen und abgestürzt. Seine Frau wird ihn natürlich noch identifizieren müssen.«

 

Bruno Fuchs sah nachdenklich auf die Leiche hinunter. »Darf ich ihn kurz untersuchen?«

»Bitte sehr, machen Sie nur. Soweit ich gesehen habe, hat er sich beim Sturz das Genick gebrochen und war sofort tot. Ich schätze, das war vor zwei oder drei Tagen.«

Bruno Fuchs ging langsam um den Toten herum und tastete ihn an mehreren Stellen ab. »Merkwürdig, sehr merkwürdig…«, murmelte er.

»Stimmt denn etwas nicht?«, fragte Annette Meyer neugierig.

Der pensionierte Hausarzt schüttelte langsam den Kopf. »Den Bruch des Halses und den Todeszeitpunkt, das beurteile ich gleich wie Sie. Aber hier, sehen Sie, diese Wunde am Hinterkopf, die gefällt mir nicht. Das sieht für mich gar nicht wie eine Sturzwunde aus, eher so, als sei da mit einem harten Gegenstand draufgeschlagen worden, oder als sei ein Stein mit grosser Wucht darauf gefallen.«

Die Ärztin sah sich die Wunde sorgfältig an. »Ja, Sie könnten durchaus recht haben. Ich sollte wohl doch besser eine Autopsie beantragen.«

Bruno Fuchs nickte zustimmend und verabschiedete sich. Annette Meyer rief den Rechtsmediziner Tobias Imesch in Sitten an, und dieser sicherte ihr zu, die Obduktion noch am selben Tag vorzunehmen.

Eine Stunde später traf Claudia Vontobel im Spital Brig ein. Polizist Pfammatter war zu ihr ins Hotel gekommen, hatte ihr die traurige Nachricht von der Bergung ihres Mannes überbracht und sie gebeten, zur Identifikation so schnell wie möglich nach Brig zu fahren. Auch hatte er sie ersucht, bis auf weiteres in Zermatt erreichbar zu bleiben. Im Spital wurde Claudia Vontobel von Annette Meyer mit einem warmen Händedruck empfangen. Nach einem kurzen Gespräch führte die Ärztin sie zum leblosen Körper. Claudia Vontobel warf nur einen kurzen, traurigen Blick auf ihn, nickte und wendete sich wieder ab. Ohne zu zögern unterschrieb sie dann das Identifizierungs-Formular. Als die Ärztin sie, ohne irgendwelche Gründe dafür zu nennen, über die bevorstehende Obduktion informierte, zuckte Claudia Vontobel nur stumm mit den Achseln und verabschiedete sich dann rasch. Zehn Minuten später befand sich der Tote schon auf dem Weg ins Spital Sitten.

Konzentriert blickte Lena Pieren auf ihren Bildschirm. Sie war noch nicht ganz zufrieden mit ihrem Entwurf des Fragebogens, mit dem die grosse Umfrage unter den Feriengästen von Zermatt gemacht werden sollte. Lena wusste, dass die Ergebnisse einer Umfrage niemals präziser sein konnten, als es die den Leuten gestellten Fragen waren. Die Qualität des ganzen Projektes basierte also entscheidend auf der Qualität des Fragebogens. Deshalb verwendete sie sehr viel Zeit darauf, die Art der Fragen immer wieder zu überdenken und zu optimieren. Was die ganze Sache erschwerte, waren die Übersetzungen in andere Sprachen. Diese mussten einerseits präzise sein, andererseits der Mentalität der fremden Sprache angemessen. Besonders wichtig war dies bei den asiatischen Sprachen. Andernfalls könnten die Gäste aus Asien die Fragen anders auffassen, als sie gemeint waren, und die Ergebnisse würden verfälscht oder im schlimmsten Fall sogar unbrauchbar. Deshalb hatte Lena für alle Übersetzungen auf Fachpersonen der jeweiligen Muttersprache zurückgegriffen.

»Sehr fleissig, Lena!« Klara Kalbermatten, die Chefin von Zermatt Tourismus, war unvermittelt ins Büro getreten. »Wie geht es mit dem Fragebogen?«

»Doch, er ist auf gutem Weg. Lies ihn doch bitte mal durch. Hier, siehst du, vier Seiten mit insgesamt dreissig Fragen, schön gruppiert in sechs Themenbereiche. Ich denke, es braucht noch etwas Feinarbeit zur Optimierung der Fragestellungen. Aber bis Ende Monat sollte ich es schaffen.«

Klara überflog die bedruckten Blätter. »Macht mir einen guten Eindruck. Präzise und verständlich. Beinahe perfekt, würde ich meinen. Wie steht es mit den Übersetzungen?«

«Ehm, ja, das ist teilweise mühsam. Englisch, Italienisch, Französisch und Spanisch sind bis Ende Juli zugesichert, aber von den Übersetzern in Portugiesisch, Russisch, Hindi, Japanisch, Chinesisch, Koreanisch und Arabisch habe ich noch keine definitiven Termine erhalten.«

Klara zog die Stirn in Falten. »Das gefällt mir weniger. Ursprünglich wollten wir ja Mitte Juli mit allem bereit sein. Jetzt scheint sogar der erste August als Starttermin gefährdet. Du musst lernen, unseren Partnern mehr Druck aufzusetzen, Lena. Sonst denken die schnell, ach, es eilt ja nicht besonders, die können ruhig warten. Lena, ich erwarte von dir, dass du bis morgen Abend alle Säumigen gemahnt hast. Ende Juli ist und bleibt definitiver Abgabetermin.«

»Ja, ich mache es.« Lenas Stimme war ganz leise und ihre Augen schimmerten feucht.

Ohne darauf einzugehen, verliess Klara das Büro. Lena seufzte auf, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und liess ihren Tränen freien Lauf.

Samstag, 18. Juli 2015

»Guten Morgen, Paul. Störe ich noch beim Frühstück?«

Gregor Guntern hatte sich für den Samstagsdienst eingeteilt, während Paul Pfammatter frei hatte, aber auf Pikett bleiben und im Notfall verfügbar sein musste. Giovanni, der jüngste, war vorläufig noch vom Wochenenddienst befreit.

»Tag Gregor. Nein, ich bin gerade am Zeitunglesen. Offenbar gibt’s Neuigkeiten, wenn du dich telefonisch bei mir meldest.«

»Allerdings, und was für welche! Rechtsmediziner Tobias Imesch aus Sitten hat mir soeben seinen Bericht per E-Mail durchgegeben. Sieht ganz nach Mord und Totschlag aus. Der vermisste Daniel Vontobel, wohnhaft in Bern, starb infolge eines gezielten Schlages mit einem harten Gegenstand auf den Hinterkopf, möglicherweise einem Hammer. Erst nach Eintritt des Todes folgte der Sturz in das Felsloch, der zum Genickbruch führte. Folglich muss der Mann umgebracht worden sein.«

»Ach je, das kommt allerdings überraschend. Ein Totschlag auf dem Wanderweg, ist wirklich ungewöhnlich.«

»Du hast doch mit der Ehefrau gesprochen, Paul. Hast du dabei irgendetwas über das Umfeld des Verstorbenen erfahren?«

»Noch nicht. Sie erzählte nur, dass sie im Hotel Steinbock Urlaub machen und am Dienstag zu einer zweitägigen Tour auf den Gornergrat aufgebrochen waren. Da sich die Frau am Mittwochmorgen unwohl fühlte, fuhr sie nach dem Frühstück mit der Bahn direkt nach Zermatt hinunter, während der Mann sich zu Fuss auf den Weg ins Tal machte. Der Mann kam aber nicht in Zermatt an. Natürlich müssen wir alle diese Angaben noch überprüfen.«

»Danke, Paul. Ich wäre dir dankbar, wenn du heute nochmals mit der Frau sprechen und ihre Aussagen verifizieren könntest. Hättest zu Zeit?«

»Ja, das geht in Ordnung.«

»Und, ganz wichtig, Paul, vorläufig kein Wort über den Obduktionsbericht! Wenn sie danach fragt, behaupte einfach, er sei noch nicht fertig. Sie muss bis auf weiteres an einen Unfall glauben. Ich selber werde versuchen, in Bern Näheres über Vontobels Umfeld zu erfahren. Aber was eigentlich ebenso dringend wäre…«

Paul fiel ihm ins Wort. »… am Tatort nach Spuren zu suchen!«

»Du sagst es. Nur frage ich mich jetzt, ob wir das nicht gleich der Kriminalpolizei überlassen sollten. Bei vermutetem Tötungsdelikt müssen wir diese sowieso einschalten. Die Tat dürfte ja vor drei Tagen passiert sein, da können wir auch noch warten, bis die Spezialisten da sind.«

»Ja, das sehe ich auch so, Gregor. Ich komme dann am Nachmittag auf den Posten und berichte dir von meinen Ermittlungen.«

»Vielen Dank, Paul, und bis dann!«

Gregor Guntern wählte die Nummer der Kriminalpolizei in Brig. Ob wohl Elena Eyer zufällig gerade Dienst hatte? Schon nach dem zweiten Klingeln nahm sie selbst ab.

»Ach, Gregor, was für eine Überraschung, wie geht’s? Schön, von dir zu hören! Hier unten herrscht wieder mal eine Affenhitze, bei euch in Zermatt oben ist es bestimmt angenehmer.«

Gregor schmunzelte in sich hinein. »Heisst das, du würdest eigentlich ganz gerne heraufkommen?«

Elena lachte kurz auf. »Warum nicht, wenn es noch einen zweiten guten Grund dafür gäbe… Ich meine natürlich, ausser den, dich wieder mal zu sehen…«

»Ja, Elena, es gibt diesen Grund. Ein vollkommen unklares Tötungsdelikt an einem Touristen aus Bern, passiert auf einem Wanderweg oberhalb der Gornerschlucht. Die Leiche wurde gestern gefunden, und heute hat mir Tobias Imesch mitgeteilt, der Mann sei erschlagen worden.«

»Oh, was es nicht alles gibt! Ich überlege gerade meine Pendenzen… Ja, ich könnte da etwas weniger Dringendes verschieben. Ich habe sowieso Wochenenddienst, da würde ich morgen vorbeikommen.«

»Das wäre perfekt. Dann weise ich die Frau des Verstorbenen an, mindestens bis morgen Abend hierzubleiben. Die Formalitäten um den Todesfall können ja sowieso erst am Montag in Bern erledigt werden. Und was wir auch noch brauchen, Elena, ist die Spurensicherung. Die Polizei war bis jetzt noch nicht am Tatort.«

»Gut, dann biete ich noch zwei Kollegen auf. Bis morgen also!«

Punkt sechzehn Uhr traf Paul Pfammatter auf dem Polizeiposten ein. »Na, Paul, Neuigkeiten?«, begrüsste ihn Gregor Guntern.

»Eigentlich nicht. Die Hotelangestellten bestätigen alle Aussagen von Frau Vontobel. Sie und ihr Mann trafen am Dienstagnachmittag im Hotel Gornergrat ein. Am Mittwochmorgen verabschiedete sich die Frau um halb zehn von ihrem Mann, ging zur Bahn und traf gegen halb elf in ihrem Hotel in Zermatt ein. Den Rest des Tages blieb Frau Vontobel nachweislich im Hotel. Im Verlaufe des Nachmittags machte sie sich zunehmend Sorgen, weil ihr Mann nicht zurückgekehrt war. Zuerst sprach sie mit der Hotelassistentin darüber, und gegen neunzehn Uhr informierte sie Direktor Biner.«

»Gut«, sagte Gregor, »das ist alles völlig plausibel. Und was erzählt sie über ihren Mann?«

»Nun, Daniel Vontobel war Anwalt und hatte eine eigene Kanzlei in Bern. Er beschäftigte lediglich eine Sekretärin, die sich aber zurzeit im Ausland aufhält, weil die Kanzlei während Vontobels Urlaub geschlossen ist. Zu den geschäftlichen Kontakten und Aktivitäten ihres Mannes konnte – oder wollte? – Frau Vontobel keine Angaben machen.«

Guntern nickte. »Über den Kontakt mit der Berner Polizei bin ich ebenfalls auf diese Kanzlei gestossen, konnte aber noch nichts Näheres erfahren. Haben die Vontobels Kinder?«

«Ja, eine achtzehnjährige Tochter und einen fünfzehnjährigen Sohn. Beide sind gestern nach Zermatt gekommen und logieren bei ihrer Mutter im Hotel Steinbock. Ich habe sie kurz gesprochen.«

»Und was ist dein Eindruck?«

»Ehrlich gesagt, scheint es mir, als seien die beiden über den Tod ihres Vaters wesentlich trauriger, als es die Ehefrau ist.«

»So? Interessant. Übrigens habe ich die Kriminalpolizei und die Spurensicherung aufgeboten, sie werden morgen früh hier sein. Da ist aber noch ein… ehm, etwas heikler Punkt. Elena Eyer wird den Fall persönlich übernehmen.«

»Oh…« Paul zuckte kurz zusammen.

»Ich frage mich jetzt einfach… wie es für dich wäre, Paul, wieder mit Elena zusammenzuarbeiten. Ich meine, nach eurer Geschichte… und jetzt, wo du gerade geheiratet hast…«

Paul blickte nachdenklich zum Fenster hinaus und sagte längere Zeit nichts. Schliesslich wandte er sich wieder seinem Vorgesetzten zu.

»Siehst du, es sind jetzt drei Jahre vergangen seit diesem Doppelmord in der Familie Hoffmann, hier im Zermatter Hotel Castor, bei dem ich intensiv mit Elena zusammengearbeitet habe. Ich habe mich damals schrecklich verliebt in sie, und am Ende der Ermittlungen hat auch sie mir ihre Zuneigung gestanden. Wir hatten daraufhin eine wunderschöne Zeit zusammen. Natürlich eine Wochenendbeziehung, weil weder sie von Brig noch ich von Zermatt fort wollte. Aber nach knapp zwei Jahren war uns beiden klar geworden, dass die Beziehung keine wirkliche Zukunft hatte. Wir haben uns dann in aller Freundschaft getrennt, und seitdem habe ich Elena nicht mehr gesehen. Ein halbes Jahr später habe ich mich dann in Monika verliebt… Nein, ich denke, ich werde wieder gut mit Elena zusammenarbeiten können. Natürlich nur, wenn sie selber dies auch möchte.«

Gregor atmete erleichtert auf. »Danke für deine Offenheit, Paul. Ach, und noch was. Wir müssen alles versuchen, um eventuelle Zeugen zu finden, Leute, die das Opfer am fraglichen Tag gesehen haben oder sonstige Angaben machen können. Am Montag erscheint die nächste Ausgabe Zermatt News. Damit erreichen wir sowohl die Einheimischen wie die Feriengäste. Aber natürlich kein Wort von Mord, bis auf weiteres bleibt es für die Öffentlichkeit ein Unglücksfall!«

 

»Ja, das finde ich eine gute Idee«, bestätigte Paul, »ich gehe gleich zu Franz Imboden und bespreche mit ihm eine entsprechende Anzeige.«

»Prima, ich danke dir, Paul. Elena und ihre Leute kommen morgen um halb zehn hierher. Und ich werde morgen meinen verdienten freien Tag einziehen.«

»Wo nur Patrick bleibt? Er hat doch heute Küchendienst. Ich habe Hunger!«

Maja ging zum Küchenfenster und blickte hinaus. »Nichts zu sehen. Aber immerhin, wenn er dann endlich da ist, müssen wir nicht mehr lange warten. Patrick kocht ja seine Menus immer im Rekordtempo.«

Lea kam auch hinzu. »Das ist auch keine Kunst, so schnell zu kochen, wenn das Repertoire nur die allereinfachsten Gerichte umfasst: Spaghetti mit Fertigsauce, Pellkartoffeln mit Käse, Fischstäbchen mit Reis und Erbsen aus der Dose.«

»Du hast die Büchsenravioli vergessen«, spöttelte Maja. »Und vor allem den Salat, den er schon gewaschen und geschnitten einkauft und dann mit der Fertigsauce anmacht. Und das Eis zum Nachtisch, das er nur aus dem Tiefkühlfach holen kann.«

Die jungen Frauen lachten schallend. »Es ist eben nicht jeder gleich begabt«, fuhr Maja fort, »und eigentlich können wir froh sein, dass er überhaupt mithilft und sogar ab und zu den Staubsauger schwingt. Das ist auch heute noch nicht bei allen Männern eine Selbstverständlichkeit.«

Lea blickte ihre Kollegin etwas zerknirscht an. »So, hast du schon so viel Erfahrung im Zusammenleben mit Männern?«

»Sei doch nicht gleich eingeschnappt«, konterte Maja, »das eine Jahr mit Pedro, als wir zusammenwohnten, hat mir vorerst gereicht. Ich plädiere seither für getrennte Wohnungen.«

»Und wenn du mal verheiratet bist?«

»Oh, darüber mache ich mir jetzt noch keine Gedanken. Ich weiss doch nicht, ob es je soweit kommt. Und bei dir, Lea?«

»Bei mir? Oh, ich habe keine Ahnung. Falls mich überhaupt je einer will…«

Maja lachte auf und strich dann Lea sanft über die Haare. »Nun sei doch nicht so pessimistisch. Darf ich dir mal was ganz im Vertrauen sagen? Weisst du, manchmal habe ich den Verdacht, du seist eifersüchtig, wenn ich ab und zu mit Patrick herumalbere.«

Lea hatte sich abgewandt und schaute zum Fenster hinaus.

»Aber da steckt nichts dahinter«, fuhr Maja fort, »das garantiere ich dir, Lea. Patrick ist einfach ein patenter Kerl zum Plaudern, aber als Mann ist er überhaupt nicht mein Typ. Ganz ehrlich!«

Maja fasste Lea bei den Schultern, drehte sie herum und sah ihr direkt in die Augen. Zwei grosse Tränen quollen Lea aus den Augenwinkeln und liefen dem Nasenflügel entlang hinunter. »Ach, Maja«, flüsterte sie und umarmte ihre Kollegin mit einer ungeahnten Heftigkeit.

Vom Gang her hörte man die Türe ins Schloss fallen, und fünf Sekunden später stellte Patrick eine grosse Einkaufstüte auf den Küchentisch.

»Guten Abend, meine Damen. Sorry, ich bin etwas spät dran. Dafür koche ich jetzt wie der Blitz.«

»Das dachten wir uns schon«, erwiderte Maja und gab sich Mühe, nicht allzu kokett zu lächeln.

»Jetzt aber raus aus der Küche«, kommandierte Patrick, »in zwanzig Minuten können wir essen.«

»Das übertrifft wahrscheinlich noch den Rekord von letzter Woche…«, murmelte Maja im Hinausgehen. Dann drückte sie Lea die Hand. »Alles klar, meine Liebe?« Lea nickte stumm.

Vor ihrer Zimmertüre drehte sich Maja nochmal um. »Ehm, Du, Lea, ich habe Probleme, die heute gesammelten Carex-Arten zu bestimmen. Was meinst du, ehm, könntest du mir nicht vielleicht helfen? Ich wäre dir so dankbar.« »Oh, aber bei den Carex bin ich auch keine grosse Heldin.« »Zusammen schaffen wir es, also komm!«

Maja breitete die heute gesammelten Gräser auf ihrem Schreibtisch aus und legte die Bestimmungsbücher bereit. Dann schaltete sie die Binokularlupe ein, ein sehr nützliches Instrument, um kleine Details an Pflanzen zu studieren. Es sieht aus wie ein Mikroskop, vergrössert aber weniger stark, deshalb ist die Tiefenschärfe gross und man kann eine Pflanze direkt, ohne weitere Präparation, studieren. Man blickt mit beiden Augen in die Okulare hinein und hat die Hände frei, um mit zwei Pinzetten die Pflanze zu zerpflücken.

»Welchen Bestimmungsschlüssel nimmst du lieber für Carex, Binz oder Hess/Landolt?«, fragte Maja.

Lea überlegte kurz. »Am besten benützen wir beide, dann sind wir sicherer. Bei welchen Pflanzen bist du denn gestrandet?«

Maja nahm eines der Sauergräser, eine sogenannte Segge, in die Hand und legte den oberen Teil mit den Fruchtständen unter die Binokularlupe.

»Siehst du, bei der bin ich einfach mit dem Schlüssel nicht weitergekommen.«

Lea setzte sich, nahm zwei Pinzetten in die Hände und schaute durch die Okulare. »Aha, die wenigen, kleinen Ährchen stehen dicht beieinander, die Blätter sind schmal und steif, der Stängel ist nicht rau. Da kommen nicht mehr viele Arten in Frage.«

Lea schaute ins Buch, dann wieder durch die Lupe, dann nochmals ins Buch und erneut durch die Lupe. »So, jetzt ist alles klar. Das ist eindeutig Carex lachenalii, die Schneehuhn-Segge.«

»Du bist einfach genial«, sagte Maja und drückte Lea einen Kuss auf die Stirn, »vielen Dank!«

»Essen ist fertig«, klang es laut aus der Küche.

»Danke, wir kommen«, rief Maja zurück und erhob sich. »Was es wohl heute gibt?« Die beiden Frauen betraten die Küche.

»Ich habe ein neues Menu erfunden«, sagte Patrick mit Stolz in der Stimme und stellte eine Pfanne auf den Tisch. »Polenta mit viel Käse und einem Spiegelei, dazu gemischter Salat. Bedient euch schon mit dem Mais, dann gebe ich euch das Ei darüber.« Er holte die Bratpfanne vom Herd. »Immerhin zu zwei Drittel erfolgreich aufgeschlagen«, meinte er grinsend und servierte die zwei schön gebliebenen Spiegeleier seien Kolleginnen, während er selber das dritte mit dem verlaufenen Eigelb nahm.

»Schmeckt sehr gut«, lobte Maja und streute noch etwas Pfeffer auf ihr Ei, während Lea wortlos kaute und Patrick beim Essen zusah.

»Wer möchte noch ein Ei?«, fragte Patrick, als sein Teller leer war. »Komm, ich zeige dir, wie es geht«, erwiderte Lea sofort, erhob sich und führte Patrick vor, wie man zwei Eier ganz in die Bratpfanne brachte. Beim dritten Ei liess sie ihn selber machen, und… es klappte!

Nach dem Essen gingen Maja und Lea wieder an die Arbeit. Eineinhalb Stunden später hatten sie alle heute gesammelten Sauergräser sicher bestimmt, und Maja bedankte sich nochmals überschwänglich. Lea ging ins gemeinsame Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen und liess sich dann, ziemlich erschöpft, auf ihr Bett fallen. Ist es wirklich wahr, fragte sie sich, dass Maja kein Interesse an Patrick hat? Eigentlich glaube ich ihr alles, aber trotzdem… Ach, es ist so schwierig, die eigenen Gefühle zu kontrollieren, sie kommen und gehen, wie sie wollen… Immerhin, ein wenig erleichtert bin ich schon… Aber eben, was Patrick wirklich für mich fühlt, weiss ich immer noch nicht! Ich müsste doch unbedingt mit ihm reden. Aber ich traue mich einfach nicht! Natürlich, liebe Lea, es ist die Angst, zurückgewiesen zu werden. Aber irgendwann musst du es einfach wagen! Leas Gedanken bewegten sich immer im Kreis herum, und schliesslich war sie eingeschlafen.

Bruno und Barbara Fuchs hatten im Restaurant Täschhorn zu Abend gegessen. Barbara nahm den letzten Schluck aus ihrer Kaffeetasse und lächelte ihrem Mann zu, der sich zum Abschluss des Abends einen Tessiner Grappa genehmigte.

»Sag mal, Bruno, weisst du unterdessen mehr von dem Toten, den wir gestern gefunden haben?«

Bruno wischte sich den Mund mit seiner Serviette ab und gähnte zufrieden. »Ja, es hat sich einiges geklärt. Ich habe dir ja gestern von meinem Verdacht erzählt, der Mann sei nicht durch den Sturz gestorben, sondern durch einen Schlag auf den Hinterkopf. Genau dies hat der Gerichtsmediziner bestätigt. Es handelt es sich demnach eindeutig um ein Tötungsdelikt.«

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